Gesellschaftlicher Auftrag an die XIX. Parteikonferenz der KPSS
Der „Gesellschaftliche Auftrag“, den unabhängige Organisationen aus Moskau zusammenstellten und der XIX. Parteikonferenz der KPSS als Forderungsprogramm vorlegten, war das erste Dokument der ideologisch unterschiedlichen Oppositionsgruppen der Perestrojka, die sich seit 1988 verstärkt auf Massenkundgebungen und Versammlungen in der sowjetischen Öffentlichkeit zu Wort meldeten und bald zu einem Faktor der „großen Politik“ wurden. Sie forderten nicht nur politische Amnestie und Bürgerrechte, sondern auch Maßnahmen zur Umwandlung der KPSS in eine Parlamentspartei, die Aufhebung des Artikels 6 der sowjetischen Verfassung, der die Führungsrolle der KPSS in der UdSSR festschrieb, die Aufteilung des KGB in mehrere Behörden, aber auch – den Sozialisten unter den Verfassern folgend – Kollektiveigentum an Produktionsmitteln und Selbstverwaltung der Wirtschaftsstrukturen. Als ideologische Plattform der breiten informellen Bewegung versuchte der „Gesellschaftliche Auftrag“, deren Ziele in der sowjetischen Bevölkerung zu verbreiten, die Aktivitäten der einzelnen Gruppen im Rahmen einer „Volksfront“ zu bündeln und nicht zuletzt – drittens – im Sinne einer Radikalisierung der Reformen politischen Druck auf die sowjetische Führung auszuüben. M. Gorbačev kam dem „Gesellschaftlichen Auftrag“ nicht entgegen. Für diejenigen, die an seiner Ausarbeitung beteiligt waren, war es jedoch eine der ersten Erfahrungen mit politischen Demokratie, auf die sie später bei der Bildung des Wahlblocks „Demokratisches Russland“, der politischen Parteien und der Ausarbeitung anderer Programme der demokratischen Bewegung der 1990er Jahre zurückgreifen konnten.
Im Mai-Juni 1988 lösten oppositionelle Organisationen, die so genannten „informellen Bewegungen“, eine neue Welle von Massenkundgebungen in der UdSSR aus. Sie dienten dazu, die Bevölkerung auf ihre Ideen aufmerksam zu machen und Druck auf die XIX. Parteikonferenz der KPSS auszuüben. Zum ersten Mal seit den 1920er Jahren fanden in Moskau, Leningrad und anderen Städten Kundgebungen mit mehreren tausend Teilnehmern statt, auf denen die Oppositionellen ein breites Spektrum von anarchistischen über sozialdemokratische bis hin zu liberalen Ideen öffentlich darlegten. Die Mitgliederzahlen der Organisationen der „Informellen“ wuchsen schnell. Im Zentrum Moskaus organisierten die „Informellen“ einen „Guidepark“, in dem soziale und politische Probleme diskutiert wurden. Noch vor kurzem vom Politbüro des CK der KPSS als potentielle Gefahr oder nur als Laborversuch wahrgenommen, wurden die oppositionellen Gruppen nun zu einem Faktor der „großen Politik“.
Trotz ihrer Autonomiestrebungen waren die „Informellen“ Teil eines großen Systems: „[Sie] handelten nach dem Prinzip ‚Reformen von oben auf Druck von unten‘. Aber gab es unter diesen Bedingungen eine andere Taktik, die erfolgreicher gewesen wäre? In den Jahren 1990/1991 war dieser Ansatz durchaus gerechtfertigt, weil noch nicht absehbar war, dass die Elite zur Liberalisierung übergehen würde“, meint B. Kagarlickij.
Es schien, dass der Druck auf die Machthaber zu Erfolgen führen könnte, wenn die relativ schwachen Kräfte der informellen Gruppen gebündelt würden. Deshalb begann parallel zur Versammlungskampagne die Zusammenführung der Oppositionsbewegungen verschiedener Richtungen zu einer breiten volksdemokratischen Bewegung.
Auf Initiative des Direktors des Instituts für Kulturforschung V. Čurbanov, der als Vertreter von A. Jakovlev, dem Führer der „Liberalen“ in der KPSS, agierte, wurde beschlossen, eine Konferenz der „Informellen“ einzuberufen, um deren Position zu klären. Für die Reformisten in der KPSS war dies eine Gelegenheit, die Lenkung der „Informellen“ zu organisieren, um ihr Potential für Reformzwecke zu nutzen. Die „Informellen“ hingegen erhofften sich davon eine gemeinsame Struktur, die die Organisierung einer landesweiten demokratischen Massenbewegung in der UdSSR ermöglichen sollte. Nach dem Vorbild westeuropäischer Länder in den 1930er Jahren und dem zeitgenössischen Estland wurde beschlossen, die linksdemokratische Organisation „Volksfront“ zu nennen. Die Parteiorganisationen unterstützten dieses Unterfangen tatkräftig, indem sie erstklassige Säle zur Verfügung stellten und den Zugang zur offiziellen Presse ermöglichten, was eine Bestätigung dafür war, dass die Konferenz von höchster Stelle sanktioniert wurde.
Anlass des Treffens war die Formulierung des Auftrags für die XIX. Parteikonferenz der KPSS. Er sollte von allen „konstruktiven“ „informellen Gruppen“ (mit Ausnahme der gegenüber den Kommunisten unversöhnlichen Demokratischen Union und der antisemitischen „Pamjat‘“ [„Gedächtnis“]) gemeinsam erarbeitet werden und, falls die herrschende Partei sich weigern sollte, ihn anzunehmen (was zu erwarten war), zum Programm der demokratischen Bewegung werden.
