Proklamation des Provisorischen Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiterdeputierten

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Proklamation des Provisorischen Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiterdeputierten
27. Februar 1917 JL

Während der Revolution von 1905-1907 entstanden in Russland zum ersten Mal Sowjets der Arbeiterdeputierten, als Kampforgane für die Rechte der Arbeiter. Nach dem Sturz der zarischen Regierung im Zuge der Februarrevolution 1917 stand die Frage der Sowjets als Vertretung der Arbeiter und Soldaten erneut auf der Tagesordnung. Am 27. Februar (12. März) gründeten die Mitglieder der Arbeitergruppe des Zentralen Industriekomitees, linke Abgeordnete der Staatsduma und Vertreter der sozialistischen Parteien das Provisorische Exekutivkomitee des Sowjets, das die Organisation der Sowjetwahlen in allen Betrieben in Angriff nahm. In dieser Proklamation, dem ersten offiziellen Dokument des Exekutivkomitees, riefen seine Mitglieder die Arbeiter und Soldaten der Hauptstadt auf, ihre Deputierten in den Sowjet zu entsenden.



von: Aleksandr Šubin, 2011 (aktualisiert 2024)


Im Winter 1916/17 steuerte Russland auf eine politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise zu. Im Januar / Februar 1917 war der Nahrungsmittelbedarf in Petrograd und Moskau nur zu 25 % gedeckt.[1] Vor Brotläden bildeten sich lange Schlangen empörter Bürger, sogenannte chwosty („Schwänze“). Diese chwosty verwandelten sich in mehrstündige Versammlungen, bei denen vor allem Frauen anwesend waren. „Vor den kleinen Läden und Bäckereien stehen Tausende von einfachen Leuten trotz des knisternden Frosts Schlange und hoffen, einen Laib Schwarzbrot zu bekommen“, schrieb die Zeitung Rech‘ am 14. Februar. Dabei waren teurere Brotsorten und Feingebäck noch reichlich vorhanden, die Arbeiter hatten jedoch kein Geld, um es sich zu leisten.

Der Anstieg der Lebensmittelpreise und die Lieferengpässe wurden von Übergriffen auf die sozialen Rechte der Arbeiter begleitet. Am 8./9. (21./22.) Februar begann der Streik der Arbeiter des Ižora-Betriebes, deren Löhne um 25 % gesunken waren. Am 16. Februar (1. März) wurde der Betrieb von Truppeneinheiten besetzt. Am 17. Februar (2. März) begann ein spontaner Streik in den Putilov-Werken, der sich am 21. Februar (6. März) auf das gesamte Werk ausbreitete. Die Streikenden wählten ein Streikkomitee, das sich aus Bolschewiki, Anarchisten, Linken Menschewiki und Linken Sozialrevolutionären zusammensetzte. Am 22. Februar (7. März) beschloss die Betriebsleitung, die gesamte Belegschaft zu entlassen. In der Hauptstadt bildete sich eine kritische Masse unzufriedener Arbeiter. Arbeiter, die unter Lebensmittelknappheit litten, bildeten ein explosives Umfeld. Es fehlte nur noch der „Zünder“. Ein Polizeibeamter berichtete: „Aufgrund des Brotmangels gärt es gewaltig in den Arbeitermassen, die meinen Zuständigkeitsbezirk bewohnen. Man hat mit großen Straßenunruhen zu rechnen. Die Lage ist so gravierend, dass manche Menschen sich bekreuzigen und vor Freude weinen, weil sie nach langem Warten zwei Pfund Brot erhalten haben“.[2]

In dieser Situation konnte der kleinste Funke zur großen Explosion führen. „Keine einzige Partei bereitete sich auf den großen Umsturz vor“, bemerkte treffend N. Suchanov, Mitglied des Provisorischen Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiterdeputierten, „alle träumten nur, hatten Vorahnungen, ‚spürten‘.“[3] Unter diesen Umständen konnten die Organe der Arbeiterselbstverwaltung eine entscheidende Rolle in den revolutionären Ereignissen spielen.

Der Traum von der Revolution war abstrakt, aber die revolutionären Parteien hatten die im Kalender rot gedruckten Feiertage nicht vergessen. Am 23. Februar des julianischen Kalenders (nach dem gregorianischen Kalender war es der 8. März) organisierten sozialistische Gruppen Umzüge zum Internationalen Frauentag. Zu den kleinen Demonstrationen der sozialistischen Arbeiterinnen gesellten sich bald Massen von Frauen, die Schlange standen. Ihrem Beispiel folgten zahlreiche Arbeiter der Putilov- und Ižora-Werke, die kurz zuvor entlassen worden waren. Die Arbeiterinnen der Neva-Textilmanufaktur überredeten die Arbeiter der Fabrik „Novyj Lessner“, sich der Demonstration anzuschließen. Der Prozess nahm lawinenartigen Charakter an. Gewaltige Demonstrationszüge, verstärkt durch einen immer größer werdenden Menschenstrom, bewegten sich in Richtung Stadtzentrum und demolierten unterwegs die teuren Bäckereien.

