Erklärung des Generalfeldmarschalls von Hindenburg vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Dolchstoßlegende)
Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, der Zusammenbruch der bestehenden Ordnung sowie die Bedingungen des Friedensvertrages von Versailles und die damit verbundene Schuldzuweisung für die Auslösung der Kriegskatastrophe waren eine schwere Hypothek für die erste deutsche Demokratie. Kein Wunder, dass man nach einer für alle sozialen Gruppen akzeptablen Erklärung für das Geschehene suchte. Das Erklärungsmuster, das bereits gegen Ende des Krieges entworfen worden war, erhielt mit der Erklärung von Generalfeldmarschall Hindenburg in der öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses am 18. November 1919 seinen quasi-offiziellen Segen. Der berühmte Feldherr des Ersten Weltkriegs sprach die deutschen Militärs von der Verantwortung für den Kriegsausbruch und von der Schmach der Niederlage frei, indem er behauptete, Politiker im Hinterland, Parteifunktionäre und Revolutionäre hätten der Armee einen verräterischen Dolchstoß in den Rücken versetzt und das deutsche Volk so um den verdienten Sieg gebracht. Die Dolchstoßlegende trug von 1919 bis 1933 zur Destabilisierung der politischen Lage in der Weimarer Republik bei und wurde von politischen Kräften unterschiedlicher Couleur erfolgreich als Kampfmittel gegen die neue Staatsform und ihre Vertreter eingesetzt.
Noch im Sommer 1918 bemühte sich die deutsche Propaganda, die Bevölkerung von einem baldigen Sieg der deutschen Waffen zu überzeugen: Für dessen Unvermeidlichkeit sprach der Friedensschluss von Brest-Litovsk, der den Krieg an der Ostfront beendete und Deutschland einen enormen Gebietszuwachs und Einflussbereich sicherte. An der Westfront bestand die deutsche Besatzung in Belgien und Frankreich fort – der Krieg tobte im Ausland, nicht auf deutschem Boden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Ereignisse vom November 1918 – der Thronverzicht des Kaisers, die Revolution und die Ausrufung einer neuen Staatsform, schließlich die Unterzeichnung des Waffenstillstands von Compiègne, mit dem die Niederlage im Krieg anerkannt wurde – sowohl für die Mehrheit der Soldaten an der Front als auch für die Bevölkerung im Hinterland völlig unerwartet kamen.
Der Deutschland aufgezwungene Friedensvertrag widersprach den Bedingungen des Waffenstillstands und den Erklärungen des US-Präsidenten über einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen. Deutschland verlor einen bedeutenden Teil seines Territoriums und alle Kolonien; zudem musste es sich zu Reparationszahlungen und einer umfassenden Demilitarisierung verpflichten. Darüber hinaus erklärte der Vertrag das Deutsche Reich zum Hauptschuldigen am Ausbruch der Weltkatastrophe. Nicht zuletzt die Kriegsniederlage und die Unterzeichnung des Versailler Vertrags durch die Regierung der Republik diskreditierten den ersten Versuch, in Deutschland eine Demokratie zu begründen, politisch und kulturell.
Sowohl der militärischen Elite des Reiches als auch den einfachen Deutschen fiel es schwer, die militärische Niederlage Deutschlands anzuerkennen. Die Gesellschaft versuchte, dem Geschehenen eine für sie akzeptable Deutung zu geben, um so die verlorene Einheit wiederherzustellen. Einen der ersten Versuche, der Katastrophe einen Sinn zu geben, unternahm der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert, der in seiner Begrüßungsrede an die heimkehrenden Soldaten erklärte, nicht der Feind habe Deutschland besiegt, sondern der Krieg sei aufgrund der Überlegenheit des Gegners an Truppen und materiellen Ressourcen verloren gegangen. Dieses Deutungsmuster, das die politische Führung der Republik anbot, schlug jedoch keine Wurzeln im öffentlichen Bewusstsein.
