Die Abdankungsurkunde des Zaren Nikolaus II.: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 29. Juli 2024, 15:29 Uhr

Als Folge einer tiefen Krise, in die das Russische Reich, sein Staat, seine Wirtschaft und seine Gesellschaft im Winter 1916/17 geraten waren, brach im Februar 1917 in Petrograd die Zweite Russische Revolution aus. Aufständische Arbeiter und Soldaten stürzten die zarische Herrschaft in Petrograd. Die Revolution griff auf andere Städte über. Der Zar verlor den Rückhalt der Generäle. Am 2. (15.) März unterzeichnete Nikolaus II. die Abdankungsurkunde. Damit endete die 300-jährige Geschichte der Romanow-Dynastie, obwohl Russland erst am 1. (14.) September 1917 offiziell zur Republik erklärt wurde.
Die Unruhen, die am 23. Februar (8. März) 1917 in Petrograd wegen Brotmangels ausbrachen, entwickelten sich rasch zu Massenprotesten gegen die Autokratie. Ähnliche Ereignisse hatten sich 1905 abgespielt, damals jedoch nicht zum Sturz der Monarchie geführt. Der Zar reagierte bereits am 25. Februar (10. März), unmittelbar nachdem er von den Ereignissen in der Hauptstadt erfahren hatte. Er schickte ein Telegramm an den Truppenbefehlshaber des Petrograder Militärbezirks Chabalov, das den weiteren Verlauf der Ereignisse maßgeblich beeinflussen sollte: „Ich befehle, die Unruhen in der Hauptstadt, die in der schweren Zeit des Krieges gegen Deutschland und Österreich unzulässig sind, noch morgen zu beenden“.[1]
„Dieses Telegramm. traf mich wie ein Schlag...“, erinnerte sich General Chabalov später. „Wie soll es morgen aufgehalten werden...? Der Kaiser befiehlt, es um jeden Preis zu beenden.... Was soll ich tun? Wie beenden? Als sie sagten: ‚Gebt Brot‘ – haben wir Brot gegeben, und das war‘s. Aber wenn auf den Fahnen steht „Nieder mit der Autokratie“, welches Brot kann sie dann beruhigen! Aber was ist zu tun? - Der Zar hat befohlen: Wir müssen schießen...“[2] Das Telegramm des Zaren bedeutete das Ende der Versuche, die verzweifelten Massen zur Vernunft zu bringen. Als am 25. Februar (10. März) das Feuer auf die Demonstranten eröffnet wurde, eskalierte die Konfrontation.
Der Einfluss des herrschenden Regimes in der Hauptstadt schwand. „Tatsache war, dass man in der ganzen großen Stadt nicht einmal ein paar Hundert von Menschen finden konnte, die mit den Machthabern sympathisierten... Tatsache war, dass die Macht mit sich selbst nicht sympathisierte,"[3] erinnert sich der Abgeordnete V. Šul’gin.
Um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, schickte der Vorsitzende der Duma, M. Rodzjanko, ein Telegramm an den Zaren, in dem er die Einsetzung einer dem Parlament und der Gesellschaft verantwortlichen Regierung forderte. „Es gibt keinen anderen Ausweg ins Licht“, telegrafierte er dem Zaren.[4] Als Nikolaus das Telegramm las, sagte er zu einem Vertrauten: „Dieser dicke Rodzjanko hat mir wieder allerhand Unsinn geschrieben, auf den ich gar nicht antworten werde."[5] Statt einer Antwort erhielten die Abgeordneten die Anordnung, die Sitzungen der Duma vorübergehend einzustellen. Damit war ein weiteres legitimes Band zwischen dem Zaren und dem Volk zerschnitten.
