Der "Tooor!"-Schrei Herbert Zimmermanns, 4. Juli 1954

Einleitung

Am 4. Juli 1954 wurde im Berner Wankdorfstadion (Schweiz) das Endspiel der V. Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland ausgetragen. Ungarn war Favorit, das westdeutsche Team hingegen galt als krasser Außenseiter. Bereits nach acht Minuten führte die magyarische Elf erwartungsgemäß mit zwei zu null. Doch zehn Minuten später glich die von Sepp Herberger betreute deutsche Mannschaft aus. Weitere siebzig Minuten wogte das Spiel hin und her, bis Helmut Rahn in der 84. Minute den entscheidenden Siegtreffer erzielte. Die Art und Weise der Schilderung dieses Tores durch den bekannten Rundfunkkommentator Herbert Zimmermann ist inzwischen in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen – ein Faktum, das auf die damalige Dominanz des Mediums Rundfunk beim Konsum sportlicher Ereignisse zurückzuführen ist. Einer Million Bundesbürger, die das Finale am Bildschirm verfolgten, standen etwa 50 Millionen Radiohörer gegenüber.

Zum politischen Ereignis wurde das sogenannte "Wunder von Bern" erstmals in den frühen neunziger Jahren stilisiert. Es waren der Publizist Joachim C. Fest und der Politologe Arthur Heinrich, welche im Vorfeld der vierzigsten Wiederkehr des WM-Triumphes als erste von einem Gründungsakt sprachen, der sich Anfang Juli 1954 in der Schweiz vollzogen habe. Fest glaubte in Fritz Walter, dem Spielführer der deutschen Elf, eine fußballsportliche Gründungsfigur der Bundesrepublik erkennen zu können – neben den wirtschaftlichen bzw. politischen Paten Ludwig Erhard und Konrad Adenauer –, während Heinrich etwa um die selbe Zeit dem Finale im Berner Wankdorf-Stadion den Charakter eines Gründungsaktes zumaß. Beide, Fest als auch Heinrich, verbanden mit ihrer These die Annahme, daß im Jubel über den Titelgewinn eine tiefe Zufriedenheit mit den politischen Realitäten im Nachkriegsdeutschland zum Ausdruck gekommen sei, daß der 4. Juli 1954 somit einen Schlußpunkt unter die jüngere deutsche Geschichte – gekennzeichnet durch übersteigerten Nationalismus und Demokratiefeindlichkeit – gesetzt habe. Im Anschluß an Fest und Heinrich wurde der unerwartete Gewinn der WM in der Schweiz mitunter auch als Versinnbildlichung des Wirtschaftswunders interpretiert (Breitmeier 2004, 142f.). Seit einigen Jahren, verstärkt seit dem fünfzigsten Jubiläum von "Bern", wird die These vom Gründungsakt jedoch entschieden verworfen, wobei nicht zuletzt auf die Schnellebigkeit alltagskultureller Rezeptionsweisen des Sports verwiesen wird (Raithel 2004, 115f.; Oswald 2005, 96ff.). Aus der Perspektive dieses neueren Ansatzes erscheint die vermeintlich identitätsstiftende Funktion der WM 1954 lediglich als Wunschvorstellung nationalkonservativer Geschichtsdeuter der Gegenwart.

Analog der gegensätzlichen Bewertung des Ereignisses selbst existiert inzwischen ein völlig divergierendes Analyseinteresse in Hinblick auf die Reportage Herbert Zimmermanns. Während die Forschung der neunziger Jahre bestrebt war, die Worte des Kommentators auf ihre politische Wirkung hin zu überprüfen – mithin aus jenem "Rahn schießt – Tor, Tor, Tor!" den "Geburtsschrei" der Bundesrepublik herauszuhören –, lenkt ein jüngerer Ansatz den Focus auf die Art und Weise der zeitgenössischen Sportreportage und untersucht den möglichen Wirkungszusammenhang zwischen emotionaler Berichterstattung und Massenbegeisterung.

Das Tor zur quasi bundesrepublikanischen Deutung der Übertragung aus Bern stieß jedoch nicht die Retro-Bewegung des letzten Jahrzehnts auf, sondern der Neue Deutsche Film der siebziger Jahre. In Rainer Werner Fassbinders Meisterwerk Die Ehe der Maria Braun (1979) nimmt Parallel zur Reportage Zimmermanns die Katastrophe einer skrupellosen Karrieristin ihren Lauf. Der Film gipfelt in der Gleichzeitigkeit von Zimmermanns berühmten Ausrufen und einer durch die Protagonistin des Streifens verschuldeten Gasexplosion, die ihr Leben und das ihres Gatten fordert. Während Fassbinder allerdings mit seiner visuell-auditiven Montage noch auf den Konnex von Erfolg und Verdrängungsleistung der westdeutschen Gesellschaft aufmerksam machen wollte, deutete Arthur Heinrich fünfzehn Jahre später die Endspiel-Übertragung uneingeschränkt positiv. Die staatskonstituierende Funktion der Reportage betonend, sprach Heinrich davon, daß der Torschrei Zimmermanns das wichtigste Datum der deutschen Gesichte nach 1945 markiert habe. Folgt man dem Politologen, so scheint sich die überwiegende Mehrheit der Deutschen während der Schilderung des Rahn-Tores erstmals kollektiv mit der Bundesrepublik identifiziert zu haben. Auf diese Weise gerät der 4. Juli 1954 zum eigentlichen Gründungsdatum der BRD, überstrahlt das "Wunder von Bern" als politisches Ereignis selbst den 9. November 1989.