Der Vorwurf der Kriegsauslösung führte zur Einsetzung mehrerer parlamentarischer Untersuchungsausschüsse mit dem Ziel, Deutschland zu entlasten und im Gegenzug die Schuld der Alliierten nachzuweisen. Der zweite Untersuchungsausschuss stellte Nachforschungen über die Ursachen und Umstände an, die zur Ablehnung der Friedensangebote während des Krieges geführt hatten. Als Konsequenz aus der ersten Untersuchung wurden Vertreter der ehemaligen Regierung und der Obersten Heeresleitung, Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg, Vizekanzler Karl Helfferich, Generalfeldmarschall Hindenburg und General Erich Ludendorff, vor den Ausschuss zitiert. Bereits bei der Vernehmung Helfferichs kam es zu einem handfesten Skandal, als dieser ein Ausschussmitglied, einen Vertreter der USPD, beschuldigte, von der sowjetischen Regierung Bestechungsgelder für die Vorbereitung der Revolution in Deutschland erhalten zu haben. Die Ankunft von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg in Berlin, der sich während des Krieges den Ruhm des „Siegers von Tannenberg“ erworben hatte und gegen Kriegsende zu einer Art „Ersatzkaiser“ avanciert war, wurde mit Pomp begangen: Vor dem Sonderzug erschien eine Ehrengarde der Reichswehr, die den Feldmarschall während seines Aufenthalts in der Hauptstand schützte.
Am 18. November 1919, dem Tag seiner Rede, waren im überfüllten Sitzungssaal des Parlamentarischen Ausschusses auch Vertreter der deutschen und internationalen Presse. Der Platz, der für den Generalfeldmarschall bestimmt war, war mit einem Chrysanthemenstrauß mit schwarz-weiß-roter Schleife geschmückt. Der in Paradeuniform erschienene Hindenburg wurde stehend begrüßt.
In seiner Erklärung rechtfertigte der Generalfeldmarschall die Maßnahmen der Dritten Obersten Heeresleitung, indem er die Zuhörer darauf aufmerksam machte, dass er und Ludendorff erst zwei Jahre nach Kriegsbeginn ihre Ämter angetreten und eine faktisch aussichtslose Lage übernommen hätten, nachdem die Chancen, die der Schlieffen-Plan angeblich geboten hatte, endgültig vertan und die materielle Überlegenheit der Entente offenkundig geworden war.
Hindenburg griff in seiner Rede auf Stereotypen zurück, die in der deutschen Öffentlichkeit während des Krieges weit verbreitet waren, nationale Einheit stifteten und von den Zuhörern vermutlich als Wahrheitsaussagen verstanden werden konnten. So hatte die Erwähnung der zahlreichen Feinde die Zuhörer auf das Bild eines von einer „Welt von Feinden“ umgebenen Deutschlands verwiesen – ein Bild, das die Unvermeidlichkeit des Krieges und den Rückgriff der politischen und militärischen Führung des Landes auf präventive Maßnahmen rechtfertigte.
Hindenburg betonte insbesondere den neuen Charakter des vergangenen Krieges, zu dessen Merkmalen die beispiellose Vermehrung der Truppen, die entscheidende Rolle der Technik und die Abhängigkeit der staatlichen Kampfkraft von der Wirtschaftskraft gehörten. All dies waren Elemente der gegen Kriegsende und vor allem in der Zwischenkriegszeit verbreiteten Konzeption des „totalen Krieges“, zu deren Popularisierung General Ludendorff wesentlich beitrug. Insbesondere der neue Charakter des Krieges, so Hindenburg, habe die außerordentlichen Maßnahmen der Obersten Heeresleitung an der Front und im Hinterland gerechtfertigt.
