Offener Brief mit der Bitte um die Rücknahme der Ausbürgerung Wolf Biermanns
Im Herbst 1976 reiste der in der DDR mit Auftrittsverbot belegte ostdeutsche Liedermacher Wolf Biermann erstmals zu einem Konzert in die Bundesrepublik. Sein Konzert in Köln, das kritische Solidarität mit dem Realsozialismus in der DDR prägte, nutzte das Politbüro der Staatspartei SED dazu, ihn – wie bereits vorher beschlossen – wegen „grober Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten“ auszubürgern. Dem folgte international und in der SED-Diktatur selbst ein Sturm der Empörung. So protestierten in der DDR zwölf Schriftsteller mit internationalem Rang und ein Bildhauer in einem im Westen erscheinenden offenen Brief gegen die Ausbürgerung und baten um das „Überdenken“ dieser Maßnahme. Die SED-Führung reagierte auf die Proteste – besonders von unbekannten Menschen – repressiv und versuchte die Künstler zum Widerruf zu veranlassen. Dies misslang weitgehend und durch die Ausbürgerung Biermanns verlor die SED das Vertrauen großer Teile der Intelligenz und ging damit einen wesentlichen Schritt zum Sturz der ostdeutschen Diktatur in einer Friedlichen Revolution.
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Im Herbst 1976 gestattete die Führung der Staatspartei SED dem Liedermacher und Dichter Wolf Biermann zu einer Tournee mit seinen Liedern durch fünf bundesdeutsche Städte zu reisen. Zwar war das Visum nur für 21 Tage ausgestellt, doch konnte Biermann in der DDR erst dreizehn Jahre später – im revolutionären Herbst 1989 in Leipzig – auftreten. Das Politbüro der SED als oberstes Machtorgan ließ bereits nach dem ersten Konzert in Köln die Ausbürgerung des Liedermachers als angebliche Entscheidung staatlicher Stellen verkünden. Damit bekam das Jahr Symbolcharakter für den Niedergang der SED-Diktatur, da sich auch die protestantischen Kirchen im inneren Aufruhr befanden, nachdem sich am 18. August der Pfarrer Oskar Brüsewitz in Zeitz aus Protest gegen die kommunistische Jugenderziehung selbst verbrannt und der Schriftsteller Reiner Kunze seinen regimekritischen Text „Die wunderbaren Jahre“ veröffentlicht hatte.
Biermann stammt aus einer kommunistischen und jüdischen Familie. Sein Vater ließ sein Leben in der Hölle von Auschwitz und sein Sohn siedelte 1953 von Hamburg nach Ostdeutschland um, das er für den besseren deutschen Staat hielt. Hier erfuhr er anfangs Förderung, als seine Lieder sich jedoch immer kritischer auch mit der DDR auseinandersetzten, erließ die SED 1965 gegen ihn ein Auftrittsverbot. Jetzt konnten seine Lieder in der ostdeutschen Diktatur nur noch auf Schallplatten gehört werden, die illegal in die DDR geschmuggelt worden waren, oder auf Tonbandmitschnitten. Außerdem kursierten bei hohem persönlichem Risiko unter Oppositionellen zahlreiche Kopien seiner Texte. Trotz dieser Restriktionen fürchteten die Diktatoren weiterhin Biermanns Wort und seine Lieder. Diese Furcht verstärkte sich, als der Sänger begann seine Isolation zu durchbrechen und nach Jahren der „Wohnungskonzerte“ in der Prenzlauer Nikolaikirche auftrat.
