EMNID: ''Der Wandel der Erziehungsziele in der Bundesrepublik Deutschland, 1951-1998''

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EMNID: Der Wandel der Erziehungsziele in der Bundesrepublik Deutschland, 1951-1998
1998

Die Grafik „Der Wandel der Erziehungsziele in der Bundesrepublik Deutschland“ bildet den Prozess des Wertewandels in der Bundesrepublik ab. Basierend auf Umfrageergebnissen des Meinungsforschungsinstituts EMNID zeigt sie, dass sich insbesondere zwischen den mittleren 1960er und den frühen 1970er Jahren ein tiefgreifender Wandel in den Meinungen, Einstellungen und teilweise Grundüberzeugungen der Bundesbürger vollzog. Am Beispiel der Erziehungsziele wird deutlich, dass traditionale Verhaltensmuster – hier insbesondere autoritäre Dispositionen – an Bedeutung verloren. „Gehorsam und Unterordnung“ wurden von den Bundesbürgern als weniger wichtig erachtet, während „Selbständigkeit und freier Wille“ als Erziehungsziele immer bedeutsamer wurden. In dieser Entwicklung werden mentale Verschiebungen sichtbar, die die Transformation der modernen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begleiteten, aus ihnen hervorgingen und auf sie zurückwirkten.


von: Detlef Siegfried, 2011


Der sozialstrukturelle und -kulturelle Wandel der 1950er und 1960er Jahre veränderte nicht nur die materiellen Existenzbedingungen, sondern auch Meinungen, Einstellungen und teilweise Grundüberzeugungen. Die Soziologie hat darauf bereits in den 1970er Jahren reagiert und sogar – teils euphorisch, teils mit Bedauern – einen grundstürzenden Wandel traditioneller Werte konstatiert. Inwiefern „Werte“ als lang andauernde und nur allmählich veränderbare Sinnstiftungsmuster tatsächlich in so kurzer Zeit grundlegend ins Trudeln gerieten, kann aus historiographischer Perspektive nur annäherungsweise beurteilt werden. Das liegt nicht nur daran, dass Wertvorstellungen schwer messbar sind, sondern hängt auch damit zusammen, dass vergleichbare Daten zumeist erst seit den frühen 1950er Jahren vorliegen.

Auch wenn es unterschiedliche Auffassungen über die Tiefe, das Tempo und die Ausformungen des Wertewandels gibt, so besteht doch weitgehend Übereinstimmung darin, dass durch den zunehmenden Wohlstand, die Öffnung der Gesellschaft und die Hebung des Bildungsniveaus zumindest bis zur Mitte der 1970er Jahre „postmaterialistische Werte“ an Bedeutung gewannen. Damit sind grundlegende Orientierungsmuster gemeint, die nicht auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse gerichtet sind, sondern auf die Verbesserung der Lebensqualität im Sinne von Selbstverwirklichung und Partizipation.

Als in den frühen 1960er Jahren nach dem Ende der Rekonstruktionsphase existentielle Grundbedürfnisse wie Ernährung und Wohnung befriedigt waren, die äußere Sicherheit durch ein stabilisiertes Staatswesen gewährleistet schien und durch die Entspannungspolitik auch die Blockkonfrontation im Kalten Krieg nachließ, nahm nicht nur die Bereitschaft zur politischen und kulturellen Liberalisierung zu. Im gleichen Maß wuchs auch die Aufmerksamkeit, mit der sich die Bundesbürger jenen Aspekten des Alltagslebens widmeten, die nicht unmittelbar existenzbezogen waren. Werte der Akzeptanz gegenüber Vorgaben traditionaler Autoritäten verloren an Bedeutung, während Werte der Selbstentfaltung wichtiger wurden. Dieser Pluralisierungsvorgang, das heißt die Ausdifferenzierung vorher weniger entwickelter „Sinn-, Lebens- oder Optionsmuster“[1] wurde durch die Reduzierung der Arbeitszeit vorangetrieben. Diese Entwicklung verschob die Gewichte zwischen Arbeit und Freizeit so sehr, dass Zeitgenossen sogar vom Aufkommen einer „Freizeitgesellschaft“ sprachen.

Für die Bewältigung dieser historisch beispiellosen Situation konnte auf Erfahrungswerte der älteren Generationen oder auf Orientierungshilfen traditioneller sozialmoralischer Milieus kaum zurückgegriffen werden. Hinzu kam, dass sich die Bindekraft von Klasse, Religion, Region und Familie lockerte. Damit stiegen die Anforderungen an den Einzelnen, sich selbständig in der Gesellschaft zu orientieren. Die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, verbesserte sich durch eine Ausdehnung der individuellen Erfahrungs- und Reflexionshorizonte, die die Medialisierung, insbesondere der Aufstieg des Fernsehens, die Automobilisierung und der Ausbau des Bildungssystems mit sich brachten.