Selbst nach dem Sieg des Aufstandes am 27. Februar (12. März), so zahlreiche Beobachter, „hätte man die Hauptstadt durch eine einfache Unterbrechung des Zugverkehrs nach Petersburg zum Einlenken bringen können: Nach drei Tagen hätte die Hungersnot Petersburg zur Aufgabe des Widerstandes gezwungen.“[6] Der Zar war sich dessen bewusst und hatte es nicht eilig, Zugeständnisse zu machen. Am 27. Februar (12. März) lehnte er es ab, der Bitte des Großfürsten Michail und der Oberbefehlshaber der Fronten N. Ruzskij und A. Brusilov nachzukommen, G. L’vov zu einer der Duma verantwortlichen Minister zu ernennen. Der Zar war der Meinung, dass man bei einer Revolte nicht nachgeben dürfe. In den Jahren 1916/1917 hatten höchste Militärkreise Gespräche über einen Umsturz am Hof geführt, um den Weg für liberale Reformen freizumachen. Während der beginnenden Revolution in der Hauptstadt führte das Militär im Wesentlichen einen solchen Staatsstreich durch. Bald trat der Oberbefehlshaber der Fronten, M. Alekseev, an den Zaren heran und bot ihm Zugeständnisse an. Er berief sich dabei auf General Ruzskij, der die Ansicht vertrat, dass „unter den gegebenen Umständen repressive Maßnahmen die Lage nur verschlimmern“ würden.[7]
Diese alarmierenden Umstände ignorierend, ernannte Nikolaus II. den General N. Ivanov zum Befehlshaber eines Strafkommandos mit diktatorischen Vollmachten. Von Mogilev aus machte es sich auf den Weg in die Hauptstadt. Sabotageaktionen der Arbeiter verhinderten, dass General Ivanov die Hauptstadt schnell erreichte. „In Semrino angekommen, wurde der ‚diktatorische‘ General ungeduldig und verlangte eine neue Dampflokomotive. ‚Es kann doch nicht so lange dauern, den Kessel mit Wasser zu füllen‘. ‚Ach so!‘ Da er sofort eine Dampflokomotive verlangte, stellten ihm die Eisenbahner die nächstbeste zur Verfügung. Eine Stunde später kam der Zug des ‚Diktators‘ zum Stehen: Es war nicht genug Wasser da“, schreibt M. Ferro über die Missgeschicke des Generals Ivanov.[8]
Die Expedition von N. Ivanov wurde nicht nur von den Eisenbahnern, sondern auch vom Militär sabotiert. Der faktische Oberbefehlshaber M. Alekseev wusste bereits, dass der Umsturz in der Hauptstadt zu Ende ging. Nach seinen Informationen „herrscht in Petrograd völlige Ruhe, die Truppen haben sich in voller Stärke der Provisorischen Regierung angeschlossen und werden in Ordnung gebracht. Die Provisorische Regierung unter dem Vorsitz von Rodzjanko tagt in der Staatsduma…“ Das war ein falsches Bild. Die Führung der Duma hatte noch nicht beschlossen, eine Regierung zu bilden und teilte sich die Kontrolle über die Hauptstadt mit dem neu gegründeten Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten.
Alekseev wusste auch von den Bestrebungen der Duma-Mehrheitsführer, die Monarchie zu erhalten.[9] Unter diesen Umständen konnte die liberale Generalität die Expedition von N. Ivanov nicht unterstützen, denn ihr Erfolg würde die Zerschlagung der repräsentativen Institutionen und der liberalen Parteien bis hin zu den Oktobristen bedeuten, eine Rückkehr zum stumpfen Reaktionismus. Außerdem könnte die Belagerung der Hauptstadt die Front gegen Deutschland destabilisieren. General Alekseev vermutete dies und informierte die Befehlshaber der Fronten. Der Historiker S. Ol’denburg schrieb über die Gründe für das Verhalten der Armeeführer in diesen Tagen: „Sie glaubten, dass in Petrograd die Regierung der Staatsduma existierte und sich auf disziplinierte Regimenter stützte; um ihre Außenpolitik fortzusetzen, wollten sie vor allem Zwietracht vermeiden.“[10]
