Joseph Goebbels, Tagebucheinträge über die Novemberpogrome 1938 ["Reichskristallnacht"], 10. und 11. November 1938

Einleitung

Die Novemberpogrome 1938 stellen einen Wendepunkt in der Verfolgung der Juden durch das NS-Regime dar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Verfolgungspolitik gegen die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich vor allem in Form von antisemitischen Gesetzen, Verordnungen und sonstigen diskriminierenden Maßnahmen geäußert. Physische Gewalt gegen Juden hatte es zwar auch gegeben, aber nicht zeitgleich und flächendeckend. Anlass für die nun einsetzenden Exzesse war das Revolverattentat des 17jährigen jüdischen Emigranten Herschel Grynszpan aus Hannover auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris, das zwei Tage später tödlich für den Legationssekretär endete. Der jugendliche Täter wollte damit gegen die Abschiebung seiner Familie und tausender anderer jüdischer Personen nach Polen eine Woche zuvor protestieren. Während der Novemberpogrome zerstörten insbesondere Funktionäre der NSDAP, der SA und der SS mindestens 1.400 Synagogen und jüdische Betstuben und vernichteten schätzungsweise 7.500 jüdische Geschäfte, was der "Judenaktion", wie die Nationalsozialisten das Geschehen nannten, in der Bevölkerung die spöttische Bezeichnung "Reichskristallnacht" einbrachte. Von Bedeutung war jedoch weniger die große Anzahl an Fensterscheiben und Waren, die vom 7. bis 10. November 1938 zu Bruch gingen, sondern die erstmalige Verschleppung von über 30.000 männlichen Juden in Konzentrationslager und die Ermordung von 1.300 bis 1.500 Menschen jüdischer Religion in diesen Tagen und den folgenden Wochen. Die meisten der in Konzentrationslager verbrachten Personen konnten die Lager nur auf die verbindliche Erklärung hin verlassen, aus dem Deutschen Reich binnen weniger Monate auszuwandern. Unmittelbar nach den Pogromen folgte eine Reihe von schwerwiegenden Verordnungen, die de facto das Ende jüdischer Erwerbstätigkeit zum 1. Januar 1939 bedeuteten. Zudem wurde den geschädigten Juden auferlegt, ihre verwüsteten Geschäfte und Wohnungen selbst wieder instand zu setzen, etwaige Versicherungsansprüche fielen an das Reich. Ferner mussten die deutschen Juden eine "Sühneleistung" in Höhe von einer Milliarde Reichsmark für das Attentat Grynszpans bezahlen. Das Ziel der Nationalsozialisten hinter dem Pogrom und den folgenden Verordnungen war die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung. Rache, Abschreckung vor etwaigen künftigen Attentaten und eine erhoffte Erleichterung bei der Legitimierung neuer antisemitischer Schritte waren weitere Motive, die Goebbels für die Gewaltakte anführt.

Joseph Goebbels, der von 1933 bis 1945 nationalsozialistischer Propagandaminister war, gilt als Megaphon des NS-Regimes, das die NS-Propagandalügen in alle Welt hinausposaunte. Dieses Bild des promovierten Germanisten und NSDAP-Gauleiters von Berlin führte dazu, dass auch Goebbels’ Tagebücher in den Verdacht gerieten, es handele sich bei ihnen eher um ein propagandistisches Werk für die Nachwelt als um ein persönliches Tagebuch. Tatsächlich sind die Goebbels-Tagebücher authentische, persönliche und subjektive Aufzeichnungen des Rheinländers Goebbels, wenngleich dem Leser die verquere Weltsicht des Verfassers in beinahe jedem Absatz entgegentritt. Goebbels begann mit dem Tagebuchschreiben am 17. Oktober 1923, damals war ihm die NSDAP noch unbekannt und seine Lebensgefährtin "Halbjüdin". Sein überliefertes Tagebuch endet am 9. April 1945, kurz vor seinem Selbstmord am 1. Mai 1945. Anfangs führte Goebbels eher unregelmäßig Tagebuch, ab 1928 täglich, zwischen 1934 und 1936 im Zwei-Tages-Rhythmus, von 1936 an wieder Tag für Tag. Stets beschrieb er darin zunächst und vor allem den Vortag bzw. die vergangenen Tage, sollte er beispielsweise wegen einer Reise, Termindrucks oder einer Erkrankung nicht zum Schreiben gekommen sein. Bis Juli 1941 beschrieb Goebbels eigenhändig 23 Buchkladden und schuf auf diese Weise 6.783 Seiten handschriftliche Tagebucheinträge. Diese Aufzeichnungen sind ganz unterschiedlich in ihrer Länge und zum Teil in einer Art Telegrammstil verfasst. Die Handschrift von Goebbels ist überwiegend lateinischen Typs, jedoch mit Anlehnungen an die Sütterlin- bzw. Kurrentschrift und durch ihren ganz eigenen Charakter und die zumeist verwendete breite Feder relativ schwer lesbar. Kurz nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion ging Goebbels dazu über, sein Tagebuch täglich einem Mitarbeiter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda zu diktieren, der es stenographisch aufnahm und maschinenschriftlich mit extrem großer Schrifttype, breiten Seitenrändern und großen Zeilenabständen zu Papier brachte und auf diese Weise ca. 36.000 Blatt Diktate produzierte. Das gesamte Tagebuch, die handschriftlichen Aufzeichnungen wie die Diktate, wurde kurz vor Kriegsende durch ein neuartiges Mikroficheverfahren im Propagandaministerium kopiert und somit für die Nachwelt gesichert. Bis auf wenige Diktate aus der Kriegszeit sind alle Tagebucheinträge von Goebbels bekannt und in einer wissenschaftlichen Edition vom Institut für Zeitgeschichte veröffentlicht.