Aus soziologischer Perspektive werden die 1960er Jahre als Sattelphase eines gesellschaftlichen Umbruchs angesehen. Noch unter dem Eindruck dieser Dynamik und unmittelbar vor dem Beginn der „Ölkrise“ sah der amerikanische Soziologe Daniel Bell in diesem Jahrzehnt den Beginn einer „postindustriellen Gesellschaft“. Für den Bereich der Literatur verkündete Leslie Fiedler 1968 den „Tod der Moderne“ und prägte mit dem Begriff der „Postmoderne“ ein begierig aufgegriffenes Label zur Kennzeichnung des kulturellen Umbruchs. Für Ulrich Beck begannen in den 1960er Jahren zentrale Entwicklungen, die zur „Zweiten Moderne“ hinführten: der Individualisierungsschub und die Evidenz von Nebenfolgen der „einfachen“ Modernisierung.

Auch die empirische Sozialforschung lokalisiert die Sattelphase für den Wertwandel in den langen 1960er Jahren. Auf der Basis westdeutscher Umfragedaten, wie sie regelmäßig von Meinungsforschungsinstituten wie Emnid, Divo oder dem Institut für Demoskopie in Allensbach in Form von repräsentativen Stichproben erhoben wurden, hat Helmut Klages die Startphase des Wertewandels auf die Jahre 1963 bis 1965 datiert und für die darauf folgenden Jahre einen „Wertewandelsschub“ konstatiert, der bis etwa 1975 andauerte. Dieser Schub kam Klages zufolge zu einem Abschluss, weil sich zum einen insbesondere die ökonomischen Rahmenbedingungen geändert hätten; so setzte 1974 eine Weltwirtschaftskrise ein. Zum anderen sei eine „Sättigung“ des Wandlungsbedürfnisses in der Bevölkerung eingetreten. Anschließend erfolgten nur noch situativ bedingte Schwankungen auf der Basis eines fundamental pluralisierten Wertesystems. Andere Sozialwissenschaftler haben diese Periodisierung im Wesentlichen bestätigt und teilweise detaillierter dargelegt, dass wesentliche Elemente des Wertewandels nicht erst in der Folge des magischen Datums „1968“ einsetzten, sondern dass „1968“ eine Folge eines bereits voll entwickelten Wertewandelsschubs darstellte.

Im Verhältnis zu den Umwälzungen in Wirtschaft und Sozialkultur verlief der Wandel der Werte nicht parallel, sondern er stellte sich erst zeitlich verzögert ein. Es dauerte einige Zeit, bis die Gesellschaft als Ganzes die sich schon seit den 1950er Jahren radikal wandelnden materiellen Verhältnisse wahrnahm, in teilweise kontroversen Debatten ihre Bedeutungen aushandelte und allmählich Konventionen für ihre sprachliche und praktische Handhabung fand.

Dies hatte vor allem damit zu tun, dass Individuen und Teilgruppen der Gesellschaft ihre Wertvorstellungen in unterschiedlichem Ausmaß und Tempo modifizierten. Kriterien wie Alter, Bildungsstand, Geschlecht, Region, Religion und soziale Herkunft bestimmten derartige Ungleichzeitigkeiten mit. Die historische Forschung hat mittlerweile einige Anhaltspunkte für die Frage nach den Folgewirkungen der in den 1950er Jahren erfolgten „Modernisierung im Wiederaufbau“[2] für die Einstellungen und Wertvorstellungen der Westdeutschen herausgearbeitet. Die Ausstattung mit Konsumgegenständen, der Tourismus, verbesserte Bildung, aber auch politische und wirtschaftliche Ereignisse wie der Vietnamkrieg, die Rezession von 1966 oder der Regierungswechsel von 1969 beeinflussten den Wertewandel für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise.

Verzögerungen und Ungleichzeitigkeiten sind zeitgenössisch immer wieder beobachtet und unterschiedlich beurteilt worden. Einer der meistdiskutierten Konflikte verlief entlang der Generationslinie: Während die jüngeren Altersjahrgänge die gewandelten Gegebenheiten für selbstverständlich hielten und ihr Alltagsverhalten danach ausrichteten, hatten Ältere Anpassungsleistungen zu vollbringen, zu denen sie in unterschiedlichem Maße bereit und in der Lage waren. 1969 konstatierte Emnid unter Bezug auf zahlreiche Daten der Sozialforschung: „Seitdem wir das 2. Drittel des Jahrhunderts überschritten haben, werden die grundlegenden Wandlungen in unserer Gesellschaft immer deutlicher. Man orientiert sich auf Freizeit, Konsum und Wohlstand; den faktischen Veränderungen auf diesen Gebieten folgt die Bewusstseinsanpassung nur zögernd; die Jugend, die in die neue Zeit problemlos hineingewachsen ist, vollzieht diese Änderungen im Meinungsbild zuerst.“

