Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht (Wehrpflichtgesetz) der Deutschen Demokratischen Republik vom 24. Januar 1962

Einführung

Im Osten Deutschlands hatte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (GlossarSED) ab 1948 mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht erste streng geheim gehaltene Schritte zur Aufrüstung in ihrem Herrschaftsbereich eingeleitet. Im Oktober 1949, dem Gründungsmonat der DDR, gehörten militärisch orientierte Polizeikräfte bereits zum Machtapparat des sich etablierenden SED-Regimes. Bis Mitte der fünfziger Jahre wurden vor dem Hintergrund des GlossarKalten Krieges und mit tatkräftiger Unterstützung der Sowjetunion diese kasernierten Polizeiverbände qualitativ und quantitativ zu militärischen Formationen ausgebaut.

Als Grundlage für den getarnten Aufbau und die personelle Auffüllung des ostdeutschen Militärs diente seit Ende der vierziger Jahre das so genannte Freiwilligenprinzip. Es ermöglichte männlichen DDR-Bürgern, sich ab dem 18. Lebensjahr freiwillig zum Dienst in den bewaffneten Kräften zu melden. Dabei ging es der SED vor allem darum, einen politisch verlässlichen Kaderstamm für eine künftige reguläre Armee aufzustellen und zu formen.

Obwohl sich in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre viele Jugendliche durchaus freiwillig zum Dienst in der GlossarKasernierten Volkspolizei meldeten, zeigte sich rasch, dass die Mehrheit der jungen Männer in der DDR – wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – einem Militärdienst generell ablehnend gegenüberstand. Von Anfang an überließ man daher die Freiwilligkeit nicht dem sog. Selbstlauf, sondern versuchte, umfangreiche Rekrutierungsmaßnahmen durchzusetzen. In allen Bezirken und Kreisen entstanden Dienststellen zur Werbung von Freiwilligen. Die Partei- und Staatsorgane übten erheblichen Druck auf die Jugendlichen im wehrfähigen Alter aus, um deren Bereitschaft zum "freiwilligen" Eintritt in die kasernierten Polizeieinheiten zu erreichen. Die Methoden dieser Werbung und die Formen der Rekrutierung hatten bereits Mitte der fünfziger Jahre das Ausmaß einer versteckten Dienstpflicht angenommen.

Im September 1955 – offenbar auch als Reaktion auf den Beitritt der Bundesrepublik zur GlossarNATO – erfolgte dann ein erster entscheidender Schritt auf dem Weg zur Wehrpflicht. In Ergänzung der Artikel 5 und 112 der ostdeutschen Verfassung von 1949, die bis zu diesem Zeitpunkt keine rechtlichen Voraussetzungen für die Organisation und den Einsatz von Streitkräften beinhaltet hatte, beschloss die GlossarVolkskammer der DDR per Gesetz u.a., dass fortan der Dienst "zum Schutze des Vaterlandes" und der "Errungenschaften der Werktätigen" eine "ehrenvolle nationale Pflicht" der Bürger der DDR sei. Noch ging von diesem Passus aber nur eine eher moralische Verpflichtung aus.

Wenige Monate später, im Januar 1956, wurden mit der Gründung der GlossarNVA offiziell reguläre Streitkräfte in der DDR geschaffen. Ihre Basis bildeten die bisher getarnten militärischen Formationen der Kasernierten Volkspolizei. Die SED-Führung verzichtete jedoch auf die Einführung der Glossarallgemeinen Wehrpflicht in der DDR. Die Armee sollte vorerst weiterhin mit "Freiwilligen" aufgefüllt werden. Ihre Gesamtpersonalstärke wurde sogar im Juni 1956 von 120.000 auf 90.000 Mann gesenkt.

Für diese Entscheidungen waren vor allem politische und propagandistische Gründe mit Blick auf die Entwicklung im anderen Teil Deutschlands ausschlaggebend. Es ging der DDR einerseits darum, sich vor dem Hintergrund der bevorstehenden Einfuehrung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik im Juli 1956 einmal mehr als der "bessere" deutsche Staat zu präsentieren, der seinen Bürgern "im Interesse von Frieden und Abrüstung" keine Militärdienstpflicht aufzuerlegen brauchte. Andererseits glaubte man im Zeichen selbst verordneter "nationaler Verantwortung", mit der demonstrativen Nichteinführung der Wehrpflicht die Verabschiedung des bundesdeutschen Wehrpflichtgesetzes verhindern oder wenigstens verzögern zu können.

