Besatzungsstatut

Das Besatzungsstatut gehört zu den konstituierenden Dokumenten der Bundesrepublik Deutschland. Es steckt durch einen Katalog alliierter Vorbehalte den Rahmen westdeutscher Souveränität in den ersten fünf Jahren nach der Staatsgründung ab. Die Vorbehaltsrechte betrafen vor allem das Gebiet der Entwaffnung und Entmilitarisierung, Reparationen und Restitutionen, die Kontrolle des Ruhrgebiets, die Außenpolitik sowie Angelegenheiten verschleppter Personen und Flüchtlinge. Außerdem erklärten die drei alliierten Besatzungsmächte, die Einhaltung des Grundgesetzes und der Bürgerrechte sowie den Strafvollzug an Kriegsverbrechern zu kontrollieren, und machten damit die Grenzen des deutschen Handlungsspielraums auch nach der Gründung der Bundesrepublik deutlich.
Zu den Gründungsakten der Bundesrepublik Deutschland gehört das Treffen von elf Repräsentanten westdeutscher Politik, den Ministerpräsidenten der neun Länder und den Bürgermeistern der beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremen, am 1. Juli 1948 im US-Hauptquartier in Frankfurt am Main. Die Länderchefs waren von den drei alliierten Militärgouverneuren einbestellt worden (von einer Konferenz gleichberechtigter Teilnehmer konnte keine Rede sein), um die offiziellen Mitteilungen über die alliierten Entscheidungen zur Gestalt künftiger (west)deutscher Staatlichkeit entgegenzunehmen. Die deutschen Länderchefs waren ohne Angabe des Raums und der Stunde einbestellt worden. Einzelheiten hatten sie erst nach dreitägigem Herumtelefonieren erfahren. Aber das Ereignis gehörte, wie man später erkannte, zu den entscheidenden Daten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Frankfurter Konferenz bildete den Wendepunkt vom alliierten Kriegsrecht, nach dem Deutschland seit Mai 1945 regiert wurde, zur deutschen Eigenverantwortung.
Die Dokumente, die den deutschen Politikern am 1. Juli 1948 überreicht wurden, enthielten in Form des Gründungsauftrags für einen deutschen Nachkriegsstaat die Chance der Selbständigkeit nach Jahren der Besatzungsherrschaft. Auf französisches Betreiben geschah die offizielle Übergabe der „Frankfurter Dokumente“, wie die Blaupause der westdeutschen Staatlichkeit seither heißt, in zeremonieller Form und frostiger Atmosphäre: Jeder der drei Militärgouverneure verlas in seiner Muttersprache eines der drei Dokumente, General Lucius D. Clay das erste, das die verfassungsrechtlichen Bestimmungen enthielt, General Sir Brian Robertson das zweite über die Länderneugliederung, und General Pierre Koenig trug in scharfem Ton das dritte Dokument vor, das die Grundzüge eines Besatzungsstatuts festlegte (am Ende der Veranstaltung erhielten die deutschen Politiker die Texte in Übersetzung).
Das erste der Frankfurter Dokumente ermächtigte die Ministerpräsidenten, bis zum 1. September 1948 ein Parlament zur Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung einzuberufen, „die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wiederherzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält“. Im zweiten Dokument war die Neugliederung der deutschen Länder empfohlen.
Im dritten Dokument waren die Grundzüge eines Besatzungsstatuts skizziert. Darin wurde deutlich, wie eng der deutsche Spielraum für die Verfassung und für die künftige staatliche Existenz bemessen war. Die Militärgouverneure stellten zwar die Gewährung einiger Befugnisse der Gesetzgebung, Verwaltung und der Rechtsprechung in Aussicht; ausdrücklich ausgenommen blieben aber beispielsweise die Außenbeziehungen des zu gründenden deutschen Weststaats und die Überwachung des deutschen Außenhandels.
Die Besatzungsherrschaft sollte also mit der Verabschiedung der Verfassung und der Staatsgründung auf dem Territorium der drei Westzonen noch nicht enden, sondern lediglich gelockert und juristisch neu definiert werden. Die Militärgouverneure würden, so hatten es die deutschen Ministerpräsidenten in Frankfurt vernommen, „die Ausübung ihrer vollen Machtbefugnisse wieder aufnehmen“, und zwar nicht nur bei drohendem Notstand für die Sicherheit, sondern auch, „um nötigenfalls die Beachtung der Verfassung und des Besatzungsstatuts zu sichern“.