Das lässt sich auch beim Wandel der Erziehungsziele beobachten. Unterscheidet man bei den Umfrageergebnisse nach dem Alter und fragt nach den Voten der jüngsten Befragungsgruppen, so gaben diese jeweils deutlich höhere Präferenzen für „Selbständigkeit und freier Wille“ ab. 1957 und 1965 waren es jeweils 42 %, 1967 47 %. Im Jahr 1974 lag deren Anteil mit 71 % sogar 18 % über dem Bevölkerungsdurchschnitt.[3] Differenziert man hier noch einmal nach dem Bildungsstand, so schält sich klar heraus, dass die die Befürwortung dieser Erziehungsziele mit abnehmendem Alter und zunehmender Bildung ansteigt. 1974 stimmten diesem Ziel 73 % der 16- bis 24-jährigen Volksschulabsolventen zu, aber 82 % der gleichaltrigen Realschulabsolventen und sogar 91 % der Abiturienten. Mit dem letztgenannten Anteil lag die Avantgarde des Wertewandels zu fast 40 % über dem Bevölkerungsdurchschnitt.

Ein Blick auf die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre zeigt nicht nur, dass derartige Befunde erhebliche innergesellschaftliche Spannungsverhältnisse widerspiegeln. Er macht auch deutlich, dass der Wertewandel sich nicht abstrakt vollzog, sondern – wenn auch im Kielwasser eines sozialkulturellen Strukturwandels – gegen Widerstände und die Macht der Tradition durchgesetzt werden musste. Dies trieb insbesondere junge Intellektuelle um, die häufig den Generationskonflikt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Liberalisierung der Gesellschaft rückten – und zugleich von der gesamtgesellschaftlich zunehmenden Akzeptanz gesteigerter Selbständigkeit besonders profitierten.

  1. Helmut Klages, Traditionsbruch als Herausforderung: Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft. Campus, Frankfurt a. M./New York 1993.
  2. Axel Schildt/Arnold Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau: Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. J.H.W. Dietz, Bonn 1998.
  3. Karl-Heinz Reuband, Von äußerer Verhaltenskonformität zu selbständigem Handeln: Über die Bedeutung kultureller und struktureller Einflüsse für den Wandel in den Erziehungszielen und Sozialisationsinhalten. In: Heinz Otto Luthe, Heiner Meulemann (Hrsg.), Wertwandel – Faktum oder Fiktion? Campus, Frankfurt a. M. 1988, S. 73–97.

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Tabelle: Erziehungsziele im Trend 1951-1998 (Neue und alte Bundesländer)

1951 1954 1957 1964 1967 1969 1972 1974 1976 1978 1979 1981 1983 1986 1987 1989 1991 1995 1998
% % % % % % % % % % % % % % % % % % %
Selbständigkeit und freier Wille 28 28 32 31 37 45 45 53 51 48 44 52 49 54 57 67 62 62 61
Ordnungsliebe und Fleiß 41 43 48 45 48 45 37 44 41 46 43 38 38 39 43 35 38 38 45
Gehorsam und Unterordnung 25 28 25 25 25 19 14 17 10 12 11 8 9 6 9 8 8 8 14



EMNID GmbH und Co (Hrsg.), Umfrage & Analyse, Bielefeld, 1998, Heft 11/12, Deckblatt und S. 34.

Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001.

Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft. Campus, Frankfurt a. M. 1979.

Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland: Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980 (=Moderne Zeit 1). Wallstein, Göttingen 2002.

Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics. Princeton Univ. Press, Princeton, N.J 2016.

Helmut Klages, Traditionsbruch als Herausforderung: Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft. Campus, Frankfurt a. M./New York 1993.

Peter Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland: Grundlagen einer interdisziplinären empirischen Wertforschung mit einer Sekundäranalyse von Umfragedaten (=Schriften der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel 135). O. Schwartz, Göttingen 1976.

Thomas Mergel, Geht es weiter voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne. In: Gunilla-Friederike Budde, Thomas Mergel u. a. (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beiträge zur Theoriedebatte. C.H.Beck, München 1997, S. 202–232, Online.

Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel: Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation (=Grundlagentexte Soziologie). Juventa-Verl, Weinheim/München 1996.

Karl-Heinz Reuband, Von äußerer Verhaltenskonformität zu selbständigem Handeln: Über die Bedeutung kultureller und struktureller Einflüsse für den Wandel in den Erziehungszielen und Sozialisationsinhalten. In: Heinz Otto Luthe, Heiner Meulemann (Hrsg.), Wertwandel – Faktum oder Fiktion? Campus, Frankfurt a. M. 1988, S. 73–97.

Axel Schildt/Detlef Siegfried u. a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten: Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (=Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 37). 2. Auflage, Christians, Hamburg 2003.


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