In seinem Tagebucheintrag vom 10. November 1938 beschreibt Goebbels wie üblich den Vortag in chronologischer Abfolge. Zunächst wohnte er dem traditionellen Umzug bei, der in der NS-Zeit alljährlich am Vormittag des 9. November in Erinnerung an den Propagandamarsch anlässlich des gescheiterten Hitlerputsches vom 8./9. November 1923 in München zelebriert wurde. Daran anschließend führt Goebbels Gespräche auf, die er mit anderen NS-Führern hatte, und erwähnt seine eigene Tätigkeit, die er im Hotel verrichtete und die auch an diesem Tag mit der Durchsicht der internationalen Presse begann. Am späten Vormittag oder gegen Mittag war der Zustand des Diplomaten vom Rath "sehr ernst", am Nachmittag wurde Goebbels dessen Tod gemeldet. Gleichzeitig war ihm auch bekannt, dass es in Kassel und Dessau antijüdische Ausschreitungen gegeben hatte. Goebbels begab sich dann in den Saal des Alten Rathauses in München, wo die NSDAP-Prominenz für 18.00 Uhr zum "Kameradschaftsabend" geladen hatte, und informierte Hitler über das Ableben Raths und die antisemitischen Vorfälle. Hitler "bestimmt[e]" Goebbels zufolge, die "Demonstrationen weiterlaufen" zu lassen, also die antijüdische Gewalt nicht einzudämmen, sondern sie auszudehnen und die "Polizei zurückziehen" zu lassen. Diese Notiz ist für die Forschung deswegen von enormer Bedeutung, da alle hochrangigen NSDAP-Führer nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt hatten, mit den Novemberpogromen hätte Hitler nichts zu tun gehabt, diese habe Goebbels eigenmächtig in Gang gesetzt, und der "Führer" sei davon überrascht worden und hätte sie missbilligt. Die von Goebbels festgehaltene Aussage Hitlers, die "Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen" verweist auf Hitlers Absicht, flächendeckend Gewalt gegen das Judentum in Gang zu setzen, die von der NS-Propaganda als spontane Empörung der Bevölkerung über den Tod des Diplomaten dargestellt werden sollte. Goebbels war mit allem einverstanden und wies die NSDAP-Funktionäre und die Polizei an, was nun getan bzw. unterlassen werden musste, bevor er eine radikale Hetzrede vor den "Alten Kämpfern" beim "Kameradschaftsabend" hielt. Die nochmalige Charakterisierung des Geschehens als Handlung des Volkes ("Nun wird das Volk handeln") verrät wiederum die Propagandabotschaft, die der Bevölkerung zu den Vorfällen geliefert wurde. Es ist ein Charakteristikum des Goebbels-Tagebuchs, dass die Beschreibung des tatsächlichen Geschehens (Hitlers Anweisung) unvermittelt neben der von der Propaganda verbreiteten Version ("Volkszorn") steht. Ursache hierfür ist, dass Goebbels seine Tagebücher später überarbeiten und veröffentlichen wollte und er zum Zeitpunkt der Tagebuchniederschrift nicht wissen konnte, welche Version Jahre oder Jahrzehnte später verbreitet werden sollte. In früheren Jahren hatte Goebbels diese Propagandaversionen zumeist in Anführungszeichen gesetzt oder sie sprachlich als Propagandalügen ("offizielle Begründung") markiert. Später unterließ er diese Kennzeichnung, denn ihm war klar, was internes Wissen und was Propaganda war.