Nicht zufällig berief sich Hindenburg auf General Carl von Clausewitz, den berühmten deutschen Militärtheoretiker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seine Abhandlung Vom Kriege wurde für die Offiziere des deutschen Generalstabs zu einer Art Bibel, an der sie die deutschen Militärdoktrin ausrichteten. Clausewitz‘ Einfluss ist zu verdanken, dass die deutsche Heeresleitung moralische Eigenschaften wie den Geist der Armee und das Militärgenie der Feldherren als entscheidende Faktoren ansah. Indem Hindenburg Clausewitz' berühmte Definition zitierte, der Krieg sei eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sprach er die militärische Elite des Kaiserreichs vom Vorwurf der Kriegsauslösung frei und belastete zugleich die zivilen Politiker. Die Oberste Heeresleitung, die, so der Feldmarschall, den Krieg nicht gewollt habe, sei zur Geisel der Fehlentscheidungen der politischen Führung des Reiches geworden und habe nur in der guten Absicht gehandelt, den Krieg in kürzester Zeit zu beenden und die Entwicklung des Landes in friedliche Bahnen zu lenken. Die angeblich „glänzenden Siege“, die er und Ludendorff an der Ostfront, vor allem in den Schlachten bei Tannenberg und an den Masurischen Seen, errungen hätten, seien der Beweis dafür, dass ein erfolgreicher Kriegsausgangs für Deutschland möglich gewesen sei.
Indem Hindenburg die deutschen Militärs von der Verantwortung für den Kriegsausbruch freisprach, befreite er auch den „guten Kern des Heeres“ und das Offizierskorps von der Schmach der Niederlage. Damit belastete er, wie es inzwischen Tradition geworden war, die Parteien, die die Einheit des Volkes untergruben, vor allem aber die Revolutionäre, die Flotte und Heer „planmäßig“ zersetzt hätten. Seine These vom verräterischen Dolchstoß in den Rücken der deutschen Armee untermauerte der Generalfeldmarschall mit der angeblichen Äußerung des englischen Generals Maurice, die ihm ein Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung noch im Dezember 1918 zugeschrieben hatte.
Am Ende seiner Rede versuchte Hindenburg, die Autorität seines Stabschefs und Mitinitiators der Kriegsmaßnahmen, General Ludendorff, wiederherzustellen, indem er sich für alle Entscheidungen der Dritten Obersten Heeresleitung gleichermaßen verantwortlich erklärte. Dieser taktische Schachzug entsprach voll und ganz dem Ehrenkodex eines preußischen Offiziers und dem Prinzip der Verantwortung des Vorgesetzten für die Handlungen seines Untergebenen.
Nach allgemeiner Einschätzung war es den Vertretern der militärischen Elite des Reichs mit der Erklärung Hindenburgs gelungen, den Vertretern der neuen republikanischen Staatsordnung eine schwere Niederlage zuzufügen. Zeitzeugen betonten das tiefe Misstrauen der Militärs gegenüber dem parlamentarischen Forum und die Unentschlossenheit der Ausschussmitglieder gegenüber der Autorität des Generalfeldmarschalls. Angesichts der positiven Aufnahme der Erklärung äußerten ausländische Journalisten Zweifel an der politischen Zweckmäßigkeit des Prozesses. Der Zweite Untersuchungsausschuss fristete fortan ein Schattendasein, seine Gutachten wurden in der Presse weitgehend verschwiegen.
Die eigentliche Dolchstoßthese war Gegenstand der Verhandlungen im Vierten Untersuchungsausschuss, der sich zum Ziel gesetzt hatte, das Ausmaß der sozialen und moralischen Erosionsprozesse im Hinterland, deren Einfluss auf Herr und Marine, und die demoralisierende Wirkung der Annexions- und Revolutionspropaganda auf den Kampfgeist der Truppen zu untersuchen. Die Ergebnisse der Untersuchung, die der militärischen Führung zahlreiche Fehlentscheidungen nachwies, wurden jedoch auch der breiten Öffentlichkeit vorenthalten.
