Zur Gründung der Öffentlichen Gruppe zur Förderung der Durchführung der Beschlüsse von Helsinki in der UdSSR [Moskauer Helsinki-Gruppe (MHG)], 12. Mai 1976

Einleitung

Die Idee, die Durchführung der Helsinki-Beschlüsse durch eine dafür geschaffene Kommission zu kontrollieren, brachte im März 1976 der schon damals bekannte Dissident, Mathematiker und Kybernetiker Anatolij Ščaranskij zur Sprache. Sowjetunion hatte die Konferenz bereits in den Fünfziger Jahren initiiert und das Gipfeltreffen in Helsinki als einen großen Erfolg ihrer langjährigen Bemühungen gefeiert. Der Physiker Jurij Orlov erkannte in diesem Vorschlag die Chance, die "rhetorische Falle" des doppelten Legitimationszwangs, in die sich das kommunistische Regime selbst hineinmanövriert hatte, politisch auszunutzen und sich an einen neuen Adressat – die internationale Öffentlichkeit – zu wenden. Es sollte eine sowjetische, die Einhaltung der unterschriebenen Akte überwachende Kommission gebildet werden. Der Vorschlag klang so absurd und gleichzeitig systemförderlich, daß einige Bürgerrechtsaktivisten (Mal'va Landa, Andrej Sacharov, Ljudmila Alekseeva) diesem Vorhaben zunächst sehr skeptisch gegenüberstanden. Denn vor der Unterzeichnung der mit vielen Redundanzen formulierten und eher als ein Rückschritt auf die Bürgerrechtler wirkenden Helsinki-Schlußakte, hatte die Sowjetunion bereits mehrfach ihre Unterschrift unter die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte gesetzt,

Das sind die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie die auf ihr aufbauenden Menschenrechtspakte: die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 mit Zusatzprotokollen, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie der Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 u.a.

ohne aber diesen völkerrechtlich verbindlichen Normen in ihrer Umsetzung nachzukommen. Alle bisher unternommenen Versuche der Menschenrechtsgruppen (Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR von 1969, Moskauer Menschenrechtskomitee von 1970, Gruppe 1973, Moskauer Gruppe von Amnesty International von 1974), den eigenen Staat an die Einhaltung dieser Normen zu erinnern, haben lediglich zu Diskriminierungen und zum Ausschluß deren Mitglieder aus der Gesellschaft geführt. deren Mitglieder aus der Gesellschaft geführt.

Vor diesem Hintergrund mußte die Gründung der Moskauer Helsinki-Gruppe als ein letzter Akt der Verzweifelung gewirkt haben: Am 12. Mais 1976, kurz vor Mitternacht unterzeichneten 11 Dissidenten in Sacharovs Wohnung ihre Gründungsdeklaration (später traten der Gruppe noch 11 weitere Mitglieder bei), welche über einen britischen Korrespondenten den Weg in die internationale Öffentlichkeit fand. Zum Hauptziel wurde die Förderung der "Einhaltung der humanitären Artikel der Schlußakte" erklärt, indem Beschwerden über Verletzungen des Dekalogs und der im dritten Korb festgehaltenen Normen (Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen) in der Sowjetunion gesammelt und an die Öffentlichkeit und vor allem an die Regierungschefs der Unterzeichnerstaaten in systematischer und sachlicher Form weitergegeben werden. Des Weiteren brachten die Gruppenmitglieder im Dokument die Hoffnung zum Ausdruck, durch die Bildung von ähnlichen Förderungsgruppen im Westen und die Schaffung von Netzwerken auf transnationaler Ebene in ihrem Bemühen unterstützt zu werden. Dabei setzten sie auf das Prinzip VII des Dekalogs,

Siehe dazu ihr Dokument Nr. 10.

welches die Achtung der Menschenrechte als "einen wesentlichen Faktor für den Frieden" definiert und somit die Aufwertung der Menschrechte aus dem Bereich einer innerstaatlichen Angelegenheit zum Gegenstand internationaler Verhandlungen und Recht auf die Einmischung impliziert.

