'Appell an das sowjetische Volk' des Staatskomitees für den Ausnahmezustand in der UdSSR (GKČP), 18. August 1991
Appell an das sowjetische Volk
Landsleute, Bürger der Sowjetunion,
wir wenden uns an Sie in dieser für die Geschicke unseres Vaterlandes und unserer Völker schwierigen, kritischen Stunde! Über unserer großen Heimat schwebt eine tödliche Gefahr! Die von Michail Gorbačev eingeleitete Reformpolitik, die als Mittel zur Sicherung der dynamischen Entwicklung des Landes und der Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens konzipiert wurde, ist aus einer Reihe von Gründen in eine Sackgasse geraten. Anstelle des anfänglichen Enthusiasmus und der Hoffnungen traten Mißtrauen, Apathie und Verzweiflung. Die Machtorgane aller Ebenen haben das Vertrauen des Volkes eingebüßt. Politikastertum hat die Sorge um die Geschicke des Vaterlandes und der Staatsbürger aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt. Kultiviert wird eine böswillige Verhöhnung aller staatlichen Institutionen. Das Land ist im Grunde genommen unlenkbar geworden.
Die gewährten Freiheiten mißbrauchend und die aufkeimende Demokratie niedertretend, entstanden extremistische Kräfte, die den Kurs auf die Eliminierung der Sowjetunion, den Zerfall des Staates und die Machtergreifung um jeden Preis eingeschlagen haben. Mit Füßen getreten wurden die Ergebnisse des gesamtnationalen Referendums über die Einheit des Vaterlandes. Die zynische Spekulation mit nationalen Gefühlen dient lediglich als Deckmantel für ihre Ambitionen. Die politischen Abenteurer sorgen sich weder über den heutigen Mißstand noch über die Zukunft ihrer Völker. Sie beschwören eine Situation des moralisch-politischen Terrors herauf, versuchen, sich mit dem Vertrauen des Volkes wie mit einem Schild zu decken, und vergessen dabei, daß sich die Beziehungen, die sie verurteilen und abbrechen, auf der Grundlage einer weitgehend breiteren Unterstützung durch das Volk gestalteten, die zudem in der Geschichte eine jahrhundertelange Probe bestanden hat. Heute sollen jene, die praktisch auf den Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung hinarbeiten, vor den Müttern und Vätern vieler Hunderter Opfer der zwischennationalen Konflikte Rede und Antwort stehen. Auf ihrem Gewissen lastet das schreckliche Schicksal von mehr als einer halben Million Flüchtlingen. Ihretwegen haben Dutzende Millionen Sowjetbürger ihre Ruhe und Lebensfreude eingebüßt, die noch gestern in einer einträchtigen Familie lebten und heute in ihrem eigenen Haus Vertriebene sind. Über die Gesellschaftsordnung soll das Volk entscheiden, dem dieses Recht heute entzogen wird.
Anstatt sich um die Sicherheit und den Wohlstand jedes Staatsbürgers und der gesamten Gesellschaft zu sorgen, nutzen Personen, die an die Macht gelangten, sie häufig als ein Mittel zur prinzipienlosen Selbstbestätigung. Wortschwalle, Berge von Erklärungen und Versprechungen unterstreichen lediglich die Dürftigkeit und die Armseligkeit ihrer praktischen Taten. Die Inflation der Macht, die schrecklicher als jede andere Inflation ist, zerstört unseren Staat und unsere Gesellschaft. Jeder Staatsbürger verspürt zunehmend die Ungewißheit des kommenden Tages und eine tiefe Sorge um die Zukunft unserer Kinder. Die Machtkrise hat sich katastrophal auf die Wirtschaft ausgewirkt. Das chaotische und spontane Abgleiten zum Markt hat explosionsartig einen regionalen, ressortmäßigen, persönlichen und Gruppenegoismus ausgelöst. Der Krieg der Gesetze und die Vorschubleistung für die zentrifugalen Trends führten zur Zerstörung des einheitlichen Volkswirtschaftsmechanismus, der sich im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet hatte. Im Ergebnis hat sich der Lebensstandard der großen Mehrheit der Sowjetbürger drastisch verschlechtert, Schwarzhandel und Schattenwirtschaft wuchern. Man hätte den Menschen bereits längst die Wahrheit sagen müssen: Wenn nicht umgehend entschlossene Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft getroffen werden, dann kommen in nächster Zukunft unvermeidlich eine Hungersnot und eine neue Runde der Verarmung, die mit massenhaften Erscheinungen spontaner Unzufriedenheit und deren zerstörenden Folgen direkt zusammenhängen. Nur verantwortungslose Menschen können auf Hilfe aus dem Ausland vertrauen. Keine Almosen werden unsere Probleme lösen, die Rettung liegt in unseren Händen. Es ist an der Zeit, das Ansehen jedes Menschen und jeder Organisation am realen Beitrag zur Wiederherstellung und Entwicklung der Volkswirtschaft zu messen.