Die Dolchstoßlegende, die der politischen Führung im Hinterland die Schuld an der Niederlage gab, passte gut in die politische und geistige Atmosphäre der Weimarer Republik. Sie bot die letzte Legitimation für soziale und politische Feindbilder, zu denen Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, linke Intellektuelle und Frauen erklärt wurden. Während der gesamten Zeit der Republik wurde der Mythos von konservativen Kreisen gnadenlos instrumentalisiert, um die Republik als Staatsform und ihre wenigen Anhänger zu diskreditieren. Vor allem die Frontsoldaten waren für diese Erklärung der Kriegsniederlage empfänglich, gab sie doch dem Kampf, der ihnen die Jugend geraubt hatte, einen Sinn.
Seit den 1950er Jahren haben Historiker, die sich mit der Novemberrevolution und der Weimarer Republik befassen, die Dolchstoßlegende aus der Sicht ihrer liberalen Kritiker bewertet. Sie bemühten sich, ihre Apologeten zu widerlegen und ihren negativen Einfluss auf die geistige Atmosphäre und die politische Lage in der ersten deutschen Demokratie nachzuweisen. In neueren Untersuchungen haben Historiker versucht, die äußerst komplexe Entstehungsgeschichte des Dolchstoß-Topos zu rekonstruieren. Sie zeigten, dass Deutungsmuster soldatischer Erfahrungen, die der Dolchstoßlegende verwandt waren, schon lange vor dem plötzlichen Kriegsende entstanden. Die Feldpost der Soldaten belegt die negative Abwehrreaktion der Armee in den Jahren 1917/1918 auf die Veränderung der innenpolitischen Lage. Bereits während des Aprilstreiks 1917 zeichneten sich Ansätze einer Konfrontation zwischen Front und Hinterland ab; die Dolchstoßrhetorik nahm zu dieser Zeit Gestalt an und artikulierte sich in der Bezeichnung der Bürger im Hinterland als Verräter. Im Januar 1918 bezeichnete die Frontpresse die Streikenden schließlich als „Brüdermörder“. Im Gegensatz zu einer späteren Version der Dolchstoßlegende wurde den Soldaten jedoch eingeschärft, dass ein Sieg Deutschlands auch dann möglich sei, wenn das Hinterland den Truppen die Unterstützung verweigere. Neuere Forschungen zeigen, wie sehr sich der Inhalt der Dolchstoßlegende im Zuge der Ereignisse der Novemberrevolution, in der instabilen Anfangsphase der Republik und in der Phase ihrer Stabilisierung wandelte und wie sie in der Zeit des Nationalsozialismus instrumentalisiert wurde. Darüber hinaus zeigt die Rezeption der Legende in unterschiedlichen gesellschaftlichen und ethischen Milieus, dass es zahlreiche „Dolchstöße“ gegeben hat.
Die Auseinandersetzungen um den „Dolchstoß“ trugen auch unabhängig von der Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse weiter zur Destabilisierung der politischen Lage in der Weimarer Republik bei. 1924 wurde der erste Reichspräsident Ebert wegen seiner Beteiligung an Streikaktionen im Januar 1918 vor Gericht gestellt und des Hochverrats angeklagt. Nicht zuletzt dieser Prozess führte zu seinem frühen Tod. 1925, also nur ein Jahr später, fand in München der „Dolchstoßprozess“ statt, der durch eine Privatklage des Herausgebers der Süddeutschen Monatshefte, P. Cossmann, gegen den Chefredakteur der sozialdemokratischen Münchener Post, М. Gruber, initiiert wurde. Während der Gerichtsverhandlungen bestätigte General Wilhelm Groener, dass die Oberste Heeresleitung und die MSPD-Führung im November 1918 in Eintracht gehandelt und sich um die Rettung des Staates bemüht hätten. Damit war die Legende vom verräterischen Dolchstoß der Sozialdemokratie juristisch entkräftet. Dies minderte jedoch nicht die Bedeutung dieses Mythologems als Waffe der Agitation gegen die Republik. Dies umso mehr, als im selben Jahr der Mann zum Präsidenten gewählt wurde, der ihr zum Leben verholfen hatte, nämlich Generalfeldmarschall von Hindenburg.