Am 24. Februar (9. März) stellte der Truppenbefehlshaber des Petrograder Militärbezirks Chabalov der Bevölkerung Brot aus Armeevorräten zur Verfügung, doch die Unruhen konnten dadurch nicht beendet werden. Die Demonstranten trugen Transparente mit der Aufschrift „Nieder mit der Autokratie!“. Die Versuche der Polizei, die Ansammlungen zu zerstreuen, stießen auf Widerstand. Am 23. und 24. Februar (jeweils 8. und 9. März) wurden 28 Polizisten verprügelt.[4] Die Arbeiter wurden teilweise von Kosaken unterstützt, die bis dahin als Stützte des zarischen Regimes gegolten hatten.

Die spontane Bewegung verlangte nach einer Organisation. Sonst wäre der ganze Vorgang nur ein „Brotaufruhr“ geblieben. Am 23. und 24. Februar (jeweils 8. und 9. März) fanden lebhafte Beratungen zwischen Vertretern der Arbeiterorganisationen und der sozialistischen Parteien statt. Dabei wurde die Idee geboren, die Erfahrungen von 1905 zu nutzen und einen Sowjet der Arbeiterdeputierten zu gründen. Bereits am 24. Februar (9. März) begannen die Sowjetwahlen im Gebäude der Petrograder Union der Verbrauchergesellschaften.[5]

In der Nacht auf den 26. Februar (11. März) verhafteten die Behörden etwa 100 Aktivisten der revolutionären Parteien. Unter den Verhafteten befanden sich auch die Initiatoren der Sowjetgründung. Die Revolution entwickelte sich jedoch unabhängig vom Willen der politischen Aktivisten. Die Massen „gebaren“ Hunderte von Agitatoren aus den eigenen Reihen.

Am 27. Februar (12. März) wurden die Arbeiterunruhen von den Einheiten der Petrograder Garnison unterstützt. Die aufständischen Truppen befreiten politische Gefangene, darunter die Mitglieder der Arbeitergruppe des Zentralen Industriekomitees unter der Führung von K. Gvozdev, die im Januar verhaftet worden waren. Unter Beteilung linker Abgeordneter und sozialistischer Parteien bildete diese Gruppe das Provisorische Exekutivkomitee des Sowjets, das – erweitert um bereits gewählte Deputierte – mit der Organisation von Sowjetwahlen in allen Betrieben begann. Am 27. Februar (12. März) hielt das Provisorische Exekutivkomitee seine erste Sitzung im Taurischen Palais, dem Sitzungsgebäude der Staatsduma, ab. Von den mehr als 200 Teilnehmern waren 40-45 Vertreter von Betriebskollektiven.

Die wichtigste Neuerung bei den Wahlen war die Aufnahme von Soldatenvertretern in den Sowjet. Bereits die erste Sitzung des Exekutivkomitees war der Herstellung der öffentlichen Ordnung, der Organisation der Kriegshandlungen und der Versorgung der Truppen gewidmet. Die Aufmerksamkeit, die der Sowjet den Soldatenmassen widmete, war entscheidend für die Stärkung seines Einflusses. Das Provisorische Exekutivkomitee des Sowjets „traf Sondermaßnahmen für die Organisation der Verpflegung der von ihren Kasernen getrennten, verzettelten und obdachlosen aufständischen Truppenteile“, erinnerte sich N. Suchanov.[6]

„Somit verwandelte sich das Taurische Palais nicht nur in einen Militärstab, sondern auch in eine Versorgungsstelle. Dies hat sofort eine praktische Verbindung zwischen dem ‚Sowjet‘ und der Masse der Soldaten geschafften“, bemerkte der Historiker S. Ol'denburg.[7] In kurzer Zeit wurde der Sowjet durch Vertreter der aufständischen Truppeneinheiten erweitert. Die Perspektive, die sich den sozialistischen Führern mit der Durchsetzung der Kontrolle über die Soldatenmassen eröffnete, zwang sie dazu, privilegierte Normen für die Vertretung der Soldaten in den Sowjets zu schaffen: Eine Truppenkompanie wurde mit tausend Arbeitern gleichgesetzt. Kein Wunder also, dass „auf den Fotografien des Sowjets [...] Militäruniformen das Bild“ beherrschten.[8] Der Sowjet war von Anfang an eher ein Soldaten- als ein Arbeitersowjet. Ein amerikanischer Historiker spricht von „institutions of popular selfgovernment“.[9]

In das Exekutivkomitee wurden vor allem die Führer der in der Arbeiterschaft bekannten linkssozialistischen Gruppierungen sowie diejenigen gewählt, die auf der ersten Sitzung des Sowjets erfolgreiche Reden gehalten hatten. Am 28. Februar (13. März) wurde das Exekutivkomitees durch Vertreter der (in ihrer Mehrheit gemäßigten) revolutionären Parteien erweitert.