Am 5. Juni 1988 wurde das Forum der demokratischen Öffentlichkeit im Jugendpalast eröffnet. Nachdem die „Informellen“ über die Erfolge ihrer Bewegungen berichtet hatten, stritten sie darüber, was die Volkfront sein sollte – eine allgemeine demokratische oder eine sozialistische Organisation. Davon hing auch der Inhalt ihres Programms ab. Die kontroversen Positionen spiegelten die komplexen Gegensätze zwischen den Oppositionsgruppen wider. Auf der einen Seite standen die Gruppen, die die Versammlungskampagne in Moskau begonnen hatten – die liberale Gruppe Graždanskoe dostoinstvo („Bürgerwürde“) und die sozialistische Obščina („Gemeinde“). Sie setzten sich für eine allgemeine demokratische Volksfront ein, an der sich Menschen unterschiedlicher demokratischer Überzeugungen beteiligen konnten. Die Interessen der Sozialisten sollten dabei von einer seit 1987 bestehenden, landesweit agierenden Föderation der Sozialistischen Gesellschaftsklubs (FSOK) vertreten werden. Sie musste um Einfluss in der Volksfront kämpfen. Innerhalb der FSOK konkurrierte die Obščina, die eine nichtmarxistische sozialistische Volkstümlerideologie vertrat, mit der sozialistischen Gruppe „Sozialistische Initiative“ unter B. Kagarlickij.
In dieser Zeit kam es auch zu einem massiven Zustrom neuer Aktivisten in die informelle Bewegung, die erst vor kurzem mit dem unabhängigen gesellschaftlichen Denken in Berührung gekommen waren und weiterhin nicht nur marxistische, sondern marxistisch-leninistische Ansichten vertraten. In der FSOK hatten die Anhänger der Obščina einen größeren Einfluss, während in den neuen Gruppen die Marxisten-Leninisten stärker waren, deren Führer die „Sozialistische Initiative“ wurde. Um endgültig Oberhand zu gewinnen, beschlossen die Marxisten, die Liberalen loszuwerden und erklärten die Volksfront zu einer rein sozialistischen Organisation mit strenger Disziplin. Bevor man sich den Beschlüssen der führenden Organe der demokratischen Bewegung beugte, war es wichtig zu bestimmen, wie sie zustande kommen sollten. Die Kämpfe um die Organisation überlagerten sich daher mit den ideologischen Auseinandersetzungen. Am 5. Juni wurden Pläne für ein Bündnis der „Informellen“ mit den „liberalen Kommunisten“ ausgearbeitet.
Die Teilnehmer des Forums gingen auseinander. Sie sollten sich am 12. Juni wieder treffen, um den „Gesellschaftlichen Auftrag“ zu diskutieren, der auf der Grundlage der Reden der Delegierten ausgearbeitet wurde. Für seine Ausformulierung wurde eine Redaktionskommission gebildet, die gleichzeitig zur Initiativgruppe und später zum Organisationskomitee für die Gründung der Moskauer Volksfront (OK MNF) wurde. Ihre gehörten Mitglieder von Obščina, „Sozialistische Initiative“, Graždanskoe dostoinstvo, Memorial, Perestrojka-88, Demokratische Perestroika und Klub der sozialen Initiativen an. Alle diese Gruppen waren in der gesellschaftlichen Bewegung bereits gut bekannt. Dann wurde das Organisationskomitee um Vertreter aller Gruppen der Moskauer Organisation der FSOK und um neue Gruppen, die sich während der Massenkundgebungen gebildet hatten, erweitert. Jede Organisation verfügte über eine Stimme. Der tatsächliche Einfluss und die Mitgliederzahl der Gruppen waren jedoch unterschiedlich. Es wurden auch Gruppen von 2-3 Personen gebildet, die aber nur auf dem Papier existierten, so dass die eine oder andere Fraktion eine zusätzliche Stimme im Organisationskomitee erhielt.
Am 12. Juni trafen sich die Teilnehmer im Kulturhaus der Energiewirtschaft zur Abschlusssitzung des Forums, das den „Gesellschaftlichen Auftrag“ erarbeiten sollte. Trotz zahlreicher ideologischer Differenzen zwischen den Anwesenden im Saal kam es am 12. Juni nicht zu erbitterten Auseinandersetzungen. Auch wenn die Redner der Redaktionskommission in emotionalem Ton das Fehlen des einen oder anderen zuvor angesprochenen Punktes beklagten, hatte die Diskussion einen konstruktiven Charakter: Die Redaktionskommission nahm fast alle Vorschläge in den Text auf. Ein Teil davon empfahl Maßnahmen zur Umwandlung der KPSS in eine parlamentarische Partei, ein anderer Teil stellte eine Sammlung demokratischer und menschenrechtlicher Forderungen dar, die mit der einen oder anderen Modifikation in den Programmen der vordemokratischen Bewegungen und Parteien vor 1991 zu finden waren. Hier fanden sich Forderungen nach Aufhebung des Verfassungsartikels über die Führungsrolle der KPSS, nach Aufteilung des KGB in mehrere Behörden, nach politischer Amnestie oder nach einem umfassenden Katalog von Bürgerrechten. Gleichzeitig vertrat das Dokument ein sozialistisches Wirtschaftsprogramm, das die Obščina vorschlug –Kollektiveigentum an Produktionsmitteln, Selbstverwaltung und Wirtschaftsregulierung auf „Delegationsbasis“ (d.h. Zusammensetzung der übergeordneten Organe durch Delegierte der untergeordneten Organe).
Der Auftrag endete mit Slogans, mit denen sich die meisten Initiatoren der Volksfront identifizieren konnten und die für alle verständlich waren (auch wenn sie jeder auf seine Weise interpretierte):
Es lebe der demokratische Sozialismus!
