Walter Flex, Wildgänse rauschen durch die Nacht, Frühjahr 1915

Einleitung

1961 eröffnete Fritz Fischer mit seinem Werk "Der Griff nach der Weltmacht" eine historische Diskussion, die die Forschung zum Ersten Weltkrieg maßgeblich veränderte. Die sogenannte Fischer-Kontroverse war es, die in Deutschland den Wandel von einer stark politischen Weltkriegsforschung zu sozial- und mentalitätshistorischen Studien ermöglichte und ihr neue Quellen (Feldpostbriefe, Tagebücher sowie literarische und künstlerische Quellen) erschloss. Dabei rückte zunehmend das Kriegserlebnis als ein Blick von unten in den Mittelpunkt der Forschung (z. B. Vondung 1980).

Bis heute ist der Erste Weltkrieg eines der bestuntersuchten Themen innerhalb der in Deutschland eher vernachlässigten Mentalitätengeschichte. Gerade die Rolle deutscher Künstler und Kulturschaffender bei der ideologischen Konstruktion des Krieges wurde von der Forschung fundiert erarbeitet: Ob nun ein Krieg der Geister (Schneider/Schumann 2000) oder geistige Mobilmachung (Flasch 2000; Kolb 2003; Wahl 2002; Fries 1997) – die Metaphern, die die Einbindung der deutschen Intellektuellen in die Diskussionen über den Ersten Weltkrieg beschreiben, sind vielfältig. Ein aussagekräftiges Beispiel für jene geistige Mobilmachung sind die eineinhalb Millionen Kriegsgedichte, die allein während der Augusttage 1914 in Deutschland verfasst wurden (Bab 1914; vgl. Schumann 1996, Anz/Vogl 1982) und die weitgehend als homogene Gruppe wahrgenommen werden. Die sogenannten Ideen von 1914 als Grundlage der affirmativen Kriegslyrik waren Ausdruck des Versuches, das Kriegserlebnis ideengeschichtlich zu deuten (Deutschland und der Erste Weltkrieg, S. 129 ff.) Dieses Narrativ sah im Weltkrieg einen Verteidigungskrieg; Deutschland wurde als von Feinden umzingelt und zum Handeln gezwungen wahrgenommen. Den Krieg verstand man als einen Kulturkrieg, der auf der konstruierten Opposition zwischen den Idealen der Französischen Revolution von 1789 und den deutschen Werten von 1914 beruhte. Der Weltkriegsbeginn wurde als ein Ereignis des Aufbruchs und der Bewegung, als deutsche Erhebung, willkommen geheißen. Im Gegensatz zum Klassenkampf der Vorkriegszeit wurde die mit der Mobilmachung entstandene neue Volksgemeinschaft als Überwindung aller gesellschaftlichen Differenzen gesehen. Schon nach wenigen Wochen begann jedoch an der Westfront ein außerordentlich blutiger, militärisch erfolgloser Stellungskrieg. Dies bewirkte eine Ausdifferenzierung der affirmativen Kriegslyrik vor allem nach verschiedenen Konzepten zur Deutung des Krieges.

Auch der national geprägte und aus einem bismarcktreuen Elternhaus stammende Walter Flex (1887-1917) wurde durch seine Kriegsgedichte des Jahres 1914 (versammelt in den Anthologien Das Volk in Eisen und Sonne und Schild) bekannt. Flex, der vor dem Weltkrieg unter anderem als Hauslehrer bei der Familie Otto von Bismarcks tätig war, meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger. Während seines ersten Einsatzes in Lothringen im Herbst und Winter 1914 entstehen weitere affirmative Kriegswerke, unter anderem das Weihnachtsmärchen des 50. Regiments, durch das Flex besonders innerhalb der deutschen Truppen große Bekanntheit erlangte.