Seit Jahren hören wir überall Beschwörungen zur Treue zu den Interessen der Persönlichkeit, zur Sorge um ihre Rechte und ihren sozialen Schutz. In Wirklichkeit wird der Mensch erniedrigt, in seinen realen Rechten und Möglichkeiten beeinträchtigt und bis zur Verzweiflung herabgewürdigt. Vor unseren Augen büßen alle demokratischen Institutionen ihre Bedeutung und Effizienz ein, die durch die Willensäußerung geschaffen worden sind. Das ist ein Ergebnis zielgerichteter Handlungen jener, die grob gegen das Grundgesetz der UdSSR verstoßen, praktisch einen verfassungswidrigen Umsturz vollziehen und eine ungezügelte persönliche Diktatur anstreben. Präfekturen, Bürgermeistereien und andere gesetzwidrige Strukturen lösen eigenmächtig zunehmend die dem Volk gewählten Sowjets ab. Geschmälert werden die Rechte der Werktätigen. Die Rechte auf Arbeit, Bildung, Gesundheitswesen, Wohnraum und Erholung sind in Frage gestellt.
Zunehmend bedroht wird auch die Grundlage der persönlichen Sicherheit der Menschen. Die Kriminalität wuchert, organisiert und politisiert sich. Das Land versinkt tief in Gewalt und Gesetzlosigkeit. Nie in der Geschichte des Landes erlangte die Propaganda von Sex und Gewalt eine solche Dimension, die die Gesundheit und das Leben künftiger Generationen bedrohen. Millionen Menschen fordern Maßnahmen gegen das Ungeheuer der Kriminalität und die zum Himmel schreiende Sittenlosigkeit.
Die sich vertiefende Destabilisierung der politischen und ökonomischen Lage in der Sowjetunion untergräbt unsere Position in der Welt. Mancherorts werden revanchistische Stimmen laut, gefordert wird eine Revision unserer Grenzen. Man hört sogar Forderungen, die Sowjetunion aufzugliedern und eventuell einzelne Objekte und Regionen des Landes unter internationale Vormundschaft zu stellen. So sehen die bitteren Realitäten aus. Gestern noch fühlte sich ein Sowjetbürger im Ausland als ein würdevoller Bürger eines einflußreichen und angesehenen Staates. Heute wird er häufig als ein zweitklassiger Ausländer betrachtet und verächtlich oder mitleidvoll behandelt. Stolz und Ehre des Sowjetbürgers sollen im vollen Umfang wiederhergestellt werden. Das Staatskomitee für den Ausnahmezustand in der UdSSR erkennt die tiefe Krise, die unser Land betroffen hat, übernimmt die Verantwortung für die Geschicke der Heimat und ist voll entschlossen, denkbar ernsthafte Maßnahmen zu einer schnellstmöglichen Überwindung der Krise im Staat und in der Gesellschaft zu treffen.
Wir versprechen, den Entwurf des neuen Unionsvertrages zu einer breiten Volksaussprache vorzulegen. Jeder wird das Recht und die Möglichkeit haben, diesen entscheidenden Akt in einer ruhigen Lage zu überdenken und sich festzulegen, denn von der künftigen Union wird auch das Schicksal zahlreicher Völker unserer großen Heimat abhängen.
Wir sind gewillt, die Gesetzlichkeit und Rechtsordnung umgehend wiederherzustellen, dem Blutvergießen ein Ende zu setzen, der kriminellen Welt einen schonungslosen Krieg anzusagen und schändliche Erscheinungen zu eliminieren, die unsere Gesellschaft diskreditieren und die Sowjetbürger erniedrigen. Wir werden die Straßen unserer Städte von kriminellen Elementen räumen und der Willkür der Diebe von volkseigenem Vermögen ein Ende setzen.