Die Dolchstoßlegende war auch für einige innenpolitische Maßnahmen des Dritten Reiches von Bedeutung. So hatte der Mythos von den Deserteuren und Selbstsüchtigen, die im November 1918 zusammen mit dem revolutionären Hinterland der Armee angeblich den Stoß in den Rücken versetzt hatten, die militärische Führung des nationalsozialistischen Deutschlands bereits 1934 zur Wiedereinführung des Militärtribunals veranlasst, um einer Wiederholung der Novemberereignisse vorzubeugen.
Erklärung des Generalfeldmarschalls von Hindenburg vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, 18. November 1919
[...] Zeuge Generalfeldmarschall von Hindenburg: Bevor ich diese Frage beantworte, bitte ich die Grundlage für unser ganzes Denken, Tun und Handeln während der Kriegszeit im folgenden Abriß hier verlesen zu dürfen, denn aus dieser Grundlage ist alles herausgewachsen, was wir getan haben. [...]
Ich gebe nur historische Daten, halte es aber für unbedingt notwendig, dass ich sie in kurzem Abriß den Herren ins Gedächtnis rufe.
Als wir in die Oberste Heeresleitung traten, war der Weltkrieg zwei Jahre im Fluß. Die Ereignisse nach dem 29. August 1916 lassen sich nicht losgelöst vor diesem Datum denken.
Der Krieg, der 1914 zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn einerseits und Rußland, Frankreich und Serbien, bald darauf England, Belgien und Japan andererseits begonnen hatte, hat an Ausdehnung zugenommen. 1915 griff Italien, 1916 Rumänien an der Seite unserer Gegner in den Kampf ein. Der Krieg hatte kein Beispiel mehr in der Geschichte. Die Räume dehnten sich ins Gigantische, die Truppenmassen erreichten ungeahnte Stärken, die Technik gewann eine vorherrschende Bedeutung. Krieg und Weltwirtschaft griffen ineinander über wie nie zuvor. Das zahlenmäßige Verhältnis der Streitkräfte an Maschinen, Munition und wirtschaftlichen Hilfsmitteln war für uns, und zwar von Anfang an, so ungünstig wie möglich. Niemals wog der Wert der Imponderabilien des Krieges, der moralischen Qualität der Truppen, der Anforderungen an die zentrale und lokale Führung so schwer, niemals endlich war die Leistung der Minderheit so ungeheuer wie in diesem Kriege. Diesem Grundcharakter des Krieges hatte die Oberste Heeresleitung Rechnung zu tragen; auf ihm ruhte unsere unablässige Arbeit. Getragen von der Liebe zum Vaterlande, kannten wir nur ein Ziel: Das Deutsche Reich und das deutsche Volk, soweit Menschenkraft und militärische Mittel es vermochten, vor Schaden zu bewahren und es militärischerseits einem guten Frieden entgegenzuführen. Um diese gewaltige Aufgabe unten den schwierigsten Bedingungen durchzuführen, mussten wir den unerschütterlichen Willen zum Siege haben. Dieser Wille zum Siege aber war unlöslich gebunden an den Glauben an unser gutes Recht. Dabei waren wir uns bewußt, dass wir in dem ungleichen Kampfe unterlegen mussten, wenn nicht die gesamte Kraft der Heimat für den Sieg auf dem Schlachtfelde eingestellt wurde und die moralischen Kräfte des Heeres nicht dauernd aus der Heimat erneuert wurden. Der Wille zum Siege erschien natürlich nicht als eine Frage persönlicher Entschlossenheit, sondern als Ausfluß des Volkswillens. Hätten wir den Willen zum Siege nicht gehabt oder hätten wir ihn nicht beim Volke als selbstverständlich angesehen, so hätten wir das schwere Amt nicht übernommen. Ein General, der seinem Lande nicht den Sieg erstreiten will, darf kein Kommando übernehmen oder doch nur mit dem gleichzeitigen Auftrag, zu kapitulieren. Solchen Auftrag haben wir nicht erhalten. Wir hätten bei solchem Auftrag auch die Übernahme der Obersten Heeresleitung abgelehnt.