Am 28. Februar (13. März) verließ der Zar das Hauptquartier, um seine Familie in Carskoe Selo aufzusuchen. Sein Zug wurde jedoch in der Nacht in Malaja Višera angehalten, da der nächste Bahnhof bereits in die Hände des „Gegners“ gefallen war. Nach einigen weiteren Zugfahrten kam er schließlich am 1. März in Pskov beim Stab der Nordfront an. Hier konfrontierte ihn der Oberbefehlshaber der Nordfront, General Ruzskij, erneut mit der Forderung nach einem verantwortlichen Ministerium. Der Zar gab zunächst nicht nach, denn ein Kabinett, das dem Parlament und nicht dem Alleinherrscher verantwortlich war, widersprach seinem Staatsverständnis: „Wenn ich sehe, was von Ministern getan wird, die nicht zum Wohle Russlands handeln, werde ich ihnen niemals zustimmen können und mich mit dem Gedanken trösten, dass es nicht mein Werk ist ...“[11]
Der Zar wurde vor die Wahl gestellt - entweder eine konstitutionelle Monarchie oder die Abdankung. „Da er dem einen Prinzip der Autokratie verpflichtet war und deren Aufrechterhaltung als Pflicht betrachtete, sah Nikolaus II. keinen anderen Ausweg als den Rücktritt von der Macht, statt Zugeständnisse machen zu müssen, die ihm sein Gewissen nicht erlaubte, und eine Regierung im Einvernehmen mit den Volksvertretern zu bilden, was dem eigentlichen Prinzip der Autokratie völlig zuwiderlief,“[12] so der Historiker M. Ferro. Diese weit verbreitete Darstellung des französischen Historikers ist unzutreffend. Nach einer langen Diskussion mit N. Ruzsky akzeptierte der Zar ein verantwortliches Ministerium. Die Macht war ihm schließlich mehr wert als Prinzipien, selbst reaktionäre Prinzipien. Nikolaus war seiner letzten Chance beraubt, Zugeständnisse zu machen, die die Monarchie noch irgendwie hätten retten können. Nach dem 27. Februar war die Zeit bereits abgelaufen. In der Nacht zum 2. (15.) März wurden Ivanovs Truppen, die bei Luga festsaßen, durch ein Telegramm des Zaren offiziell „zum Stehen gebracht“, eine Verstärkung durch M. Alekseev war schon vorher ausgeblieben. Der Zar widerrief die Entscheidung, Verstärkung für die Strafexpedition zu schicken. „Mit diesen Instruktionen gab Nikolaus den Gedanken auf, die Unruhen in Petrograd niederzuschlagen, und wählte den Weg der politischen Versöhnung. Er hoffte, dass seine Zugeständnisse mit der Zeit dieselbe beruhigende Wirkung auf das Land haben würden, wie er sich vom Manifest des 17. Oktober 1905 erhofft hatte,“[13] so R. Pipes. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte der Kaiser keine Wahl mehr, er hatte die Truppen nicht mehr unter Kontrolle.
Seit dem 28. Februar (13. März) überschwemmten Massendemonstrationen unter roten Fahnen Moskau und andere Industriezentren des Landes. Damit wurde es unmöglich, die Revolution zu unterdrücken, ohne einen Bürgerkrieg im Rücken der Front auszulösen. Dieser Faktor beeinflusste die Position der Generäle entscheidend. Die Revolution hatte gesiegt. Die alte Ordnung zerbrach. Russland stand vor der Aufgabe, eine neue Ordnung zu schaffen.
In Russland bahnte sich zunächst eine konstitutionelle Monarchie an. Die Ereignisse gerieten jedoch schnell außer Kontrolle der Duma und der militärischen Führung. Radikalen Gruppen gelang es, über die Sowjets eine enge Verbindung zu den Soldatenmassen, der bewaffneten Kraft des Putsches, herzustellen. Unter dem Eindruck seiner Gespräche mit den Führern des Arbeiter- und Soldatenrates nahm N. Rodzjanko Kontakt mit dem Hauptquartier der Nordfront auf, wo sich der Kaiser aufhielt: „In Pskov wurde Rodzjanko von General Ruzskij erwartet, dem der Vorsitzende unter dem Eindruck unseres Gesprächs die Lage schilderte. Die Notwendigkeit oder zumindest Unvermeidbarkeit der Abdankung Nikolaus‘ wurde von Rodzjanko offen angesprochen. Natürlich! Jetzt hat sogar Miljukov ihre Notwendigkeit anerkannt“, sagte einer der Führer des Sowjets, N. Suchanov.[14] „Der Hass gegen die Monarchie hat seine äußeren Grenzen erreicht“, teilte Rodzjanko Ruzskij mit. „Drohende Rufe nach Abdankung werden laut.“[15] Im Falle eines Thronverzichts, so Rodzjanko, werde es „unserer ruhmreichen Armee an nichts fehlen. Nichts wird den Zugverkehr behindern.“[16] Den Duma-Führern schien es, als könnten private Zugeständnisse die arbeitenden Massen unter Kontrolle bringen. Aber wie die folgenden Ereignisse zeigten, kontrollierten die Massen die Führer nicht weniger als die Führer die Massen.