Die Geheimpolizei – das Ministerium für Staatssicherheit – und die Politbürokraten als ihre Auftraggeber hatten jahrelang geschwankt, ob sie den Liedermacher verhaften lassen oder in eine Falle locken sollten, um ihn so aus dem Land zu verdrängen. So war die Ausbürgerung erstmals 1971 erwogen worden und wurde nach „Vorarbeiten“ der Geheimpolizei bereits im Oktober 1976 vom Politbüro der SED am 16. November beschlossen, als Biermann auf Einladung der IG Metall im Rahmen eines Jugendmonats am 13. November in der Kölner Sporthalle die Bühne betrat. Dabei war es letztlich ohne Belang, was der Künstler konkret sang oder vortrug. Das Kölner Konzert selbst umjubelten 7 000 Zuhörer und es wurde vom Hörfunk des Westdeutschen Rundfunk live übertragen. Erst diese Übertragungen machten Biermann in breiten Bevölkerungskreisen Ostdeutschlands bekannt. Während Dogmatiker in der SED ihren Staat diffamiert sahen, fühlten sich Oppositionelle und Kritiker der Diktatur bestätigt und ermutigt. Biermann war es in begeisternder Weise gelungen, sich für seine sozialistischen, wie er meinte kommunistischen, Ideale einzusetzen und trotzdem die stalinistische Diktatur zu kritisieren. Gleichzeitig formulierte er den Traum von der Einheit der Nation, einer starken „Linken“ und des demokratischen Sozialismus.
Der Reise vorausgegangen war die Unterschriftensammlung einer Initiativgruppe „Freiheit der Meinung, Freiheit der Reise für Wolf Biermann, Wolf Biermann nach Bochum“ an der Bochumer Universität, die mehrere zehntausend Unterschriften, darunter die zahlreicher Prominenter, für die Reisefreiheit des Künstlers sammelte. So schien es Biermann und seinen Freunden höchst unwahrscheinlich, dass ihn die SED während seiner Reise in die Bundesrepublik ausbürgern und sich so in der Weltöffentlichkeit bloßstellen würde. Dabei unterschätzten sie die Fehlwahrnehmung der Diktatoren, die eine öffentlich-kritische Opposition im eigenen Land zu diesem Zeitpunkt für unmöglich hielt und gleichzeitig die Festigkeit der internationalen Position der DDR überschätzten.
Die Ausbürgerung selbst verkündete die DDR-Nachrichtenagentur ADN am 16. November in einer Meldung, in der es hieß, dass die „zuständigen Behörden der DDR“ Biermann das „Recht auf weiteren Aufenthalt“ in der DDR wegen „grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten“ und „feindseligen Auftreten gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik“ entzogen worden wäre. Damit sollte der Eindruck erweckt werden, der Aufenthalt eines Westdeutschen in der DDR sei nun beendet worden. Jetzt sendete das Dritte Fernsehprogramm des WDR eine gut zweistündige Zusammenfassung des Konzerts und schließlich übernahm die ARD am 19. November das Konzert in voller Länge in ihr Programm. Das trug wesentlich dazu bei, dass die Ausbürgerung für die kommunistischen Diktatoren und für die gesamte Staatspartei unvermutete Folgen hatte. Der Westen bis hin zu westeuropäischen kommunistischen Parteien war ein Jahr nach der Schlussakte von Helsinki mit ihrer Verpflichtung auf Menschen- und Bürgerrechte empört. Entscheidend war hier, dass viele die Ausbürgerung zu Recht als Methode des nationalsozialistischen Deutschlands verstanden und dass sie begriffen, dass das Kölner Konzert von kritischer Solidarität mit der DDR geprägt worden war. Außerdem konnte jeder sehen, dass die SED ihre eigenen ideologischen Prinzipien elementar verletzte. So hatte Biermann in ihren Augen die Realität mit der kommunistischen Utopie konfrontiert und so ihre Defizite aufgedeckt. Nicht anders sahen das viele Menschen in der DDR, deren Protest für die Herrschenden unvermutet kam und sich zu einem massiven Problem entwickelte.