Anschließend hält Goebbels im Tagebuch fest, dass einige Personen Bedenken gegen das gewaltsame Vorgehen hatten, die er zu zerstreuen versuchte. Er erwähnt in diesem Eintrag viermal den "Stoßtrupp Hitler", jenen Verband alter Kämpfer, der 1923 beim Putschversuch eine führende Rolle gespielt hatte, dessen Mitglieder mehrheitlich 1924 mit Hitler in Landsberg inhaftiert waren, und der seither als Traditionsverband weiter bestand. Diesem Stoßtrupp spricht Goebbels eine "fürchterliche Arbeit" und die Inbrandsetzung einer Münchener Synagoge zu. Da es sich bei den Angehörigen des "Stoßtrupps" um die treuesten Mitstreiter Hitlers handelte, ist davon auszugehen, dass sie beim "Kameradschaftsabend" direkte Anweisungen von ihm für diese Nacht erhielten. Die Notiz Goebbels’, er habe versucht, die Synagoge Ohel Jakob "vor dem Brand zu retten", entspricht vermutlich den Tatsachen, schließlich hatten die Nationalsozialisten die Sorge, es könnten auch Nachbargebäude der Synagogen in Flammen aufgehen. Die Feuerwehr hatte darauf zu achten, dass wirklich nur Synagogen brannten, alle Brände in umliegenden Gebäuden hatte sie zu löschen, wie auch Goebbels überliefert. Um Mitternacht nahm Goebbels noch an der alljährlich am 9. November stattfindenden Vereidigung von SS-Verfügungstruppen und SS-Totenkopfverbänden an der Feldherrnhalle teil. Von dort aus ging er schließlich zur Gauleitung, um weitere Maßnahmen zu koordinieren und Informationen zu erlangen. Goebbels erwähnt die von Hitler angeordnete Verhaftung von 25.000-30.000 jüdischen Männern und die ihm noch in der Nacht bekannt gewordene Anzahl von 75 durch Brand zerstörten Synagogen. Er notierte, dass der Pogrom für die Nacht nicht mehr zu stoppen war und dass er ihn auch nicht stoppen wollte. Wieder berief er sich auf Hitlers Anweisung: "Laufen lassen", das waren die Worte, die Hitler am frühen Abend zu ihm gesagt hatte. Für Goebbels zählte nur, dass möglichst kein "arisches" Eigentum beschädigt wurde, daher quittierte er die Entwicklungen mit Beifall: "Bravo! Bravo! In allen großen Städten brennen die Synagogen. Deutsches Eigentum ist nicht gefährdet." Er selbst hatte den Propagandaleiter des NSDAP-Gaues Berlin Werner Wächter damit beauftragt, die Hauptsynagoge in der Reichshauptstadt, die Synagoge in der Fasanenstraße, "zerschlagen zu lassen". Auch dies war vor der Veröffentlichung dieses Tagebucheintrags unbekannt gewesen. Noch in der Nacht meldete Wächter, er habe den "Befehl ausgeführt", wenig später erfuhr Goebbels von weiteren Synagogenbränden in Berlin, die er als Gauleiter angeordnet oder zumindest gebilligt und somit zu verantworten hat.

Ungewöhnlich an diesem Tagebucheintrag vom 10. November 1938 ist, dass Goebbels darin nicht nur den Vortag beschrieb, sondern auch die Entwicklungen am aktuellen Morgen (10. November). Dies geschah selten und nur bei besonders wichtigen und ereignisreichen Tagen. Nach der Lektüre der morgendlichen Presse notierte Goebbels: "Es hat furchtbar getobt". Er unterlässt es, die tatsächlichen Täter zu nennen und suggeriert, das Volk "in Aufruhr" habe die Taten begangen. Allerdings waren die NS-Organisationen nach Auffassung der Nationalsozialisten das Volk, denn diejenigen, die sich den Organisationen bewusst entzogen, gehörten eben nicht zur "Volksgemeinschaft". Gemeinsam mit Hitler wollte Goebbels am Mittag des 10. November 1938 beraten, ob das NS-Regime die Pogrome nun fortsetzen oder beenden wollte. Hierzu begab er sich, nachdem er den Tagebucheintrag vom 10. November abgeschlossen hatte, in Hitlers Lieblingsrestaurant "Osteria Bavaria". Das dort Besprochene hielt Goebbels in der folgenden Tagebuchaufzeichnung fest.