Es lebe die Einheit aller progressiven Kräfte der kommunistischen Partei und der breiten demokratischen Bewegung!
Es lebe die sozialistische Perestroika!
Der Text des Auftrags war durch die Eile und die zahlreichen Abstimmungen gekennzeichnet. Denn die Arbeit musste sofort und in diesem Saal abgeschlossen werden, später waren keine Änderungen mehr möglich. Das Programm, über das abgestimmt worden war, konnte nur von einer neuen Konferenz revidiert werden. So wurde der Text im Samizdat mit zahlreichen Druckfehlern und stilistischen Ungenauigkeiten veröffentlicht. Dennoch nahmen die Forderungen der „Informellen“ zu einem sehr breiten Spektrum von Problemen Stellung und waren durchaus verständlich. Außerdem verabschiedete die Konferenz die in abstrakt-demokratischem Stil formulierten „Organisationsprinzipien und Hauptziele der Volksfront“.
Auf den Versammlungen wurde für die Volksfront als Perspektive einer demokratischen Massenbewegung geworben. De facto war eine Einheitsfront der informellen politischen Organisationen des Landes entstanden (mit Ausnahme der Demokratischen Union und der Pamjat‘). Sie war jedoch von Anfang an von Meinungsverschiedenheiten zerrissen.
Nach der Konferenz spitzten sich die Gegensätze im Organisationskomitee des MNF entlang zweier Linien zu. Auf der einen Seite standen sich die Befürworter eines engen sozialistischen Charakters des MNF und die Befürworter eines allgemeinen demokratischen Charakters gegenüber (unter letzteren gab es sowohl Anhänger einer liberalen als auch einer sozialistischen Ausrichtung). Auf der anderen Seite standen sich die Befürworter einer weitgehenden Klubautonomie und die Verfechter der Allgemeingültigkeit der Komiteeentscheidungen für alle im MNF zusammengeschlossenen Gruppen gegenüber. Hinter der marxistischen „Mehrheit“ und der liberal-sozialistischen „Minderheit“ standen etwa gleich viele Aktivisten. Die Marxisten verfügten jedoch über mehr Stimmen, da sie die neuen Gruppen kontrollierten.
Die alten Gruppen (Obščina, Graždanskoe dostoinstvo; Memorial u.a.), die über Erfahrungen in der Organisation von Straßenaktionen verfügten, waren mehrheitlich der Meinung, dass die „Neuankömmlinge“ nicht das Recht hätten, ihre Überzeugungen allen anderen aufzuzwingen. Die Marxisten hofften, dass der Zustrom neuer Menschen die Überlegenheit marxistischer Ideen in der demokratischen Bewegung sichern würde. Aber ihre Rechnung ging nicht auf: Unter dem Einfluss der liberalen Presse änderte sich die Massenstimmung, und ideologisch unerfahrene Menschen vertrauten bekannten Kommunisten mit sozialdemokratischen Überzeugungen. Schon 1989/1990 wechselten sie zu liberalen Positionen und zogen die unorganisierten populistischen Massen mit sich. Dadurch verloren die Sozialisten die Zeit, die sie für den Aufbau einer wirklich einflussreichen sozialistischen Partei hätten nutzen müssen, und lösten sich in der demokratischen Bewegung auf.
Die Beziehungen zwischen den Fraktionen verschlechterten sich, nachdem die Behörden am 18. Juni damit begonnen hatten, die Versammlungen aufzulösen. Unter diesen Umständen rief die „Mehrheit“ des OK MNF dazu auf, bei den Versammlungen mehr Loyalität gegenüber der KPSS zu zeigen, während die „Minderheit“ die Versammlungen mit der gleichen oppositionellen Ausrichtung an einem anderen Ort fortsetzen wollte. Beide Wege reduzierten sowohl den Einfluss der „Informellen“ als auch ihren Druck auf die Macht. Jede Fraktion gab der anderen die Schuld an der Niederlage. Die „Mehrheit“ beanspruchte für sich das Recht, im Namen der Volksfront und ihres Organisationskomitees aufzutreten, die „Minderheit“ versuchte zu beweisen, dass die Gründung der Volksfront als Massenbewegung eine Sache der Zukunft sei und dass die „Mehrheit“ kein legitimes Recht habe, im Namen der demokratischen Massenbewegung aufzutreten. Diese Auseinandersetzungen endeten am 3. Juli mit dem Austritt von Graždanskoe dostoinstvo, Obščina, Perestrojka-88, Memorial (am Vortag) und einer Reihe weiterer Gruppen aus dem Organisationskomitee. Infolgedessen kam die Vereinigung der demokratischen Kräfte nicht zustande, die Behörden unterdrückten die Versammlungen der Sozialisten und später der Demokratischen Union.
Die Ereignisse des Frühjahrs und Sommers 1988 waren erste Erfahrungen mit öffentlicher Politik auf der Grundlage der parlamentarischen Kultur und der Tradition der Selbstorganisation der Zivilgesellschaft. Im Jahr 1989 wiederholte sich die Situation in größerem Maßstab und mit einem vergleichbaren Teilnehmerkreis.