Schon drei Tage nach der Pressekonferenz und Bekanntgabe des Gründungsdokuments berichteten westlichen Radiosender mit Verwunderung und etwas Skepsis über die neue Gruppe, während der sowjetische Machtapparat, um die Legitimationsgrundlage der Gruppe und die zunehmende Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit wissend, zunächst mit den Einschüchterungen durch die Sicherheitsdienste und Verleumdung der MHG als "antisowjetische Untergrundorganisation" in der Presse reagierte. Die Repressionen folgten erst nach einer neunmonatigen "Ignoranzphase". Während dieser Zeit widmete sich die MHG intensiv und in der Tradition von "Chronik der Laufenden Ereignisse" der wöchentlichen Verbreitung von Informationen, welche die Verletzungen der Helsinki-Schlußakte durch die sowjetische Regierung am Beispiel von Sowjetbürgern dokumentierten, die in ihren Rechten betroffen wurden. Zunächst unter Redaktion von Ljudmila Alekseeva, wurden innerhalb des sechsjährigen Bestehens der MHG insgesamt 230 mit der Unterschriften versehenen Dokumente aufgestellt und per Post oder über geheime Wege sowohl an die eigene Regierung als auch an die Botschaften der KSZE-Staaten, Journalisten und nichtstaatliche Organisationen weitergeleitet. Damit wurde eine transparente, die regimekritischen Kräfte bündelnde und die Rolle eines "sowjetischen Ombudsmanns" erfüllende Organisationsform geschaffen, welche die unionsweite Rezeption der Helsinki-Schlußakte förderte und dabei die zentralen Prinzipien der Dissidentenbewegung bewahrte: Öffentlichkeit, unhierarchische Organisationsform und Gewaltfreiheit.

Die meisten Gruppen der nationalen oder der religiösen Bewegung erkannten recht schnell die Bedeutung der Schlußakte und begannen, mit der Moskauer Helsinki-Gruppe zusammenzuarbeiten. Gleb Jakunin gründete mit Unterstützung der MHG 1976 das Christliche Komitee zur Verteidigung der Rechte von Gläubigen, auf eine Initiative von Alexander Podrabinek ging die im Januar 1977 gebildete Kommission zur Untersuchung des Psychiatriemißbrauchs zurück. Ihrem Muster folgend entstanden die nationalen Helsinki-Gruppen in anderen Sowjetrepubliken: im November 1976 in der Ukraine und Litauen, im Januar 1977 in Georgien sowie im April in Armenien. Auch innerhalb der Staaten des Warschauer Paktes kristallisierten sich ähnliche, die Einhaltung der unterschriebenen Normen fordernde Menschenrechtsgruppen heraus: 1976 das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter in Polen (ab 1977 das Komitee der gesellschaftlichen Selbstverteidigung), die Charta-77 in der Tschechoslowakei.

Gemessen an der Mitgliederzahl blieben diese Bewegungen, vor allem in der Sowjetunion, relativ bescheiden. Trotz ihrer marginalen, vom Wesen her mit der narrenhaften Don Quijote-Figur vergleichbaren Stellung (Václav Havel über die Bürgerrechtsbewegung im Allgemeinen) in der sowjetischen Gesellschaft, welche u.a. die relative Zurückhaltung der Regierung unmittelbar nach der Gründung der MHG erklärt, zeigten die Appelle an die internationale Öffentlichkeit nach einer diplomatischen Zurückhaltungsphase ihre erste Wirkung. Die eilige Informationsverbreitung über die menschenrechtsverletzende Praxis der sozialistischen Staaten – sie wurde durch die Tätigkeit der in die USA emigrierten Ljudmila Alekseeva intensiviert - weckte in den Gesellschaften der westlichen Staaten das Interesse an den osteuropäischen Dissidenten. Die Mobilisierung der Öffentlichkeit erzeugte einen moralischen Druck, dessen Wirkung sich am Beispiel des Weltkongresses der Psychiater in Honolulu von 1977 veranschaulichen läßt. Die Appelle der Helsinki-Mitglieder an die Internationale Psychiatrische Vereinigung hatten die Verabschiedung einer Resolution zur Folge, in welcher der sowjetische Psychiatriemißbrauch zur Beseitigung politisch Andersdenkender klar verurteilt wurde. Diese Verurteilung sowie die daraufhin folgende Boykotts westlicher Wissenschaftler stellten indirekt die Legitimität der sowjetischen Regierung in Frage, die trotz ihrer sozialistischen Menschenrechtskonzeption grundlegende Bürgerrechte und rechtsstaatliche Prinzipien verletzte. Die Solidarität mit den osteuropäischen Dissidenten wurde außerdem mit der Gründung ähnlicher Gruppen in Westeuropa (Helsinki Review Group in Großbritannien; Komitee für Solidarität mit Osteuropa in Schweden) und Nordamerika (z.B. Congressional Commission on Security and Cooperatoion in Europe, Helsinki Watch Committee oder Ohio Helsinki Accord Council in den USA) bekundet, welche ihrerseits ihre Regierungen dazu drängten, dem deklaratorischen Engagement für Menschenrechte in den sozialistischen Staaten Taten folgen zu lassen. Dadurch stieg zunehmend der Einfluß nichtstaatlicher Akteure auf die internationale Politik und die Menschrechtsthematik rückte in das Zentrum der folgenden KSZE-Treffen. Allein die MHG bereitete 26 Dokumente für das Belgrader und 138 für das Madrider Treffen vor und versorgte damit die westlichen Staaten bei den zunehmend offensiv geführten Implementierungsdebatten mit dem Ostblock mit akribisch gesammeltem Beweismaterial.