Damit war in der Stadt ein neues Machtorgan entstanden, das in engem Kontakt mit den Betrieben, den aufständischen Truppeneinheiten, den revolutionären Parteien und den Arbeiterorganisationen stand. Es ging nicht mehr um einen Aufstand, nicht mehr um einen politischen Umsturz, sondern um einen Machtkampf breiter sozialer Schichten mit dem Ziel, die Grundlagen des politischen und gesellschaftlichen Systems des Landes zu verändern, also um eine soziale Revolution.


Text: CC BY-SA 4.0

  1. Igorʹ P. Lejberov/Svetlana Dmitrievna Rudačenko, Revoljucija i chleb. Myslʹ, Moskva 1990, S. 18.
  2. Ebd.
  3. Suchanov, Tagebuch der russischen Revolution, S. 18.
  4. Sergej S. Ol’denburg, Carstvovanie Imperatora Nikolaja II. TERRA, Moskva 1992, S. 620.
  5. Jurij S. Tokarev, Petrogradskij sovet rabočich i soldatskich deputatov v marte–aprele 1917 g. Nauka, Leningrad 1976, S. 11-12.
  6. Suchanov, op. cit., S. 45.
  7. Ol'denburg, op. cit., S. 624.
  8. Richard Pipes, Die russische Revolution. Bd. 1: Der Zerfall des Zarenreiches. Rowohlt, Berlin 1992, S. 502.
  9. Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising. Indiana Univ. Press, Bloomington 1992, S. 28.


Proklamation des Provisorischen Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiterdeputierten, 27. Februar (12. März) 1917[ ]

Bürger!

Die Vertreter der Arbeiter, der Soldaten und der Einwohner von Petrograd, die in der Staatsduma versammelt sind, geben bekannt, daß die erste Sitzung dieser Vertreter heute, am 27. Februar, abends im Gebäude der Duma stattfindet.

Alle jene Truppen, die sich auf die Seite des Volkes gestellt haben, sollen unverzüglich ihre Vertreter wählen, für jede Kompanie einen Mann.

Die Fabrikarbeiter wählen einen Deputierten auf je tausend Mann.

Fabriken mit weniger als eintausend Arbeitern entsenden jeweils einen Deputierten.

27. Februar 1917.

Das Provisorische Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiterdeputierten

Rev. Übersetzung hier nach: Hellmann, M. (Hrsg.), Die Russische Revolution 1917, München 1964, S. 128.




Hier nach: GCMSIR, f. listovok, GIK Nr. 6000/a. Flugblatt. Gemeinfrei (amtliches Dokument).

Helmut Altrichter, Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst. 2. Aufl., Schöningh, Paderborn 2017.

Ėduard N. Burdžalov, Vtoraja russkaja revoljucija. Moskva, front, periferija [Die zweite russische Revolution. Moskau, die Front, die Peripherie]. Nauka, Moskva 1971.

Ėduard N. Burdžalov, Russia’s Second Revolution: The February 1917 Uprising in Petrograd (=Indiana-Michigan series in Russian and East European studies). Indiana Univ. Press, Bloomington 1987.

Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution, 1891 bis 1924. Berlin-Verlag, Berlin 1998.

Tsuyoshi Hasegawa, The February Revolution: Petrograd, 1917 (=Publications on Russia and Eastern Europe of the School of International Studies 9). Univ. of Washington Press, Seattle/London 1981, Online.

Igorʹ P. Lejberov/Svetlana Dmitrievna Rudačenko, Revoljucija i chleb [Revolution und Brot]. Myslʹ, Moskva 1990.

Sergej S. Ol’denburg, Carstvovanie Imperatora Nikolaja II [Die Herrschaft vom Zaren Nikolaus II.]. TERRA, Moskva 1992.

Richard Pipes, Die russische Revolution. Bd. 1: Der Zerfall des Zarenreiches. Rowohlt, Berlin 1992.

Aleksandr V. Šubin, Velikaja Rossijskaja revoljucija: ot fevralja k oktjabrju 1917 goda [Die Große Russländische Revolution: Von Februar bis Oktober 1917]. Rodina Media, Moskva 2014.

Nikolaj N. Suchanov, 1917: Tagebuch der russischen Revolution. Hrsg. von Nikolaus Ehlert. Piper, München 1967.

Jurij S. Tokarev, Petrogradskij sovet rabočich i soldatskich deputatov v marte–aprele 1917 g. [Das Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatenräte im März–April 1917]. Nauka, Leningrad 1976.

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