Wir treten für echt demokratische Prozesse, für eine konsequente Reformpolitik ein, die zur Erneuerung unserer Heimat und zu ihrer ökonomischen und sozialen Blüte führt, die ihr gestatten wird, einen würdigen Platz in der Weltgemeinschaft der Nationen einzunehmen. Die Entwicklung des Landes darf nicht auf einer Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung basieren. In einer gesunden Gesellschaft wird die ständige Steigerung des Wohlstands aller Mitbürger zu einer Norm. Ohne die Sorge um die Festigung und den Schutz der Rechte der Persönlichkeit abzuschwächen, werden wir unsere Aufmerksamkeit auf den Schutz der Interessen der breitesten Bevölkerungsschichten und jener konzentrieren, die durch die Inflation, Desorganisation der Produktion, Bestechlichkeit und Kriminalität besonders qualvoll betroffen sind.
Wir werden den vielfältigen Charakter der Volkswirtschaft entwickeln und auch Privatunternehmer unterstützen und ihnen die erforderlichen Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktion und des Dienstleistungsbereichs bieten. Zu unserer Schwerpunktaufgabe wird die Lösung des Lebensmittel- und Wohnraumproblems. Alle verfügbaren Kräfte werden zur Befriedigung dieser vordringlichen Bedürfnisse des Volkes aktiviert. Wir fordern Arbeiter, Bauern, werktätige Intelligenz, alle sowjetischen Menschen auf, denkbar kurzfristig die Arbeitsdisziplin und -ordnung wiederherzustellen und anschließend entschlossen voranzugehen. Darauf sind das Leben und die Zukunft unserer Kinder und Enkel und die Geschicke des Vaterlandes angewiesen.
Wir sind ein Friedensland und werden alle übernommenen Verpflichtungen einhalten. Wir haben keinerlei Ansprüche an einen Staat. Wir wollen mit allen in Frieden und Freundschaft leben. Wir erklären allerdings entschlossen, daß wir es niemandem erlauben werden, sich an unserer Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität zu vergreifen. Beliebige Versuche, mit unserem Land in einer Sprache des Diktats zu sprechen, werden entschlossen unterbunden, ganz gleich, von wem sie ausgehen werden.
Unser multinationales Volk lebte jahrhundertelang voller Stolz für seine Heimat. Wir schämten uns nicht unserer patriotischen Gefühle und betrachten als ein natürliches und legitimes Anliegen, auch die heutige und kommende Generationen der Staatsbürger unseres großen Landes in diesem Geist zu erziehen. Tatenlosigkeit in dieser für die Geschicke des Vaterlandes kritischen Stunde würde bedeuten, eine schwere Verantwortung für tragische, tatsächlich unkalkulierbare Folgen zu übernehmen. Jeder, dem unsere Heimat teuer ist, wer in Ruhe und Zuversicht leben und arbeiten will, wer den Fortgang blutiger zwischennationaler Konflikte ablehnt, wer sein Vaterland in Zukunft als einen unabhängigen und blühenden Staat sieht, muß die einzig richtige Entscheidung treffen. Wir fordern alle echten Patrioten, Menschen guten Willens auf, dieser unruhigen Zeit ein Ende zu setzen.
Wir fordern alle Bürger der Sowjetunion auf, ihre Pflicht gegenüber der Heimat zu erkennen und das Staatskomitee für den Ausnahmezustand in der UdSSR und die Bemühungen um Überwindung der Krise im Lande umfassend zu unterstützen. Konstruktive Vorschläge der gesellschaftspolitischen Organisationen, Arbeitskollektive und Bürger werden dankbar als Äußerung ihrer patriotischen Bereitschaft akzeptiert, an der Wiederherstellung der jahrhundertealten Freundschaft in der einträchtigen Familie der Brudervölker und am Wiederaufbau des Vaterlandes teilzunehmen.
Das Staatskomitee für den Ausnahmezustand in der UdSSR
18. August 1991
Rev. Übersetzung hier nach: Europa-Archiv, 1991, Folge 20, S. 512-515.