Die Spaltung der Volksfront war ein Zeichen für die Veränderungen in der Oppositionsbewegung. So wie 1986/1987 die „Informellen“ die Dissidenten als dominierende Kraft der Befreiungsbewegung ablösten (teilweise absorbierten sie die Dissidentenbewegung, teilweise lebten ihre Überreste parallel weiter), so löste 1989/1990 die populistische „demokratische“ Bewegung die „Informellen“ ab. Das OK MNF wurde lediglich zu einer der Oppositionsorganisationen. Die Spaltung der „Informellen“ 1988 gab keiner der Fraktionen die politische Führung. Die Konzeption der „Mehrheit“ war jedoch anfällig für Populismus (obwohl die Führer der „informellen“ „Bolschewiki“ nach dem Sieg des Populismus von der Spitze der demokratischen Bewegung verdrängt wurden), während die Konzeption der „Minderheit“ darauf bestand, die Traditionen der informellen Bewegung weiter zu pflegen.
Charakteristisch für die populistischen Demokraten war die Option der Zusammenarbeit und sogar der Unterordnung unter den Teil der herrschenden Elite, der die ideologischen Prinzipien der Demokratie teilte; sie bestanden oft in deren Negation, waren zunächst antibürokratisch, später antikommunistisch und antichauvinistisch. Der Übergang der Bewegung in ihre populistische Phase vollzog sich allmählich und wurde erst 1990 abgeschlossen, als sich die demokratischen Fraktionen im Unionsparlament und im russischen Parlament an die Spitze der Massenbewegung stellten. In der Folge verringerte sich die Abhängigkeit der Führung vom aktiven Teil der Demokraten, die Führung selbst gab die Ideologie des demokratischen Sozialismus auf und nahm Kurs auf den Übergang zu kapitalistischen Verhältnissen in der UdSSR. In der Folge verlagerten die „Informellen“ den Schwerpunkt ihrer Arbeit vom Kampf um die Macht auf den Aufbau zivilgesellschaftlicher Organisationen (u.a. in den Bereichen Gemeinwesen, Information, Ökologie).
Die Szene der informellen Organisationen von 1986-1989, in der die Teilnehmer „große Politik spielten“, ihre Energie im Kampf um Posten in den „Koordinierungsorganen“ vergeudeten und sich für jeden Punkt des politischen Programms mit einer Leidenschaft einsetzten, als ob sie an einem Gesetz von grundsätzlicher Bedeutung arbeiteten, war eine Art Modell für die demokratische Gesellschaft. Und das machte politisch Sinn, denn die „Informellen“ waren bald in der Lage, Massen auf die Straße zu bringen, ihre Presse- und Publikationsorgane verwandelten Glasnost' in Meinungsfreiheit. Aber auch die „innenpolitischen“ Leidenschaften der Politik, die die „Informellen“ „spielten“, waren von Bedeutung. Es war ein beispielloses „Training“, bei dem Hunderte von zukünftigen politischen Führern, Journalisten und gesellschaftlichen Aktivisten innerhalb weniger Jahre die politische Kultur von Gesellschaften mit großen politischen Traditionen erlernten. In diesem Sinne kann der „Gesellschaftliche Auftrag“ von 1988 als geistiger Vater vieler Plattformen der demokratischen Bewegung der 1990er Jahre angesehen werden.
Text und Übersetzung: CC BY-SA 4.0
GESELLSCHAFTLICHER AUFTRAG AN DIE PARTEIKONFERENZ
(angenommen beim Treffen der inoffiziellen Vereinigungen
der Stadt Moskau am 5. Juni 1988. – Palast der Jugend,
12. Juni 1988 – Kulturhaus der Mitarbeiter der Energiewirtschaft)
Die politische Situation, die im Vorfeld der Parteikonferenz entstanden ist, löst in der Öffentlichkeit große Besorgnis aus. Die Wahlen erfolgten nach dem traditionellen Verfahren, indem sich die Vertreter der Nomenklatura de facto selbst kooptierten. Ein präziser und wirklich demokratischer Wahlmechanismus, der sich von dem in der Zeit der „Stagnation“ unterschieden hätte, wurde nicht in Gang gesetzt. Im Parteiapparat herrschen nach wie vor bürokratische Tendenzen, wofür die positive Bewertung der stattgefundenen Wahlen durch die Plena der Gebiets- und Staatskomitees steht. Man kann nur hoffen, dass ein Wahlverfahren dieser Art für die Ergebnisse der Konferenz folgenlos bleibt. Es besteht die Gefahr von halbherzigen Lösungen, die sich negativ auf das Tempo der Perestrojka auswirken sowie zur Verschärfung der Lage im Land und letzten Endes zu einer tiefen politischen Krise mit ungewissem Ausgang führen werden. Deshalb schlagen wir folgendes vor:
1. Die Parteikonferenz hat den Weg für einen Außerordentlichen Parteitag zu bahnen, der Grundsatzbeschlüsse zu verabschieden hat.
2. Da die Frist von einem Monat für die Debatten über die Thesen deutlich kurz bemessen ist, sind die allgemeinen Aussprachen zu den Problemen der bevorstehenden Reformen bis zur Eröffnung des Parteitages fortzusetzen.
3. Die Delegierten des Parteitages sind nach politischen Plattformen zu wählen, die während dieser Debatten entstanden sind.
4. In der Presse ist eine vollständige Liste der Delegierten der Parteikonferenz mit der Angabe ihrer Ämter zu veröffentlichen.
5. Zum Parteitag sind Delegierte der Öffentlichkeit, darunter der gesellschaftlich-politischen Klubs einzuladen, wobei ihnen das Recht, einzuräumen ist, Reden zu halten.
6. Von der gesamten Parteikonferenz sollte nicht nur die Presse Bericht erstatten, sie sollte auch durch Rundfunk und Fernsehen direkt übertragen werden.