So protestierten zwölf namhafte Schriftsteller mit internationalem Rang, unter ihnen Volker Braun, Stefan Heym, Stephan Hermlin, Günter Kunert, Sarah Kirsch und Christa Wolf sowie der Bildhauer Fritz Cremer, der seine Unterschrift jedoch später zurückzog, am 17. November gegen die Ausbürgerung. Den Text ihrer Resolution hatte Hermlin entworfen, auf Wunsch Cremers war er leicht abgemildert worden, und im Kern ging es darum, Biermann kritische Solidarität mit der DDR zu bescheinigen und die SED-Führung bzw. die Staatsspitze um das „Überdenken“ ihrer Maßnahme zu bitten. Der Text in einer letztlich moderaten Formulierung war als Akt der Selbstachtung unstrittig, die Frage war nur, wie er der Öffentlichkeit zu übergeben sei. Schließlich wurde ein Exemplar dem SED-“Zentralorgan“ Neues Deutschland überreicht, das auch für ADN als ostdeutsche Presseagentur bestimmt war, und ein zweites ging mit einer Sperrfrist bis 17.00 Uhr an Agence France Presse sowie an Reuters. Bundesdeutsche Presseagenturen vernachlässigten die Petenten absichtlich. Die westlichen Agenturen verbreiteten die Protestresolution noch am gleichen Tag weltweit. 106 weitere Künstler und mehr als 450 andere Ostdeutsche aus allen Teilen der Bevölkerung, darunter der bekannte Dissident Robert Havemann, schlossen sich an. Havemann sandte seinen Protestbrief an den SPIEGEL, der ihn veröffentlichte, worauf die SED mit der Verhängung von Hausarrest gegen ihren Kritiker reagierte.
Insgesamt war der Protest der Künstler in Form einer Bitte an die Führung der SED und des Staates für die DDR ein Akt der Zivilcourage mit keinem ähnlichen Vorbild, der zu einem wütenden Gegenschlag der Herrschenden führte. Das lag zum einen daran, dass die Macht sich vorgeführt fühlte und die Protestierenden, besonders jedoch die SED-Mitglieder unter ihnen, die „Ursünde“ begingen, gegen die Herrschaft der Staatspartei eine politische Gruppe, eine Plattform, zu bilden. Es war die erste gezielt in die internationale Öffentlichkeit getragene Protestaktion in der DDR seit dem Volksaufstand von 1953. Für die Herrschenden galt es, den hier drohenden Flächenbrand mit allen Mitteln einzudämmen, jedoch konnte der Protest letztlich nicht unterdrückt werden. Den renitenten Künstlern drohte die SED, die Partei warb jedoch gleichzeitig um ihre Intellektuellen, setzte aber auch die SED-hörigen Mitglieder des Schriftstellerverbandes und die Geheimpolizei gegen sie ein. Gleichzeitig wurden Auftritte von kritischen Künstlern bewusst boykottiert oder unterbunden.
Ab dem 20. November organisierte die SED im Neuen Deutschland einen medialen Gegenschlag, indem sie zahlreiche Künstler, Schriftsteller und Angehörige weiterer Berufe ihre Ablehnung Biermanns und das Verständnis für seine Ausbürgerung artikulieren ließ. Und der Berliner Schriftstellerverband ging am 23. und am 26. November und sowie am 7. Dezember gegen eigene Mitglieder vor. Zumindest heute ist es hochpeinlich zu lesen, wie sich hier Autoren – oft der „zweiten Reihe“ – der Diktatur andienten und sich gegen ihren Kollegen Biermann wandten, während die Verfasser des Protestschreibens mit aller gebotenen Vorsicht ihre Position verteidigten. Schließlich wurden Jurek Becker, Karl-Heinz Jakobs, Sarah Kirsch, Günter Kunert und Gerhard Wolf aus der SED ausgeschlossen, Stephan Hermlin und Christa Wolf erhielten Parteistrafen. Gegen Biermann selbst formulierten die Parteioberen jetzt den Vorwurf, er habe die „Konterrevolution“ vorbereitet.
Die Staatssicherheit ging jedoch in erster Linie und besonders brutal gegen die namenlos Protestierenden, also gegen auch im Westen unbekannte Menschen vor. Diese hatten ihre Meinung in anonymen Protestschreiben, Flugblättern und Wandaufschriften artikuliert. Über hundert Menschen, unter ihnen auch die Kinder von Prominenten, führten die Geheim- und Volkspolizei zu, verhafteten sie also zumindest kurzfristig, und gegen 50 von ihnen wurden Ermittlungsverfahren wegen „staatsfeindlicher Hetze“ und „Staatsverleumdung“ eingeleitet. Verschiedene von ihnen kamen in Haft. Insgesamt registrierte die Staatssicherheit mehr als 450 „feindlich-negative Vorkommnisse“. Prominenten räumte die SED in der Regel jedoch die Möglichkeit ein, mit einem Dauervisum in den Westen zu reisen oder sie verließen die DDR aus Protest. Dieser Exodus verstärkte sich 1979, als der Schriftstellerverband neun Ostberliner Schriftsteller ausschloss. Sie hatten gegen die Verurteilung ihrer Kollegen Stefan Heym und Wolfgang Hilbig wegen „Devisenvergehen“ protestiert. Der eigentliche Grund war jedoch, dass es die beiden Autoren gewagt hatten, ohne Genehmigung des Ostberliner Büros für Urheberrechte Texte im Westen zu veröffentlichen.