Der deutsche Generalstab ist in den Lehren des großen Kriegsphilosophen Clausewitz erzogen. Wir sehen demgemäß den Krieg immer nur als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln an, nämlich mit militärischen. Unsere Friedenspolitik hatte versagt. Wir wollten keinen Krieg und bekamen doch den größten – [...] doch den größten, schwersten und unerbittlichsten, den die Geschichte je gesehen. Woran das gelegen hat, möge diese entscheiden. Ich weiß nur das eine mit absoluter Gewissheit: das deutsche Volk wollte den Krieg nicht, der deutsche Kaiser wollte ihn nicht, die Regierung wollte ihn nicht, der Generalstab erst recht nicht, denn er kannte besser als sonst jemand unsere unendlich schwierige Lage in einem Kriege gegen die Entente. Daß die militärischen Zentralbehörden sich auf die Möglichkeit eines etwa unvermeidlichen Krieges vorbereiteten, war gewiß doch nur ihre Pflicht gegenüber dem Volke. Dazu waren sie da, und ebenso waren sie verpflichtet, im Falle der Unvermeidlichkeit eines Krieges und im Kriege selbst alle günstigen Chancen auszunutzen.
Wir faßten es als unsere vornehmste Aufgabe auf, den Krieg mit den militärischen Mitteln so schnell wie möglich und so günstig wie möglich zu beenden, um der Reichsleitung, sobald es irgend ging, es zu ermöglichen, die Geschicke des Landes wieder mit den normalen, friedlichen Mitteln der Politik zu bestimmen. Diese Auffassung ist natürlich; sie war maßgebend für die Führung des Krieges und bedarf keiner Erörterung. Im Weltkriege kam die Erkenntnis hinzu, die uns nicht eine Stunde verlassen hat, daß das Übergewicht der Feinde an lebendem und totem Kriegsmaterial so groß war, daß die Verluste an allen Werten ein solch beispielloses Ausmaß gewinnen mußten, auch bei relativ günstigem Kriegsausgange, daß diese Schwächung einem unglücklichen Kriegsausgang gleichkam. Wenn schon die Liebe zum Vaterlande und zum Volke uns zwang, den Krieg möglichst schnell zu beenden, so wurde dieser Zwang durch den oben angegebenen Grund noch verstärkt.
Wir wußten, was wir vom Heere, der oberen und niederen Führung, nicht zuletzt von dem Mann im feldgrauen Rock zu fordern hatten, und was sie alle geleistet haben. Aber trotz der ungeheuren Ansprüche an Truppen und Führung, trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes konnten wir den ungleichen Kampf zu einem günstigen Ende führen, wenn die geschlossene und einheitliche Zusammenwirkung von Heer und Heimat eingetreten wäre. Darin hatten wir das Mittel zum Siege der deutschen Sache gesehen, den zu erreichen wir den festen Willen hatten.
Doch was geschah nun? Während sich beim Feinde trotz seiner Überlegenheit an lebendem und totem Material alle Parteien, alle Schichten der Bevölkerung in dem Willen zum Siege immer fester zusammenschlossen, und zwar um so mehr, je schwieriger ihre Lage wurde, machten sich bei uns, wo dieser Zusammenschluß bei unserer Unterlegenheit viel notwendiger war, Parteiinteressen breit, [...] und diese Umstände führten sehr bald zu einer Spaltung und Lockerung des Siegeswillens. [...]