Als sein erfolgreichstes Werk kann jedoch die Erzählung Wanderer zwischen beiden Welten angesehen werden. Den großen Anklang, den die Erzählung bei der Leserschaft fand, zeigt die Auflagenzahl, die bis 1937 knapp 700 000 Exemplare betrug (Wahl 2000, S. 348). Den Rahmen der Erzählung bildet das bereits 1915 1entstandene Gedicht Wildgänse rauschen durch die Nacht. Zu Beginn des Textes leitet es die Erzählung ein: Der Erzähler, so schildern die ersten Zeilen, beobachtet im Schützengraben liegend ein Heer der wilden Gänse und notiert dazu ein paar Verse auf einen Fetzen Papier. Auch der Erzähler steht somit noch an seinem persönlichen Kriegsbeginn. Gegen Ende der Erzählung kommt der Erzähler auf dieses Anfangsgedicht zurück: Der Anblick des zurückkehrenden Gänseheers weckt in ihm die Erinnerung an seine Gedanken ein halbes Jahr zuvor und an das seitdem Geschehene. Dazwischen liegt einerseits die Darstellung des Kriegsgeschehens 1916, andererseits die Schilderung der Freundschaft des Erzählers mit dem Kriegsfreiwilligen Ernst Wurche, von ihrem Kennenlernen im Stellungskrieg an der Westfront bis zum Tod Wurches im Sommer 1915. Auf diese Weise verbindet das Gedicht Motive der frühen Kriegslyrik mit den großteils autobiographischen Schilderungen des späteren Kriegsverlaufs, ein Spannungsverhältnis, das im Folgenden genauer untersucht werden soll.

Schon rein formal spiegelt der Text die Ideen von 1914 wider: Der Aufbau ist orientiert am Stil des Volksliedes, die Motivik und das verwendete stilistische Material hingegen greifen auf die deutsche Ballade und die Lyrik der Romantik zurück (Koch 2004). Das Gedicht verwendet darüber hinaus eine archaisierende Sprache, übervoll an historischen Symbolen, die nicht der modernern Kriegsführung entnommen sind, wie etwa Schlachtruf, Hader oder den Topos der Heerfahrt, die überdies nach Norden führt, der zum Inbegriff der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit mystifiziert wird und ebenfalls auf die Legitimation des Weltkrieges als "Kulturkrieg" verweist. Darüber hinaus erfüllt die Motivik der Heerfahrt noch weitere Funktionen, indem sie einerseits die Kriegssituation durch die Verbindung mit dem in der Jugendbewegung beliebten Terminus der Fahrt positiv konnotiert und somit sinnstiftend wirkt, und andererseits, ebenfalls typisch für die frühen Gedichte, den Weltkrieg in eine Motivik des Aufbruchs einbettet.

In dieser Wahrnehmung des Kriegserlebnisses wird das Spannungsverhältnis zwischen früher und späterer Kriegsdeutung besonders klar. Die Lyrik der Anfangsphase ist oft formelhaft, pathetisch und idealisiert. Individuellere Kriegsgedichte, die ein konkretes Erlebnis zum Inhalt haben, finden sich eher gegen Kriegsende. Der vorliegende Text kombiniert jedoch das für die frühen Kriegsgedichte typische allgemeine Kriegserlebnis (graues Heer) mit dem individuellen Kriegserlebnis, der Situation im Schützengraben. Zunächst fällt deutlich der melancholische Charakter des Gedichtes auf, der es von der Mehrheit gängiger Soldatenlieder abhebt: Die Angst vor dem Morden, dem Kriegsgeschehen ist ebenso greifbar, wie die Bedenken der Soldaten um ihre Zukunft (Was ist aus uns geworden?). Die subjektiven Wahrnehmungen (der Blick nach oben auf die Gänse) werden jedoch umgewandelt in ein gemeinschaftliches Erlebnis (die Vögel ziehen über alle gemeinsam hinweg, auch Wurche kann sich später daran erinnern), das in dem kollektiven Wir mehrfach Ausdruck findet. Auf diese Weise spiegelt das Gedicht den Versuch des einzelnen Soldaten wieder, sich in das große Ganze, in die Volksgemeinschaft einzuordnen. Ähnlich zeigt sich die Spannung zwischen allgemeinem und persönlichem Kriegserlebnis auch in der Kombination der Motivik aus Bewegung und Verharren. Frühe Kriegsgedichte schildern das allgemeine Kriegserlebnis meist mit bewegten Bildern wie reiten oder marschieren, während in der späteren Kriegslyrik vornehmlich das Schützengrabenerlebnis evoziert wird. Der Wanderer zwischen beiden Welten kombiniert beides: der Erzähler verharrt auf seinem Posten, während das Heer der Wildgänse (das Aufbruchsmotiv schlechthin) über ihn hinwegzieht, womit er die eigene Heeresbewegung verbindet.