Die Ministerpräsidenten als Auftragnehmer der Frankfurter Dokumente und Politiker der großen Parteien berieten in den folgenden Tagen über das Angebot der Alliierten zur Staatsgründung auf westdeutschem Boden. Führende Verfassungsexperten beider Parteien – SPD und CDU – waren sich einig, dass der provisorische Charakter der beabsichtigten Staatsgründung betont und das angekündigte Besatzungsstatut als Ausdruck der alliierten Verantwortung für die deutschen Angelegenheiten in den Vordergrund gestellt werden müsse. Die Antwort an die Alliierten war deshalb nach dreitägigem Ringen ein Ja und ein Nein zugleich. Die Vollmachten wollten die Deutschen zwar annehmen, aber nicht in der Form, wie es sich die Alliierten vorgestellt hatten. Der Primat der drei Westmächte bei der Staatsgründung sollte deutlich zum Ausdruck kommen, um den Vorwurf zu vermeiden, die westdeutschen Politiker hätten die nationale Einheit preisgegeben. Aus diesem Grund wünschten die Westdeutschen, dass das Besatzungsstatut vor Aufnahme der Verfassungsberatungen als eigentlicher Konstitutionsakt der Bundesrepublik erlassen werden solle. Die Ministerpräsidenten lehnten auch eine „Nationalversammlung“ zur Beratung und Verabschiedung einer Verfassung ab, die dann durch Volksabstimmung in Kraft gesetzt werden sollte. Stattdessen sollten die Landtage ein Gremium wählen, das ein provisorisches „Grundgesetz“ ausarbeiten würde. Das sollte die Entwicklung offen halten: Man wollte zu größerer Selbständigkeit kommen, ohne die Ostzone ausdrücklich preiszugeben. Die Alliierten kamen den deutschen Wünschen nur wenig entgegen, immerhin bei der Bezeichnung der Verfassung, die bis heute „Grundgesetz“ heißt; auch die Bezeichnung „Parlamentarischer Rat“ statt „Nationalversammlung“ war ein Zugeständnis. Aber das Besatzungsstatut vor den Verfassungsberatungen zu erlassen war für die Alliierten undenkbar. Es sollte den Schlussstein der Staatsgründung bilden.
Der Text des Besatzungsstatuts wurde auf der Außenministerkonferenz der Westmächte (6.–8. April 1949) verabschiedet, am 10. April dem Parlamentarischen Rat bekannt gegeben, am 12. Mai 1949 verkündet. Mit dem abschließenden Gründungsakt der Bundesrepublik, als Kanzler Konrad Adenauer am 21. September 1949 sein Kabinett offiziell den drei Hohen Kommissaren als Nachfolger der Militärgouverneure vorstellte, wurde es durch die Erklärung der Alliierten Hohen Kommission in Kraft gesetzt.
Das Dokument bildete bis zum 5. Mai 1955 die Rechtsgrundlage der Beziehungen zwischen den drei Besatzungsmächten und der Bundesrepublik. Das Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 modifizierte es erstmals; am 6. März 1951 erfolgte eine zweite gründliche Revision des Besatzungsstatuts, die der Bundesregierung de facto die politische Verantwortung übertrug. Der 1951/52 ausgehandelte Deutschlandvertrag sollte im Zusammenhang mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) das Besatzungsstatut endgültig ablösen. Nach dem Scheitern des EVG-Projekts trat der geänderte Deutschlandvertrag im Rahmen der Pariser Verträge, durch die die Bundesrepublik souveräner Staat und NATO-Mitglied wurde, am 5. Mai 1955 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt erlosch das Besatzungsstatut.
Bis dahin hatte das Dokument den Rahmen bezeichnet, innerhalb dessen die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Hoheitsbefugnisse ausüben konnte: Das Besatzungsstatut definierte von September 1949 bis Mai 1955 den Grad der Souveränität des deutschen Weststaats.
Wortlaut des Besatzungsstatuts, veröffentlicht am 12. Mai 1949 durch die Militärgouverneure und Oberbefehlshaber der Westzonen.[ ]
BESATZUNGSSTATUT.