Der Tagebucheintrag vom 11. November 1938 befasst sich ausschließlich mit dem Geschehen am Vortag, dem 10. November. Goebbels erfuhr morgens, dass es in Berlin "ganz toll hergegangen" sei, dass also dort die Parteigenossen besonders gewütet hatten. Ihm war auch bekannt, dass reichsweit "die Synagogen abgebrannt" waren, eine Tatsache, die damals in keiner Zeitung stand, denn jedes Blatt durfte nur über die lokalen Ereignisse schreiben. Er berichtet weiter, dass er den Text einer Verordnung entwarf, die weitere Gewaltakte untersagte. Seine Befürchtung war, dass bei einer Fortsetzung "der Mob in die Erscheinung" treten könnte, es also zu für das NS-Regime unkontrollierbaren Vorgängen und insbesondere zu weiteren Plünderungen kommen könnte. In der Osteria eingetroffen, erstattete der Propagandaminister "dem Führer Bericht", was wiederum darauf hindeutet, dass Hitler Goebbels genau befohlen hatte, was dieser in der Nacht veranlassen sollte; nun ließ Hitler sich von seinem Minister den Vollzug seiner Anweisung melden. Offenbar waren beide der Meinung, die "Aktion" sei "tadellos verlaufen", da sie glaubten, es sei wirklich nur jüdisches Eigentum zerstört worden. Die bis dahin bekannt gewordenen 17 jüdischen Todesopfer störten beide nicht. Im Gegenteil: Hitler sei "mit allem einverstanden" gewesen, seine Ansichten seien "ganz radikal und agressiv [!]", hielt Goebbels fest. Daran anschließend schildert er weitergehende Pläne Hitlers, die schließlich zu den drei eingangs erwähnten Verordnungen führten. Dennoch hielt auch Hitler einen Abbruch der Pogrome für sinnvoll, offenbar wollte er zunächst sehen, wie das Ausland auf die Gewalt reagierte. In einem späteren Telefonat bestätigte Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei, dem Zusammenschluss von und Kriminalpolizei, Goebbels seine Informationen. Daraufhin resümierte der Propagandaminister, dass "somit alles in Ordnung" sei. Goebbels war bekannt, dass es in Bremen fünf jüdische Todesopfer gegeben hatte, was er als "unliebsame Exzesse" bezeichnete, die aber zu vernachlässigen seien. Mit Heydrich besprach Goebbels auch den Abbruch der Pogrome, den er im Verlauf des Tages verkünden ließ. Am Abend nahm Goebbels beim Presseempfang Hitlers im "Führerbau" in München teil, auf dem Hitler den anwesenden Journalisten seine Taktik während der kurz zuvor beendeten "" erläuterte. Im Nachtzug nach Berlin beschäftigte sich Goebbels mit der Berichterstattung über die Pogrome im ausländischen Rundfunk und stellte mit Erleichterung fest, dass diese "sachlich" erfolge. In Berlin kümmerte er sich nun persönlich um die antijüdische Politik und erlegte den Berliner Juden zusätzlich zur reichsweit verordneten finanziellen "Sühneleistung" ein weiteres Bußgeld in Millionenhöhe auf. Zudem setzte er mit dem Berliner Polizeipräsidenten Graf Helldorf einen "Judenbann" im Regierungsviertel durch, nachdem dieser bereits die Berliner Juden hatte entwaffnen lassen. Fortan durften Juden bestimmte Straßen nicht mehr betreten.

Die beiden vorgestellten Einträge aus dem Tagebuch von Joseph Goebbels sorgten seit ihrer Auffindung für großes Aufsehen in der Forschung. Wissenschaftlich ausgewertet wurden sie ab 1998 erstmals von Saul Friedländer, Peter Longerich und Ian Kershaw, die sogleich die Bedeutung erkannten. Doch erst 2008 gelang es, die Passagen über den "Stoßtrupp Hitler" zu entschlüsseln, weil bislang unbekannt war, dass der Verband von 1923 nach seinem Verbot infolge des Hitlerputsches weiter bestand. Mittlerweile werden diese Textpassagen bei allen Forschungen zu den Novemberpogromen herangezogen, sogar in einigen Schulbüchern sind sie bereits zu finden. In jedem Fall sind die Tagebücher von Joseph Goebbels geeignet, der Forschung insgesamt neue wichtige Details hinzuzufügen und das Gesamtbild vom "Dritten Reich" schärfer zeichnen zu können.

Angela Hermann