Heinrichs Deutung der Reportage Zimmermanns fand und findet ihre Rezeptoren. In dessen Sinne besonders prononciert bezog Per Leo anläßlich der fünfzigsten Wiederkehr des Berner Finales Stellung. Für Leo kommt der 4. Juli 1954 einem mythologischen Datum gleich. In ein und demselben Moment, so Leo, seien die BRD als auch der westdeutsche Fußball geboren worden. Eine Einschätzung, wie sie Heinrich oder Leo vornehmen, konnte jedoch auf Dauer nicht unwidersprochen bleiben. Es war vor allem die unkritische Stilisierung des WM-Erfolges zum BRD-Gründungsmythos, der eine differenziertere Betrachtungsweise des "Fußballwunders" und seiner medialen Vermittlung provozierte. So wurde man zum Beispiel darauf aufmerksam, daß die Stimmung in Deutschland unmittelbar nach Abpfiff des Finales zwar von Euphorie, keineswegs aber von einem Gefühl des "Wir-sind-wieder-wer" geprägt war. Die Verwendung dieses Zitates durch die Zeitgenossen läßt sich in der Tat in keinem einzigen Fall belegen (Raithel 2004, 116; Brüggemeier 2004, 292). Zudem wird darauf hingewiesen, daß die allgemein verbreitete Freude über den Gewinn des WM-Titels nur von kurzer Dauer war. Nachdem die Schützlinge Herbergers in ihre Heimatstädte zurückgekehrt waren, ebbten auch die Begeisterungsstürme rasch ab, wurde im Fußballalltag das "Wunder von Bern" lange Zeit nicht mehr reflektiert. Erst Arthur Heinrich und Joachim Fest entdeckten den wohl bedeutendsten Erfolg einer deutschen Fußballmannschaft wieder.

Im Zuge der Neubewertung des Ereignisses wurde jüngst auch die Reportage Zimmermanns einer Revision unterzogen. Seit einigen Jahren wird nun ebenso die Funktion des Berichts in Hinblick auf das Evozieren einer Masseneuphorie untersucht. 2004 lieferte Erik Eggers mit einer Biographie über die Stimme von Bern erste Denkanstöße in diese Richtung. Gestützt auf Zeitzeugen, vor allem Kollegen Zimmermanns, entwickelte Eggers die These, daß die Begeisterung, die am Abend des 4. Juli 1954 in Westdeutschland ausbrach, hauptsächlich durch die Art und Weise der Rundfunkübertragung aus der Schweiz ausgelöst worden sei. Zudem wurde seither auf das Charakteristikum des zeitgenössischen Live-Berichts im Sport, auf das emphatische, deklamatorische und blankversartige Sprechen, das nicht zuletzt Herbert Zimmermann perfekt beherrschte, hingewiesen. In Kombination mit der damals noch weitgehenden Monopolstellung des Rundfunks, der Tradition des gemeinschaftlichen Sportkonsums vor dem Radiogerät sowie der aufgeheizten Atmosphäre unter den Fußballfans, nachdem die deutsche Elf das Finale erreicht hatte, mußte die Reportage Zimmermanns fast zwangsläufig jene Begeisterungsstürme auslösen, von welchen bereits unmittelbar nach Abpfiff berichtet wurde. Entscheidend scheint der Finalverlauf gewesen zu sein, dessen Spannung von Zimmermann ins Unerträgliche gesteigert und durch den Torschrei in der 84. Minute in Richtung Euphorie kanalisiert wurde (Oswald 2006).

Im Gegensatz zum Endspiel selbst ist der Stil, in dem Zimmermann den Siegtreffer zum 3:2 schilderte, zweifellos Teil des kollektiven Gedächtnisses der Bundesrepublik. Wer das "Rahn schießt – Tor, Tor, Tor!" allerdings dorthin verpflanzte – Zimmermann oder die Retro-Kultur der Neunziger –, dies läßt sich anhand der Quellenlage nicht mehr klären.

Rudolf Oswald