In Ausübung der von den Regierungen Frankreichs, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs beibehaltenen obersten Gewalt,
verkünden wir, General Pierre Koenig, Militärgouverneur und Oberbefehlshaber der französischen Zone Deutschlands,
General Lucius D. Clay, Militärgouverneur und Oberbefehlshaber der amerikanischen Zone Deutschlands, und
General Sir Brian Hubert Robertson, Militärgouverneur und Oberbefehlshaber der britischen Zone Deutschlands, hiermit gemeinsam das [folgende] Besatzungsstatut:
1. Die Regierungen Frankreichs, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs wünschen und beabsichtigen, daß sich das deutsche Volk in dem Zeitraum, während dessen das Fortdauern der Besatzung notwendig ist, im größtmöglichsten Maße selbst regiert, soweit dies mit der Besatzung vereinbar ist. Der Bund und die beteiligten Länder haben, lediglich den Beschränkungen dieses Statuts unterworfen, volle gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt gemäß dem Grundgesetz und den Länderverfassungen.
2. Um die Erreichung der Grundziele der Besatzung sicherzustellen, wird die Zuständigkeit für die folgenden Gebiete, einschließlich des Rechts, von den Besatzungsbehörden benötigte Auskünfte und statistische Angaben anzufordern und deren Richtigkeit zu prüfen, ausdrücklich vorbehalten:
a) Die Entwaffnung und Entmilitarisierung einschließlich der damit in Beziehung stehenden Gebiete der wissenschaftlichen Forschung, Verbote und Beschränkungen der Industrie und die Zivilluftfahrt,
b) die Kontrolle über die Ruhr, die Restitutionen, Reparationen, Dekartellisierung, Dezentralisation, Ausschluß von Diskrimminierungen in Handelsangelegenheiten, die ausländischen Interessen in Deutschland und die Ansprüche gegen Deutschland,
c) auswärtige Angelegenheiten einschließlich der von Deutschland oder in seinem Namen getroffenen internationalen Abkommen,
d) verschleppte Personen und die Aufnahme von Flüchtlingen,
e) der Schutz, das Prestige und die Sicherheit der Alliierten Streitkräfte, Familienangehörigen, Angestellten und Vertreter,ihre Immunitäten und das Aufkommen für die Besatzungskosten und für ihre anderen Anforderungen,
f) die Beachtung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen,
g) die Überwachung des Außenhandels und der Devisenwirtschaft,
h) die Überwachung innerer Maßnahmen, aber nur in dem Umfang, der erforderlich ist, um die Verwendung von Geldmitteln, Lebensmitteln und sonstigen Bedarfsgütern in der Weise sicherzustellen, daß Deutschlands Bedarf an ausländischer Unterstützung auf ein Mindestmaß herabgesetzt wird,
i) die Überwachung der Versorgung und Behandlung in deutschen Strafanstalten von Personen, die vor Gerichten oder Tribunalen der Besatzungsmächte oder Besatzungsbehörden angeklagt oder von ihnen verurteilt worden sind; die Überwachung der Vollstreckung von Strafurteilen gegen solche Personen und in Angelegenheiten ihrer Amnestierung, Begnadigung und Freilassung.
3. Es ist die Hoffnung und Erwartung der Regierungen Frankreichs, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs, daß die Besatzungsbehörden keinen Anlaß haben werden, auf anderen als den oben ausdrücklich vorbehaltenen Gebieten Maßnahmen zu ergreifen. Die Besatzungsbehörden behalten sich jedoch das Recht vor, entsprechend den Weisungen ihrer Regierungen die Ausübung der vollen Gewalt ganz oder teilweise wieder zu übernehmen, wenn sie dies für unerläßlich erachten für die Sicherheit oder zur Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung in Deutschland, oder um den internationalen Verpflichtungen ihrer Regierungen nachzukommen. Zuvor werden sie die zuständigen deutschen Behörden von ihrer Entscheidung und den dazu führenden Gründen förmlich in Kenntnis setzen.
4. Die Bundesrepublik Deutschland und die Länder haben die Befugnis, nach ordnungsmäßiger Mitteilung an die Besatzungsbehörden auch auf den diesen Behörden vorbehaltenen [Gebieten] Gesetze zu erlassen und Maßnahmen zu ergreifen, es sei denn, daß die Besatzungsbehörden ausdrücklich anders bestimmen oder daß solche Gesetze oder Maßnahmen mit den [von den] Besatzungsbehörden selbst getroffenen Entscheidungen oder Maßnahmen unvereinbar sind.