7. Unmittelbar nach der Parteikonferenz soll eine Strukturreform des Parteiapparats erfolgen.
Die Thesen, die das CK aufstellte, setzen auf Kompromiss und sind innerlich widersprüchlich: Eine revolutionäre Umgestaltung in der Sphäre der Politik wurde hier nicht angesprochen; genaue Mechanismen für die praktische Umsetzung der politischen und wirtschaftlichen Reformen wurden nicht vorgestellt; es fehlt eine ernsthafte Bestandsaufnahme zu den Triebkräften der Perestrojka und den Kräften des Widerstandes gegen sie sowie über ihr gegenwärtiges Kräfteverhältnis. Da seit der Veröffentlichung der Plattform der Anti-Perestrojka-Kräfte in der Zeitung „Sovetskaja Rossija“ zahlreiche Hinweise darauf vorliegen, dass die Reformen durch die Bürokratie sabotiert werden, erweckt der Aufruf, „die politische Konfrontation und die Spaltung der gesellschaftlichen Kräfte“ zu vermeiden, einen merkwürdigen Eindruck. Die Scheineinheit der politischen Kräfte ist schlimmer als ihre offene Spaltung. Für die Führung des Landes ist der Zeitpunkt gekommen, wo sie sich zu entscheiden hat, mit wem sie „in einem Boot sitzt“ – mit jenen, die die Perestrojka als soziale Revolution gegen das Erbe des Stalinismus und die totalitäre, bürokratische Macht der Nomenklatura, gegen die allgemeine Lüge und die soziale Stagnation unterstützten, oder mit jenen, die sie als „Schönheitsreparatur“ bzw. als technokratische Reform unter Bedingungen einer Krise der bürokratischen Selbstherrschaft auffassten. Die Parole von der „Einheit von Partei und Volk“ darf nicht zum Deckmantel für eine Solidarität mit dem Apparat werden.
Am dringendsten sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt die politischen Reformen. Es ist folgendes erforderlich:
1. Die Partei soll aus einer Organisation, die, gestützt auf eine entartete Kaste von „Partokraten“, „im Namen des Volkes“ herrscht, tatsächlich zu einer politischen Organisation werden. Zu diesem Zweck sind ihr alle Machtfunktionen zu entziehen und an die Sowjets sowie an die administrativen Organe des Staates zu übertragen, was seinen Niederschlag in einem Gesetz über die Partei finden muss. Artikel 6. der Verfassung ist einer entsprechenden Veränderung zu unterziehen. Die Partei hat ihre politische Linie nur über die Kommunisten durchzusetzen, die in den Machtorganen, Staatsinstitutionen und gesellschaftlichen Organisationen mitwirken.
2. Die Diskussionsfreiheit ist zu gewährleisten. Zu diesem Zweck sind Gruppenbildungen zu legalisieren, so dass die Aufstellung der Kandidaten nach politischen Plattformen erfolgen kann, die Schaffung von – im Parteistatut nicht vorgesehenen – parteiähnlichen Gruppierungen aus Anhängern der einen oder der anderen Plattform möglich wird, die Veranstaltung von Vollversammlungen durch sie sowie die systematische Propaganda ihrer Ansichten unter Kommunisten und Parteilosen zugelassen wird, und zwar sowohl auf Seiten der Parteipresse als auch in inoffiziellen Medien. Um diese Art von Tätigkeit zu ermöglichen, sind besondere Presseorgane zuzulassen. Der Minderheit ist das Recht einzuräumen, alle Beschlüsse auch nach ihrem Inkrafttreten zu kritisieren.
3. Die Herausgabe der Diskussionsbeilage zur „Pravda“ ist wiederaufzunehmen; darin sind Stellungnahmen von Kommunisten, Komsomolzen und Parteilosen zu veröffentlichen, einschließlich solcher, die dem Standpunkt des CK widersprechen.
4. Über das Einparteiensystem in der UdSSR sind allgemeine Volksaussprachen durchzuführen.
5. Auf die Idee, ein Organ zu schaffen, das KPK und CPK vereint, ist zu verzichten, denn die Erfahrung vom Ende der 1920er Jahre zeigt, dass aus einem unabhängigen Kontroll- und Repressionsorgan ein Instrument zur Bekämpfung der Andersdenkenden in der Partei werden kann.
6. Den Belegschaftsversammlungen ist das Recht einzuräumen, Mitglieder der örtlichen Parteiorganisationen in einem geheimen Abstimmungsverfahren aus der Partei abzuberufen, ohne dass sich an ihrer Dienststellung während der gesamten Geltungsdauer ihrer Amtsfunktionen etwas ändern würde.
7. Es soll zur üblichen Praxis werden, dass die Tagesordnungen der Plena des CK in den Basisorganisationen der Partei vorab zur Debatte gestellt werden.
8. Alle Plena des CK der KPSS und Sitzungen des Obersten Sowjets der UdSSR sind vom Fernsehen zu übertragen.
9. Die gesamte Macht ist auf die Sowjets zu übertragen. Das Wahlsystem ist einem radikalen Wandel zu unterziehen. Die Kandidaten für die Wahlen können von Arbeitskollektiven, gesellschaftlichen Organisationen oder Einwohnern eines Wahlbezirks aufgestellt werden; Selbstnominierung der Kandidaten ist zugelassen. Eine Person wird als Kandidat registriert, wenn sie die Unterstützung jenes Prozentsatzes von Wählern hat, der nicht unter dem festgelegten liegt.
10. Die Sowjetdeputierten sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Kollektivgewalt in der Praxis ausüben; zu diesem Zweck ist die Dauer der Sessionssitzungen der Sowjets grundsätzlich zu verlängern, während die Obersten Sowjets der UdSSR und der Unionsrepubliken, die die oberste Macht in der Gesellschaft verkörpern, ihre Tätigkeit in Permanenz wahrnehmen sollen. Die Sach- und Organisationskapazitäten, die die Sowjets dafür brauchen, sind sicherzustellen.