Rodzjanko beruhigte Ruzskij, indem er ihm mitteilte, dass „die Regierungsgewalt vorerst auf das Provisorische Dumakomitee übergegangen ist“.[17] Das stimme, wenn auch nicht ganz (Ruzskij ahnte nicht, wie stark der Einfluss des Sowjets war), und beeindruckte Ruzskij so sehr, dass er beschloss, Nikolaus zum Thronverzicht zu bewegen. Zu diesem Zeitpunkt stand Nikolaus de facto unter Hausarrest. Nachdem sich die Oberbefehlshaber der Truppen mehrheitlich für den Thronverzicht ausgesprochen hatten, willigte Nikolaus ein.
Am 2. (15.) März sollte eine Delegation des Provisorischen Dumakomitees unter der Leitung von Rodzajnko den Zaren aufsuchen. Ein Mitglied dieser Delegation, der rechtskonservative Abgeordnete V. Šul'gin, hatte den Entwurf einer Abdankungsurkunde zugunsten des Zarensohnes Aleksej (unter der Regentschaft des Zarenbruders Michail) vorbereitet. Die Führer des Rates erklärten, dass sie der Delegation nur dann eine Lokomotive zur Verfügung stellen würden, wenn aus dem Entwurf der Hinweis auf die Machtübergabe an Aleksej gestrichen würde. Die Vertreter der Duma waren jedoch der Meinung, dass der Zar selbst entscheiden müsse, an wen er die Macht übertrage. So wurde eine geheime Delegation unter der Leitung von V. Šul'gin und A. Gučkov mit dem ursprünglichen Entwurf zu ihm geschickt. Zu diesem Zeitpunkt verfügte Nikolaus jedoch bereits über einen Entwurf des Diplomaten N. Brazili.
Am 2. (15.) März 1917 unterzeichnete der Zar das Telegramm über den Thronverzicht zunächst zugunsten seines Sohnes Aleksej, dann zugunsten seines Bruders Michail, wobei die zweite Variante wurde in den Text der Abdankungsurkunde aufgenommen wurde. Nach dem damals gültigen Thronfolgegesetz von 1796 war Nikolaus II. nicht berechtigt, im Namen seines Sohnes auf den Thron zu verzichten. Und Aleksej konnte dies erst tun, wenn er volljährig war. Der ganze Thronverzicht war also rechtlich fragwürdig. Der letzte Zar war sich dessen offensichtlich bewusst. Die Hofdame A Vyrubova erinnerte sich an seine Worte: „Man hat mich zu diesem Entschluss gezwungen, über mir hängt ein Fallbeil, das kann ich jederzeit beweisen, wenn man mich danach fragt.“[18] Und P. Miljukov meinte: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nikolaus II. in dieser Sache ein falsches Spiel getrieben hat [...] Die schweren Tage würden vergehen, danach werde sich alles legen, und dann werde man das gegebene Versprechen zurücknehmen können."[19]
Das Manifest wurde am 2. (15.) März um 23 Uhr 40 Minuten im Salonwagen des Zaren in Anwesenheit des Generals Ruzskij, Gučkovs, Šul'gins, des Ministers des Kaiserlichen Hofes V. Frederiks und des Leiters der Feldkanzlei General K. Naryškin unterzeichnet. Unter dem Manifest wurde die Uhrzeit 3 Uhr tags gesetzt. Im Abdankungsmanifest hieß es: „In diesen entscheidenden Tagen im Leben Russlands haben Wir es für eine Gewissenspflicht gehalten, Unserem Volke eine enge Einheit und die Sammlung aller Kräfte des Volkes für die schnelle Erringung des Sieges zu ermöglichen, und im Einvernehmen mit der Staatsduma haben Wir es für eine gute Sache erkannt, auf den Thron des Staates Russland zu verzichten und die Oberste Macht abzugeben.“ Wie wir sehen, nannte der Zar als Motiv für den Thronverzicht die Aufrechterhaltung der nationalen Eintracht im Angesicht des Feindes.