Die Geschichte wird über das, was ich hier nicht weiter ausführen darf, das endgültige Urteil sprechen. Damals hofften wir noch, daß der Wille zum Siege alles andere beherrschen würde. Als wir unser Amt übernahmen, stellten wir bei der Reichsleitung eine Reihe von Anträgen, die den Zweck hatten, alle nationalen Kräfte zur schnellen und günstigen Kriegsentscheidung zusammenzufassen; sie zeigten der Reichsleitung zugleich ihre riesengroßen Aufgaben. Was aber schließlich, zum Teil wieder durch Einwirkung der Parteien, aus unseren Anträgen geworden ist, ist bekannt. Ich wollte kraftvolle und freudige Mitarbeit, und bekam Versagen und Schwäche. [...]
Die Sorge, ob die Heimat fest genug bliebe, bis der Krieg gewonnen sei, hat uns von diesem Augenblicke an nie mehr verlassen. Wir erhoben noch oft unsere warnende Stimme bei der Reichsregierung. In dieser Zeit setzte die heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer als Fortsetzung ähnlicher Erscheinungen im Frieden ein. Die Wirkungen dieser Bestrebungen waren der Obersten Heeresleitung während des letzten Kriegsjahres nicht verborgen geblieben. Die braven Truppen, die sich von der revolutionären Zermürbung freihielten, hatten unter dem pflichtwidrigen Verhalten der revolutionären Kameraden schwer zu leiden; sie mußten die ganze Last des Kampfes tragen. [...]
Die Absichten der Führung konnten nicht mehr zur Ausführung gebracht werden. Unsere wiederholten Anträge auf strenge Zucht und strenge Gesetzgebung wurden nicht erfüllt. So mußten unsere Operationen mißlingen, es mußte der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlußstein. [...] Ein englischer General sagte mit Recht: „Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.“ Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld. Seine Leistung ist ebenso bewunderungswürdig wie die des Offizierkorps. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen. Bedurfte es noch eines Beweises, so liegt er in dem angeführten Ausspruche des englischen Generals und in dem maßlosen Erstaunen unserer Feinde über ihren Sieg.
Das ist die große Linie der tragischen Entwicklung des Krieges für Deutschland nach einer Reihe so glänzender, nie dagewesener Erfolge an zahlreichen Fronten, nach einer Leistung von Heer und Volk, für die kein Lob groß genug ist. Diese große Linie mußte festgelegt werden, damit die militärischen Maßnahmen, die wir zu vertreten haben, richtig bewertet werden können.
Im übrigen erkläre ich, daß General Ludendorff und ich bei allen großen Entscheidungen die gleiche Auffassung gehabt und in voller Übereinstimmung gearbeitet haben. Wir haben Sorge und Verantwortung gemeinschaftlich getragen. Wir vertreten somit auch hier Hand in Hand die Auffassungen und Handlungen der Obersten Heeresleitung seit dem 29. August 1916. [...]
Hier nach: Stenographischer Bericht über die öffentlichen Verhandlungen des Untersuchungsausschusses, Berlin 1919, S. 727-732.
Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919/20 (Hrsg.): Stenographischen Berichte über die öffentlichen Verhandlungen des 15. Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Nationalversammlung nebst Beilagen. (Band II) Berlin 1920. Gemeinfrei (amtliches Werk).
Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration: Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933 (=Schriften des Bundesarchivs 61). Droste, Düsseldorf 2003.
Jakov S. Drabkin, Problemy i legendy v istoriografii germanskoj revoljucii. 1918–1919 [Probleme und Legenden in der Historiographie der deutschen Revolution 1918–1919]. Nauka, Moskva 1990.
Jörg Duppler/Gerhard Paul Gross (Hrsg.), Kriegsende 1918: Ereignis, Wirkung, Nachwirkung (=Beiträge zur Militärgeschichte 53). Oldenbourg, München 1999.
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Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten: Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914–1918 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 123). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998.
Anne Lipp, Meinungslenkung im Krieg: Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 159). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003.
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