11. Es ist mit der Vorbereitung der Kampagne für die Neuwahlen zu den Sowjets aller Ebenen nach Plattformen und Programmen der einzelnen Kandidaten zu beginnen.
12. Ein Pressegesetz ist zu verabschieden, das jeder Person bzw. jeder Gruppe von Personen das Recht gewährt, Periodika oder andere Druckerzeugnisse als Einzelperson oder im Rahmen eines Genossenschaftsunternehmens herauszugeben. Das Gesetz soll den Zugang zur Vervielfältigungstechnik und Papierfonds erlauben. Die Vorzensur in der UdSSR wird verboten. Autoren und Redaktionen sind für den Verrat von Staatsgeheimnissen, die Propagierung von Gewalt, nationaler und rassischer Diskriminierung und der Völkerfeindschaft sowie für die Verletzung der Menschenwürde gerichtlich zu belangen.
13. Ein Gesetzesakt ist zu verabschieden, mit dem die Staatsinstitutionen, die für Masseninformation zuständig sind, verpflichtet werden, allen gesellschaftlichen Organisationen zu gestatten, ihre Positionen öffentlich darzulegen, zumindest während der Wahlkampagne und der allgemeinen Aussprachen über die Gesetzesentwürfe.
14. Ein Gesetz über die Glasnost' in den Staatsinstitutionen ist zu veröffentlichen.
15. Ein Gesetz über Versammlungen, Kundgebungen, Meetings und Umzüge ist zu verabschieden, das die Wahrnehmung dieser Rechte regelt und eine vollständige Liste jener Fälle enthält, in denen sie eingeschränkt werden.
16. Ein Gesetz über die gesellschaftlichen Organisationen ist zu verabschieden, in dem das Verfahren ihrer Registrierung und ihr Recht, Kandidaten für Wahlen aufzustellen, ein Presseorgan herauszugeben, sich in der Wirtschaft zu betätigen usw., geregelt sind.
17. Die Reform der gesamten Gesetzgebung ist zu beschleunigen, um die Rechtsgemeinschaft zu schaffen und den bestehenden Staat in einen Rechtsstaat umzubauen. Das Gesetz gilt für alle, d.h. sowohl für die Partei und die Machtorgane als auch für Einzelpersonen.
18. Vereinigungen in der Art von „Volksfronten“, die durch Kräfte gesellschaftlicher Vereine und Organisationen gebildet werden, sind zu unterstützen.
19. Um sichere Garantien für die Entwicklung der Demokratie im Land zu bieten, sind den Organen der Staatssicherheit politische und ideologische Funktionen zu entziehen, die das Gesetz überschreiten. Diese Organe sind der ständigen öffentlichen Kontrolle der Sowjets zu unterstellen (mit Ausnahme jener Fälle, die Staatsgeheimnisse betreffen). Die Perlustration der Privat- und Dienstpost sowie das Abhören von Telefongesprächen ohne vorausgehende Genehmigung durch die Staatsanwaltschaft sind zu verbieten. Bei der Vorbereitung des Gesetzes über die Organe der Staatssicherheit ist zu prüfen, ob es nicht sinnvoll wäre, den KGB in einzelne Dienstabteilungen mit entsprechenden Funktionen aufzulösen.
Im Obersten Sowjet sind ständige Sonderkommissionen zu gründen, die die Tätigkeit des Verteidigungs- und Innenministeriums sowie des KBG beaufsichtigen und lenken; sie haben regelmäßig öffentliche Rechenschaft über ihre Tätigkeit zu erstatten.
20. Ein Verfassungsgericht als von der Legislative und Exekutive unabhängiges System der Verfassungsaufsicht sowie das Amt eines Beauftragten für die Bürgerrechte und die Untersuchung von Beschwerden samt dazugehörenden gesellschaftliche Kommissionen sind einzurichten. Das Geschworenengericht ist einzuführen. Die Staatsanwälte sind direkt und geheim zu wählen. Die Funktionen der Rechtsaufsicht und der Staatsanklage sind zu trennen. Die Voruntersuchung ist aus dem Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft auszugliedern.
21. Den Bürgern ist das Recht zu gewähren, die Dienste eines Rechtsanwalts sofort nach der Eröffnung des Untersuchungsverfahrens in Anspruch zu nehmen.
22. Es ist das Recht jedes Bürgers sicherzustellen, sich auf Grund von rechtwidrigen Handlungen jeder Amtsperson und Institution sowie der Entscheidungen von Staats-, Administrativ- und Rechtschutzorganen, darunter solcher, die in Kollegien betroffen wurden, direkt und unter Umgehung der Staatsanwaltschaft an das Gericht zu wenden.
23. Die Revision der Strafgesetzgebung mit dem Ziel ihrer Humanisierung ist zu beschleunigen. Alle Rechtsnormen des Strafgesetzes, die die Verfolgung für politische Gesinnung vorsehen, sind unverzüglich aufzuheben; u.a. sind Art. 70 und Art. 190/Anm. des Strafgesetzbuches der RSFSR und vergleichbare Gesetzbuchartikel der Unionsrepubliken außer Kraft zu setzen. Alle Gerichtsurteile in politischen Fällen aus den 1920 bis 1980er Jahren sowie alle Urteile über Geistliche, die für die Ausübung des Gottesdienstes verurteilt wurden, sind einem Revisionsverfahren zu unterziehen. Alle politischen Gefangenen sind unverzüglich freizulassen.
24. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass die Einschränkungen der Freizügigkeit von Bürgern der UdSSR in und außerhalb des Landes sowie bei der Wahl ihres Wohnortes allmählich aufgehoben werden. Es sind Voraussetzungen für die endgültige Abschaffung des Passsystems zu schaffen.