Die Rhetorik des Manifests bezaubert die Forscher bisweilen so sehr, dass sie bereit sind, dem Zaren eine gewisse Willensfreiheit bei der Entscheidung für oder gegen die Abdankung zuzugestehen. So behauptet Pipes: „Alles deutet darauf hin, dass Nikolaus aus patriotischen Motiven abdankte; aus dem Wunsch heraus, Russland eine demütigende Niederlage zu ersparen und seine Streitkräfte vor dem Zerfall zu retten. [...] Wäre es Nikolaus vor allem darum gegangen, den Thron für sich zu retten, dann hätte er unverzüglich einen Separatfrieden mit Deutschland geschlossen und die Aufstände in Petrograd und Moskau mit Hilfe der Frontruppen niedergeschlagen."[20] Die Meinung des amerikanischen Historikers steht in krassem Widerspruch zu den Tatsachen, die für die Atmosphäre der ersten Märztage kennzeichnen. Nach dem Scheitern der Ivanov-Expedition standen dem Zaren keine Generäle mehr zur Verfügung, die bereit gewesen wären, den Aufstand niederzuschlagen, und gerade die Generäle waren zu der Überzeugung gelangt, dass ohne die Beseitigung Nikolaus' der Sieg nicht zu erringen sei. Zum Zeitpunkt des Thronverzichts hatte der Zar seine Macht de facto bereits verloren. Wie noch zu zeigen sein wird, teilte Nikolaus Pipes' Illusionen über die edlen Motive und die Freiwilligkeit des Thronverzichts nicht.
Nikolaus erklärte seinen Thronverzicht zugunsten Michails damit, dass er nicht bereit sei, sich „von Unserem geliebten Sohne“ zu trennen. Nikolaus wies Michail an, „in voller Übereinstimmung mit den Volksvertretern in den gesetzgebenden Körperschaften“, also als ein konstitutioneller Monarch zu regieren. Der lange Kampf um eine dem Parlament verantwortliche Regierung war erfolgreich - aber nur für einen historischen Augenblick, denn die Situation hatte diesen Sieg bereits bedeutungslos gemacht.
Nach dem Thronverzicht bestätigte Nikolaus II. den von den Kadetten vorgeschlagenen Führer der Zemstvo-Bewegung, Fürst G. L'vov, nachträglich in seinem Amt als Ministerpräsident. Der Zar und seine Familie wurden darauf verhaftet. Am 3. (16.) März 1917 verzichtete der liberal gesinnte Großfürst Michail auf den Thron und machte die endgültige Lösung der Frage von der Entscheidung des künftigen Parlaments abhängig. Die Geschichte des Russischen Reiches endete, obwohl die Republik formell erst am 1. (14.) September ausgerufen wurde.
- ↑ Ol'denburg, S., Carstvovanie Imperatora Nikolaja II, Moskau 1992, S. 621.
- ↑ Ferro, M., Nikolaus II., der letzte Zar, München 1993. S. 221.
- ↑ Šul'gin, V., Dni. 1920, Moskau 1990, S. 173.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 622.
- ↑ Miljukov, P., Vospominanija, Moskau 1991, S. 452.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 630.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 627.
- ↑ Ferro, M., Nikolaus II., der letzte Zar, München 1993, S. 284-285.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 627.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 621.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 632.
- ↑ Ferro, M., Nikolaus II., der letzte Zar, München 1993, S. 284-285.
- ↑ Pipes, R., Die Russische Revolution, 3 Bde, München 1992/93, Bd. 1, S. 533.
- ↑ Suchanov, N. N. Zapiski o revoljucii. M. 1991. T. 1 S. 152
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 632-633.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 633.
- ↑ Ol'denburg, Carstvovanie Imperatora, S. 629.
- ↑ Ferro, Nikolaus II., S. 293.
- ↑ Miljukov, Vospominanija, S. 467.
- ↑ Pipes, Russische Revolution, Bd. 1, S. 537.
Die Abdankungsurkunde des Zaren Nikolaus II., 2. (15.) März 1917[ ]
Hauptquartier
An den Chef des Stabes.