Der Dialog zwischen den Regierungen und der Gesellschaft wurde von der Helsinki-Bewegung zum Teil erfolgreich durch Lobbying und Informationsvermittlung in Gang gesetzt, in der Sowjetunion blieb es aber bei einem kostspieligen "Monolog […] mit zugestopftem Mund" (Amal'rik). Die Explosion einer Bombe in der Moskauer U-Bahn am 8. Januar 1977 mit mehreren Toten und Verletzten sollte dem Staat den Anlaß geben, die MHG als die dafür verantwortliche "Terroristische Untergrundorganisation" mit aller Härte zu bestrafen. Trotz Distanzierung der Dissidenten in aller Deutlichkeit von diesem Anschlag und von jeglicher Form der Gewaltanwendung als Prinzip, folgte eine Reihe von Verurteilungen der Gruppenmitglieder zu mehreren Jahren Zwangsarbeit, Verbannungen und Verhaftungen. Die Kriminalisierung der Bürgerrechtler in Folge offizieller Beschuldigungen der antisowjetischen Agitation (§ 70 StGB), der Spionage (§ 65 StGB), des Verrats (§ 64 und § 75 StGB) oder des parasitären Lebenswandels (§ 209/1 StGB) – nur um einige Beispiele zu nennen – sollten dabei die Erreichung des eigentlichen Ziels garantieren: die endgültige Neutralisierung der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung und das dadurch sinkende Interesse der Öffentlichkeit an dieser Thematik. Bei gleichzeitig verschärfter Verfolgung von Andersdenkenden wurden unter Ausschluß von Öffentlichkeit im Februar 1977 Jurij Orlov und Alexander Ginzburg verurteilt, im März Anatolij Ščaranskij und im darauf folgenden Jahr Mal'va Landa. Als ein Strafrechtsverfahren gegen die pensionierte Rechtsanwältin Sofja Kalistratova im September 1982 eröffnet wurde, sahen sich die beiden noch in "Freiheit" befindlichen Mitglieder Bonner und Mejman gezwungen, die Auflösung der MHG bekannt zu geben. Erst in Folge von Gorbačevs Liberalisierungspolitik konnte sich die Gruppe, zunächst allerdings prinzipiell formlos und ohne ihrer alten, zum größten Teil in den Westen emigrierte Mitglieder, wieder etablieren.

Die Tatsache, daß die Neugründung der Gruppe ohne eine Einladung ihrer alten, in den Westen emigrierten Mitglieder erfolgte und von persönlichen und finanziellen Querellen begleitet wurde, liefert noch heute einigen ihrer ehemaligen Aktivisten den Anlaß, jegliche Kontinuität zwischen den beiden Gruppen zu bestreiten und die Letzte als ein Surrogat der früheren, als "Auswechslung" schlechthin zu bezeichnen (so Jurij Jarym-Agaev in seinem Brief anläßlich der 20. Jubiläumsfeier (siehe dazu: Smirnov A., "2001: Trudnosti našego pravozaščitnogo dviženija", in: Posev, Nr. 9).