Als Fazit der Ausbürgerung Biermanns und des Protestes dagegen verlor die SED das Vertrauen eines großen Teils der ihr bisher nahestehenden Intelligenz und Künstler. Das begründet die Stellung der Petition als ein Dokument der Zeitgeschichte. Dies wird auch dadurch nicht beeinträchtigt, dass die Protestierenden gegen die Biermann-Ausbürgerung keine grundsätzlichen Fragen – etwa die nach Meinungsfreiheit und politischer Partizipation in der Diktatur – stellten. So verstanden sich die protestierenden Künstler auch nicht als Teil einer politischen Opposition. Trotzdem war für kritisch denkende Menschen der moralische Kredit der ostdeutschen Diktatur öffentlich verspielt und langfristig war dies ein wichtiger Schritt hin zur Friedlichen Revolution von 1989/90. Der gesamte Vorgang ist inzwischen – wie weite Strecken der Geschichte des widerständigen Verhaltens in der DDR – gut erforscht und dokumentiert. Wesentliches trug dazu auch das Offenlegen verschiedener Aktenbestände der Diktatur und hier besonders der Archivalien der Geheimpolizei sowie Erinnerungen der Beteiligten bei. So ist es heute klar, dass sich die Ausweisung Wolf Biermanns durch die Politbürokratie als ein Schritt zur Selbstzerstörung der kommunistischen deutschen Diktatur erwies; mit ihr war das Ende der DDR eingeläutet.
Text: CC BY-SA 4.0
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OFFENER BRIEF[ ]
Erklärung der Berliner Künstler vom 17.11.1976
Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter. Das hat er mit vielen Dichtern unserer Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens „18. Brumair“, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiere, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können.
Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Wolf Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen. Biermann hat selbst nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er, bei aller Kritik, eintritt.
Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken.
Christa Wolf | Sara Kirsch | Volker Braun |
Gerhard Wolf | Rolf Schneider | Stephan Hermlin |
Erich Arendt | Franz Fühmann | Stefan Heym |
Jurek Becker | Günther Kunert | Heiner Müller |
Zusatz:
Wir erklären uns mit dem Protest der Berliner Schriftsteller vom 17.11.1976 gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann solidarisch:
Jutta Hoffmann | Rolf Ludwig | Robert Havemann |
Katharina Thalbach | Käthe Reichelt | Christian Kunert |
Manfred Krug | Nina Hagen | Sybille Havemann |
Ulrich Plenzdorf | Eva-Maria Hagen | |
Klaus Schlesinger | Bettina Wegner | |
Fritz Rudolf Fries | Gisela May | |
Thomas Brasch | Christiane Ufols | |
T. K. Tragelehn | Peter Herrmann | |
H.-J. Schädlich | von der Renft-Gruppe | |
Kurt Bartsch | Thomas Schoppe | |
Wassja Götze | Erika + Jürgen Böttcher | |
Hilmar Thate | Gerulf Pannach | |
Angelika Domröse | Jürgen Fuchs |
nicht zum Brief gehörend:
Die Veröffentlichung dieses Briefes in westlichen Massenmedien war nicht geplant. Wahr ist, daß er an Erich Honecker und der Redaktion des „Neuen Deutschland“ mit der Bitte um Veröffentlichung übergeben worden ist.
Hier nach „Wir protestieren“: Offener Brief der Berliner Künstler mit der Bitte um die Rücknahme der Ausbürgerung Wolf Biermanns vom 17. November 1976, Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., Berlin.
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Wolf Biermann, Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie. Propyläen, Berlin 2016.
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Biermann und kein Ende: Eine Dokumentation zur DDR-Kulturpolitik [Бирманн и без конца: документация о культурной политике ГДР] / под ред. D. Keller, M. Kirchner. Berlin: Dietz, 1991 (=Zeitthemen).
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