In den Tagen des großen Kampfes gegen den äußeren Feind, der sich seit drei Jahren bemüht, unser Vaterland zu unterjochen, hat Gott Rußland eine neue schwere Prüfung gesandt. Die im Inneren ausgebrochenen Unruhen drohen verhängnisvolle Rückwirkungen auf den endgültigen Ausgang des erbarmungslosen Krieges zu nehmen. Das Schicksal Rußlands, die Ehre unserer heldenmütigen Armee, das Wohl des Volkes und die ganze Zukunft unseres teuren Vaterlandes fordern, daß der Krieg um jeden Preis bis zum siegreichen Ende weitergeführt wird. Der grausame Feind unternimmt seine letzten Anstrengungen, und der Augenblick ist nicht mehr fern, da unser ruhmreiches Heer gemeinsam mit unseren glorreichen Verbündeten den Feind endgültig zu Boden werfen wird. In diesen für das Leben Rußlands entscheidenden Tagen hielten WIR es für Unsere Gewissenspflicht, UNSEREM Volk den engsten Zusammenschluß und die Organisierung aller seiner Kräfte erleichtern zu sollen, damit ein schneller Sieg verwirklicht werden kann. Deshalb haben WIR im Einvernehmen mit der Staatsduma für gut befunden, der Krone des Russischen Reiches zu entsagen und die oberste Gewalt niederzulegen. Da WIR uns nicht von UNSEREM geliebten Sohne trennen wollen, übertragen WIR die Erbfolge auf UNSEREN Bruder, den Großfürsten MICHAIL ALEKSANDROVIČ, dem WIR bei der Besteigung des Thrones des Russischen Reiches UNSEREN Segen erteilen. WIR geben UNSEREM Bruder den Befehl, in voller Übereinstimmung mit den Volksvertretern in den gesetzgebenden Körperschaften die Regierung zu führen auf den Grundlagen, die von ihnen festgesetzt werden, und auf sie einen unverletzlichen Eid zu leisten. Im Namen der heißgeliebten Heimat rufen WIR alle treuen Söhne des Vaterlandes auf, ihre heilige Pflicht gegenüber diesem zu erfüllen, dem Zaren in dem schweren Augenblick nationaler Prüfungen zu gehorchen und IHM gemeinsam mit den Volksvertretern zu helfen, das Russische Reich auf den Weg des Sieges, der Wohlfahrt und des Ruhmes zu fuhren. Möge Gott der Herr Rußland schützen!
Pskov.
2. März, 15 Uhr 5 Min. 1917
Nikolaus
Minister des Kaiserlichen Hofes
General-Adjutant Graf Frederiks
Rev. Übersetzung hier nach: Hellmann, M. (Hg.), Die Russische Revolution 1917, München 1964, S. 138.
Helmut Altrichter, Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst. 2. Aufl., Schöningh, Paderborn 2017.
Ėduard N. Burdžalov, Vtoraja russkaja revoljucija. Moskva, front, periferija [Die zweite russische Revolution. Moskau, die Front, die Peripherie]. Nauka, Moskva 1971.
Ėduard N. Burdžalov, Russia’s Second Revolution: The February 1917 Uprising in Petrograd (=Indiana-Michigan series in Russian and East European studies). Indiana Univ. Press, Bloomington 1987.
Marc Ferro, Nikolaus II. Der letzte Zar. Heyne, München 1993.
Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution, 1891 bis 1924. Berlin-Verlag, Berlin 1998.
Tsuyoshi Hasegawa, The February Revolution: Petrograd, 1917 (=Publications on Russia and Eastern Europe of the School of International Studies 9). Univ. of Washington Press, Seattle/London 1981, Online.
Pavel N. Miljukov, Vospominanija [Erinnerungen]. Politizdat, Moskva 1991, Online.
Sergej S. Ol’denburg, Carstvovanie Imperatora Nikolaja II [Die Herrschaft vom Zaren Nikolaus II.]. TERRA, Moskva 1992.
Richard Pipes, Die russische Revolution. Bd. 1: Der Zerfall des Zarenreiches. Rowohlt, Berlin 1992.
Nikolaj N. Suchanov, 1917: Tagebuch der russischen Revolution. Hrsg. von Nikolaus Ehlert. Piper, München 1967.
Aleksandr V. Šubin, Velikaja Rossijskaja revoljucija: ot fevralja k oktjabrju 1917 goda [Die Große Russländische Revolution: Von Februar bis Oktober 1917]. Rodina Media, Moskva 2014.