Die Verfolgung der MHG sowie anderer Bürgerrechtsbewegungen war wohl der offensichtlichste Verstoß der sowjetischen Regierung gegen die KSZE-Normen. Solch ein borniertes Vorgehen der Machthaber förderte nach dem geschilderten Ereignisverlauf, begleitet durch Appelle des Nobelpreisträgers Sacharov an den amerikanischen Präsidenten Carter und unterstützt mit den Aktivitäten der Exildissidenten im Westen, umso mehr eine neue Entwicklung auf der zwischenstaatlichen Ebene: Die Menschenrechtspolitik wurde zu einem außenpolitischen Programm der USA, bestimmte zunehmend den weiteren Verlauf der KSZE-Folgekonferenzen und die Konfliktlinie zwischen Ost und West. Trotz der kurzen Lebensdauer löste die MHG eine heute noch über 30 ähnliche Gruppen zählende und zum Akteur der internationalen Politik gewordene Helsinki-Bewegung aus und gemessen an der völkerrechtlichen Schutzintensität vor dem Helsinki-Prozeß haben ihre in politisch-moralischer Form formulierten Forderungen des Menschenrechtsschutzes das Bewußtsein der Staatenwelt enorm geschärft. Ihre innenpolitische Bewertung wird indes oft mit dem Wortgefüge "moralische Instanz ohne gesellschaftlichen Einfluß" schnell umrissen. Doch das Kriterium des Bekanntheitsgrades verstellt den Blick auf ihre zivilgesellschaftliche "Vorleistung" im Vorfeld der Gesellschaftsumwälzungen der späten Achtziger in einem Land ohne tief verwurzelte rechtsstaatliche Tradition. Die Helsinki-Bewegung war zwar nicht der Totengräber der Sowjetunion, ihre amerikanische "Schwester" und die wiedergeborenen Bürgerrechtsbewegungen der Perestrojkazeit traten aber recht schnell als eine neue Kraft aus dem kommunistischen Schatten auf das Feld der multilateralen Beziehungen heraus und haben nicht zuletzt über die KSZE-Folgekonferenz in Wien den von Gorbačev eingeschlagenen und bald irreversibel gewordenen Liberalisierungsprozeß mitbestimmt. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahren ist der Traum von Jurij Orlov in Erfüllung gegangen: der Monitoring der Menschenrechte wurde zum festen argumentativen Bestandteil der multilateralen Diplomatie, während sein eigener Staat die unterschriebenen Verpflichtungen unter Beobachtung des Westens in das geltende Recht umzusetzen begann.

Was die historische Einordnung der MHG in diesem Evolutionsprozeß betrifft, so steht sie selbst nach 25 Jahren ihrer Geschichte noch aus. Die Aktivitäten der Moskauer Gruppe sind zwar – gestützt auf die zahlreichen Erinnerungen im Umkreis der Bürgerrechtler (Alekseeva, Orlov) – vor allem im Westen gut dokumentiert worden, eine kritische Rollenanalyse als selbstständiger, mit den anderen Gruppen interagierender Akteur auf der Unions- und vor allem Internationalen Ebene ist aber bis jetzt ausgeblieben. Wie weit waren aber die einzelnen Gruppen in ihren Zielsetzungen und wechselseitigen Wahrnehmungen voneinander getrennt? Besaßen sie ihre politische und regionale Eigenart, ihre Autonomie? Eine derartige komparatistische Betrachtung und Analyse von Interaktionen und Einflußnahmen steht noch aus. Auch die zweite Helsinki-Bewegung in der Zeit der Perestrojka in Gestalt von neu gegründeten Bürgerrechtsgruppen wurde – trotz der hinzugekommenen Archivmaterialien und neuen Möglichkeiten – kaum wahrgenommen, ihre Bedeutung im Prozeß der "samtenen Revolutionen" in den Staaten des Warschauer Paktes kaum reflektiert.

Eine mögliche Erklärung für diese nach wie vor bestehende Forschungslücke kann neben dem Verlust der klassischen Dissidenten-Gestalt der neuen Gruppen in Folge der Perestrojka die relative Nähe der Ereignisse liefern, was aber angesichts der umfangreichen Aufarbeitung der Perestrojka-Ära als Vergleichswert kaum nachvollziehbar erscheint. Viel mehr drängt sich die neue politische Konstellation im heutigen Rußland mit seiner symptomatischen Distanzierung von der Bürgerrechtsthematik und den daraus resultierenden praktischen Folgen für die Geschichtswissenschaft als Erklärung auf. Wie kein anderes historisches Thema unterliegt heute die Bürgerrechtsbewegung der Forschungskonjunktur der "Souveränen Demokratie" (Surkov).

Yuliya von Saal