5. Jede Änderung des Grundgesetzes bedarf vor ihrem Inkrafttreten der ausdrücklichen Genehmigung der Besatzungsbehörden. Länderverfassungen, Änderungen dieser Verfassungen, alle sonstige Gesetzgebung und alle Abkommen zwischen dem Bund und ausländischen Regierungen treten 21 Tage nach ihrem amtlichen Eingang bei den Besatzungsbehörden in Kraft, es sei denn, daß diese sie vorher vorläufig oder endgültig ablehnen. Die Besatzungsbehörden werden gesetzgeberische Maßnahmen nicht ablehnen, es sei denn, daß sie ihrer Ansicht nach mit dem Grundgesetz, mit einer Länderverfassung, mit der Gesetzgebung oder den sonstigen Direktiven der Besatzungsbehörden oder mit Bestimmungen dieses Statuts unvereinbar sind, oder daß diese Maßnahmen die Grundziele der Besatzung ernstlich gefährden.
6. Unter dem ausschließlichen Vorbehalt der Gewährleistung ihrer Sicherheiten garantieren die Besatzungsbehörden die Beachtung durch alle Besatzungsstellen der Rechte des Bürgers auf Schutz gegen willkürliche Verhaftung, Durchsuchung oder Beschlagnahme; auf Vertretung durch einen Anwalt; auf Freilassung gegen Sicherheitsleistung, soweit es die Umstände rechtfertigen; auf die Möglichkeit, mit den Angehörigen in Verbindung zu bleiben und auf ein gerechtes und baldiges Verfahren.
7. Vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassene gesetzgeberische Maßnahmen der Besatzungsbehörden bleiben bis zu ihrer Aufhebung oder Änderung durch die Besatzungsbehörden nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen in Kraft:
a) Gesetzgebung, die mit dem Vorausgehenden nicht übereinstimmt, wird aufgehoben oder so abgeändert werden, daß sie mit ihm übereinstimmt,
b) Gesetzgebung, die auf den oben in Absatz 2 aufgeführten Befugnissen beruht, wird kodifiziert werden,
c) Gesetzgebung, die nicht unter a) oder b) fällt, wird von den Besatzungsbehörden auf Ersuchen der zuständigen deutschen Behörden aufgehoben werden.
8. Jede Maßnahme der Besatzungsbehörden soll als im Rahmen der hierin vorbehaltenen Befugnisse liegend angesehen und als solche gemäß diesem Statut wirksam werden, wenn sie auf Grund einer Vereinbarung zwischen ihnen getroffen worden ist oder offensichtlich in irgendeiner Weise darauf beruht. Die Besatzungsbehörden können nach ihrem Ermessen ihre Beschlüsse entweder unmittelbar oder durch Anweisungen an die zuständigen deutschen Behörden zur Ausführung bringen.
9. Nach 12 Monaten, mindestens aber innerhalb von 18 Monaten nach Inkrafttreten dieses Statuts werden die Besatzungsmächte eine Überprüfung seiner Bestimmungen vornehmen unter Berücksichtigung der bei seiner Anwendung gemachten Erfahrungen und mit dem Ziele, die Zuständigkeit der deutschen Behörden auf den Gebieten der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zu erweitern.
Hier nach: Amtsblatt der Hohen Alliierten Kommission in Deutschland, Nr. 1, 23.9.1949, S. 13ff.; Amtsblatt der Hohen Alliierten Kommission in Deutschland, Nr. 3, 3.11.1949, S.32.
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Amtsblatt der Hohen Alliierten Kommission in Deutschland, Nr. 1, 23.9.1949, S. 1f., 13ff.; Amtsblatt der Hohen Alliierten Kommission in Deutschland, Nr. 3, 3.11.1949, S. 1, 31f. Gemeinfrei (amtliches Werk).
Wolfgang Benz, Auftrag Demokratie: Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und der DDR 1945–1949. Metropol, Berlin 2009.
Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Bd. 1: Vorgeschichte. Bearb. von Johannes Volker Wagner. Oldenbourg, Boppard am Rhein 1975.
Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Bd. 4: Ausschuß für das Besatzungsstatut. Bearb. von Wolfram Werner. Oldenbourg, München 1989.
Christine van Wylick, Das Besatzungsstatut. Entstehung, Revision, Wandel und Ablösung des Besatzungsstatuts. Diss., Köln 1956.