Die Formelhaftigkeit des geschilderten Kriegserlebnisses lässt sich dabei nur teilweise durch die fehlenden konkreten Kriegserfahrungen des Autors oder durch die Memorierung einer vormodernen Kriegsführung begründen. Vielmehr beschreibt Flex einen ideellen Krieg, den er gleichsam als imaginiertes Medium der Gegenmoderne (Koch 2004) nutzt, um eine nationale Gemeinschaft zu konstruieren. Dementsprechend untermauert er den Krieg auch sinnstiftend. Anders als viele Schilderungen ab 1916 hinterfragt das Gedicht den Sinn des Weltkrieges nicht, obwohl im Zentrum der Erzählung der für den Erzähler traumatische Tod Ernst Wurches steht. Das Opfer des einzelnen für die Volksgemeinschaft wiegt den Tod nicht nur auf, sondern wird darüber hinaus als religiöser Akt betrachtet, der sogar von der Natur anerkannt wird (rauscht uns im Herbst ein Amen). Diese Einordnung des Krieges in die Natur lässt ihn – fast als Naturgesetz – über jede Argumentation erhaben sein.

Nicht zuletzt dieser Kombination aus individueller Emotionalität und kollektiver Sinnstiftung verdankt das Gedicht seine große Beliebtheit. 1916 von Robert Götz vertont verbreitete es sich als Lied zunächst in der Wandervogelbewegung und wurde zu einem der erfolgreichsten Lieder der 1920er und 1930er Jahre. Nach 1933 gehörte es zum festen Liedgut der Hitlerjugend (beispielsweise abgedruckt in: Uns geht die Sonne nicht unter 1934). Aber gerade die Offenheit des Gedichts für verschiedene Rezeptionen ermöglichte es Gruppierungen der unterschiedlichsten Weltanschauungen, das Lied in ihren Kanon zu integrieren: So wurde es in den während des Nationalsozialismus verbotenen konfessionellen Jugendbünden weiterhin gesungen und findet sich auch im "Sachsenhausen-KZ-Liederbuch", das auf der Grundlage geheimer Umfragen unter den Sachsenhausener Häftlingen entstand. Zur besseren Identifikation wurde – je nach weltanschaulicher Orientierung – bisweilen die Referenz auf den Kaiser ersetzt (z. B. in Deutschlands Namen, in Gottes Namen) (Schepping 2007). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg behielt das Lied seine wichtige Stellung unter den Fahrtenliedern bei, so gehörte es unter anderem zum Repertoire der Pfadfinder (Das Pfadfinder-Liederbuch 2000), der Bergsteigerjugend (Pulverschnee und Gipfelwind – Lieder der Bergsteigerjugend 1988) und der Deutschen Bundeswehr (Hell klingen unsere Lieder, Liederbuch der Bundeswehr 1976) und fand Aufnahme in das bekannte deutsche Liederbuch "Mundorgel" (Die Mundorgel 1982).

Catherina Schreiber

1 Als sicher gilt die Entstehung des Gedichts im Frühjahr 1915; der von Flex gewählte Alternativtitel des Gedichts Nachtposten im März im Gedichtband Im Felde zwischen Tag und Nacht legt darüber hinaus eine Datierung auf den März 1915 nahe. [1]