25. Den sowjetischen Streitkräften ist zu untersagen, an Kampfhandlungen auf dem Territorium anderer Länder (mit Ausnahme der Länder des Warschauer Paktes) teilzunehmen sowie die Staatsgrenze der UdSSR ohne einen öffentlichen Sonderbefehl des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR zu überqueren. Die Truppenbewegung innerhalb der Länder des Warschauers Paktes hat in strenger Übereinstimmung mit den festgesetzten Regeln zu erfolgen. Den Streitkräften, die in den Ländern des Warschauers Paktes stationiert sind, ist zu untersagen, sich in die Politik des jeweiligen Landes einzumischen.
26. Der sowjetische Einmarsch in die ČSSR 1968 und in Afghanistan 1979 ist zu verurteilen.
27. Administrative Zwangsmaßnahmen zur Arbeitsaufnahme sind abzuschaffen. Die Umsetzung der sozialen Vorbeugungsmaßnahmen gegen sogenannte Müßiggänger und Personen ohne einen festen Wohnsitz sowie die gleichzeitige Abschaffung der gegen sie gerichteten strafrechtlichen Maßnahmen sind sicherzustellen.
28. Die örtlichen Machtorgane sind zu verpflichten, Bedingungen für eine tatsächlich ungehinderte Ausübung des Gottesdienstes zu schaffen, einschließlich der freien Überlassung von geeigneten Räumlichkeiten für die Gläubigen und Übergabe der erhaltenen Kultusgebäude an sie.
29. Es ist Schulunterricht nach alternativen Stundenplänen vorzusehen. Die Schulgründungen auf genossenschaftlicher Grundlage sind als zweckmäßig zu erachten.
30. Im Bildungssystem ist der Übergang zur Selbstverwaltung und zu zukunftsträchtigen Unterrichtsmethoden zu beschleunigen. Auf Beschluss des Lehrerrats der Schule ist die Verwendung von alternativen Lehrbüchern und die Modifizierung der Lehrpläne zuzulassen, wobei ein Mindestmaß an Pflichtwissen in jedem Fach zu sichern ist. Der Unterrichtsinhalt in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern ist entsprechend der geschichtlichen Wahrheit zu verändern. Bei den Schülern ist das freie Denken, das individuelle Verantwortungsbewusstsein, Unabhängigkeit und Menschenwürde zu entwickeln.
31. Radikale Neuerungen sind im System der Hochschulbildung notwendig; zu diesem Zweck sind den Hochschulen Autonomie und Recht auf selbstständige Beschlussfassung in Fragen ihrer professionellen Tätigkeit, die ihr Verhältnis zu ihren Leistungsabnehmern und dem Staat betreffen, zu gewähren. Es ist notwendig, die studentische Selbstverwaltung und die Autonomie der Studentenschaft innerhalb der Hochschulen zu erweitern.
32. Die Möglichkeit eines alternativen Zivildienstes der Wehrpflichtigen ist durch das Gesetz vorzusehen.
33. Die gesamte Gesetzgebung der UdSSR ist mit der Verfassung und den Normen des internationalen Rechts in Übereinstimmung zu bringen, insbesondere mit dem Internationalen Abkommen über die Menschen- und Bürgerrechte, das die UdSSR Sowjetunion 1973 ratifizierte.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Fristen für die Verabschiedung der Gesetze, die die grundlegenden Bürgerrechte betreffen (nach Plänen der gesetzgebenden Institutionen waren die Presse, Informations- und Glasnost'-Gesetze bis Ende 1986 vorzubereiten), nicht eingehalten wurden, ist es notwendig, eine außerordentliche, provisorische Ordnung zu verabschieden, die Presseorgane der inoffiziellen gesellschaftlichen Organisationen mit Massenauflage sowie ihr Abonnement und ihren Vertrieb über die Einrichtungen der Unionspresse (Sojuzpečat') vorsieht.
STATT PROVISORISCHER VERSAMMLUNGS- UND DEMONSTRATIONSORDNUNG – PROVISORISCHE PRESSEORDNUNG
34. In Anbetracht des multinationalen Charakters unseres Landes ist die Entwicklung des Föderalismus als erstrangige Aufgabe zu betrachten. Die politische Autonomie der republikanischen Leitungsorgane gegenüber dem Zentrum sowie die Unabhängigkeit ihrer Entscheidungen in wirtschaftlichen Fragen sind zu erweitern. Die RSFSR und die anderen Unionsrepubliken sind in der Praxis gleichzustellen, wobei Verzerrungen in der einen wie in der anderen Richtung zu beseitigen sind. Die Eigenwirtschaftlichkeit der Regionen ist allseitig zu entwickeln, wobei gleichzeitig öffentlich und unter streng festgelegten Bedingungen Hilfe an rückständige Regionen geleistet werden soll. Den nationalen Minderheiten in den Unionsrepubliken ist die national-kulturelle Autonomie, einschließlich des Rechts auf Bildung in der Muttersprache, zu gewähren. Um faire und rechtzeitige Lösungen in Fragen der zwischennationalen Beziehungen herbeizuführen, sind Sonderorgane bei den Sowjets zu schaffen; zum gleichen Zweck ist in Betrieben und Organisationen, wo es sinnvoll ist, die Bildung nationaler Sowjets der Werktätigen zu fördern.
35. Der Eintrag über die „Nationalität“ im Pass und in Fragebögen ist abzuschaffen.
36. Die Rolle der Gewerkschaften als besondere Schutz- und Vertretungsorgane der Werktätigen ist wiederherzustellen; zu diesem Zweck muss das bestehende System der Gewerkschaftsorganisationen radikal verändert werden: Neben Gewerkschaftsvereinigungen einzelner Branchen sind branchenübergreifende Gewerkschaften, Gewerkschaften einzelner Territorien und spezielle Berufsgewerkschaften vorzusehen. Die Gründung von Parallelgewerkschaften in einem Betrieb ist zuzulassen. Das aktive Recht der Gewerkschaften, die historischen Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu schützen und sich aus eigener Initiative zu erweitern, ist sicherzustellen.
37. In einzelnen Gesetzesartikeln sind konkrete Sanktionen gegen die Verletzung der Arbeitsgesetzgebung sowohl auf Seiten der Amtspersonen, als auch auf Seiten der Gewerkschaftsführer festzulegen.
38. Das System der Sozialgarantien und der Sozialfürsorge für die Werktätigen ist zu erweitern. In der nächsten Zeit ist das Niveau der Rentenversorgung, das im Vergleich zum Durchschnittslohn ungerecht niedrig ist, zu erhöhen und ein neues Rentengesetz zu verabschieden, das für den Fall eines Preisanstiegs den Rentenausgleich vorsieht. Es ist ein Gesetz zu verabschieden, demgemäß die Vollbeschäftigung der Bevölkerung zu unterstützen ist und der Staat sich verpflichtet, die Umschulung von Arbeitskräften sicherzustellen, die bei der Rationalisierung des Betriebes oder dem Personalabbau in den Behörden freigesetzt wurden, und der eine finanzielle Unterstützung für die Zeit bis zur neuen Arbeitsaufnahme in ausreichender Höhe vorsieht. Gleichzeitig mit der Entwicklung der bezahlten Versorgung im Krankheitsfall, sind die Investitionen in kostenlose medizinische Leistungen zu erhöhen.
39. Alle Privilegien der Nomenklatura, solche wie Sonderverteilstellen, geschlossene Kantinen (sogenannte „Kantinen für Heilernährung“), Dienstwägen usw. sind abzuschaffen.
40. Das System der Nomenklatura bei der Kaderauswahl ist zu beseitigen.
41. KZOT und das Belegschaftsgesetz sind vollständig aufeinander abzustimmen. Die Herausbildung einer echten Selbstverwaltung in den Betrieben ist als die wichtigste strategische Aufgabe bei der Reform der Produktionsverhältnisse im Sinne des demokratischen Sozialismus zu betrachten. Gegenwärtig sind nur die allerersten Schritte in diese Richtung getan. Das System der wirtschaftlichen Rechnungsführung soll sich allmählich sowohl innerhalb der Betriebe und Organisationen als auch in den Beziehungen zwischen den Betrieben und Ministerien durchsetzen. Es ist dafür zu sorgen, dass die STK zu Verfügungsberechtigen über die Grund- und Umlaufmittelfonds der Betriebe werden. Über die Einstellung der Leitungskader eines Betriebs hat die STK zu entscheiden. Es ist für zweckmäßig zu erachten, dass die Minister und ihre Stellvertreter vom STK der jeweiligen Wirtschaftsbranche gewählt werden. Den STK der einzelnen Wirtschaftsbranchen ist das Recht zu gewähren, über die Auflösung der Ministerien zu entscheiden.
42. Alternative Projekte der Wirtschaftsreform sind einem Volksreferendum zu unterbreiten.
43. Bei den Sowjets verschiedener Ebenen sind Organe zu schaffen, die für die Koordination der Wirtschaftstätigkeit der Betriebe zuständig sind, die einer bestimmten Wirtschaftsbranche angehören. Diese Organe müssen sich aus Vertretern der STK der Betriebe zusammensetzten, die der Koordination unterliegen.
Die Belegschaftssowjets werden aus Delegierten der Abteilungssowjets gebildet und verfügen über die Betriebsfonds.
Die Sowjets der Betriebsabteilungen sind aus Vertretern der Brigaden zu bestellen und haben über die Abteilungsfonds zu verfügen.
Es ist eine allmähliche Aufhebung des Staatsauftrages erforderlich.
44. Es ist als zweckmäßig zu erachten, den Grund und Boden der stets verlustbringenden Kolchosen und Sovchosen an die Landbevölkerung unbefristet zu verpachten.
45. Als wichtigste politische Aufgabe ist zu erachten, den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und folglich der Umwelt der Gesetzgebung und der Wirtschaft zur Pflicht zu machen. Alternativlösungen in Entscheidungsfällen, die mit Folgen für die Ökologie verbunden sind, sind zur Diskussion zu stellen. Die allgemeine Bildungspflicht in Ökologie ist einzuführen.
Es ist zur Diskussion zu stellen, ob der Fortbestand des Ministeriums für See- und Binnenschifffahrt zweckmäßig ist; alle Bauvorhaben, die kein Approbationsverfahren auf ökologische Verträglichkeit bestanden haben, sind vorübergehend einzustellen.
46. Eine Verbraucherschutzorganisation auf gesellschaftlich-staatlicher Grundlage ist zu gründen, die eigens auf die Qualität der Lebensmittel zu achten hat.
Die XIX. Parteikonferenz muss zu einer weiteren Stufe beim Übergang vom stalinschen System der bürokratischen Willkür zur Umsetzung der Ziele der sozialistischen Bewegung werden.
Es lebe der demokratische Sozialismus!
Es lebe die Einheit der progressiven Kräfte der Kommunistischen Partei und der breiten demokratischen Bewegung!
Es lebe die revolutionäre Perestrojka!
„Otkrytaja zona“, Nr. 7, August 1988. Sammlung von A. Šubin. (Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)
Otkrytaja zona, Nr. 7, August 1988. Aus der Sammlung A. Šubin.
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