Letztlich ausschlaggebend für die Beibehaltung des Freiwilligensystems in der DDR war jedoch die damals noch offene Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten. Mit der Einführung der Wehrpflicht hätte sich zweifellos die Fluchtbewegung von Jugendlichen im wehrfähigen Alter in Richtung Westen erheblich verstärkt. 1955 waren bereits die Flüchtlingszahlen in dieser Personengruppe im Vergleich zum Vorjahr von rund 15.000 auf über 41.000 angestiegen.

Die NVA der DDR blieb also im Verlauf der folgenden Jahre offiziell – und war damit im Bündnis des GlossarWarschauer Pakts die Ausnahme – eine Freiwilligenarmee. Die damit verbundenen Probleme für die weitere militärische Entwicklung der DDR-Volksarmee zeigten sich schon bald. Die wachsende Abneigung der Jugendlichen, sich zu einem angeblich freiwilligen Wehrdienst pressen zu lassen, die Flucht von wehrdienstfähigen Jugendlichen und von Soldaten aus der DDR in den Westen sowie geringere Werbeergebnisse gefährdeten zunehmend die personelle Auffüllung und damit auch die Einsatzbereitschaft der NVA insgesamt. Hinzu kamen demographische Entwicklungen, die das Freiwilligenprinzip immer mehr in Frage stellten. Aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge zeichnete sich ein rapider Rückgang der Anzahl männlicher Jugendlicher im wehrfähigen Alter ab. Für die Einstellungsjahre 1961 bis 1965 hätten zwei von drei Jugendlichen eines Jahrgangs für den freiwilligen Dienst in den bewaffneten Kräften geworben werden müssen, was angesichts der bereits in den Vorjahren aufgetretenen Schwierigkeiten der Rekrutierung illusorisch war.

Den Ausweg aus diesem Dilemma konnte nur noch die Wehrpflicht eröffnen. Diese wiederum war praktisch aber erst dann durchzusetzen, wenn es gelang, die Massenfluchtbewegung der Menschen aus dem Osten in Richtung Westen endgültig zu stoppen. Im August 1961 schloss die DDR ihre Grenzen zu West-Berlin und zur Bundesrepublik und mauerte damit ihre Bürger quasi ein. So wie der GlossarMauerbau 1961 dem SED-Regime die Fortsetzung seiner Herrschaft insgesamt sicherte, so bildete sie nunmehr auch die entscheidende Voraussetzung für den Übergang vom Freiwilligen- zum Wehrpflichtsystem in der DDR. Bereits wenige Wochen nach dem Mauerbau, am 20. September 1961, verankerte man im neuen Verteidigungsgesetz die gesetzliche Möglichkeit zur Einführung der Wehrpflicht. Aber erst nachdem sich die SED-Führung im Dezember 1961 die obligatorische Zustimmung aus Moskau eingeholt hatte, verabschiedete die Volkskammer der DDR am 24. Januar 1962 einmütig das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht (Wehrpflichtgesetz).

Der Verteidigungsminister der DDR, Armeegeneral GlossarHeinz Hoffmann, begründete vor der obersten Volksvertretung der DDR das Gesetz mit dem selbstverständlichen Recht eines jeden souveränen Staates, seinen Bürgern die Pflicht zum Waffendienst aufzuerlegen. Diese Pflicht sei jedoch in einem sozialistischen Staat besonders groß, so Hoffmann, weil der Soldat seinem eigenen Staat, seinem Volk und der "gerechten Sache des Sozialismus und des Friedens" diene. Da sich die internationale Lage seit 1956 durch die forcierte Aufrüstung der westdeutschen Bundeswehr und anderer NATO-Staaten gravierend geändert habe, sei es nunmehr Pflicht aller Bürger, die sozialistischen Errungenschaften der DDR zu schützen. Das entspräche zugleich deren Willen und Forderungen. Nicht zuletzt hätten die Erfahrungen der Sowjetarmee und der anderen Warschauer-Pakt-Armeen gezeigt, dass die allgemeine Wehrpflicht das zweckmäßigste System der Auffüllung einer sozialistischen Armee sei.

Mit dem Wehrpflichtgesetz wurde die allgemeine Wehrpflicht in der DDR gesetzlich geregelt und die Rechte und Pflichten der Angehörigen der NVA festgelegt. Das schloss auch das aktive und passive Wahlrecht der Soldaten ein. Zeitgleich ergingen zahlreiche Ausführungsbestimmungen zum Wehrpflichtgesetz, die damit die Wehrordnung der DDR normativ komplettierten. Dazu gehörte der Fahneneid nach sowjetischem Muster, der die Soldaten dazu verpflichtete, jederzeit bereit zu sein, "den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen" und ihr "Leben zur Erringung des Sieges" einzusetzen.

Das Wehrpflichtgesetz erklärte die Wehrpflicht und den freiwilligen Wehrdienst zu den grundlegenden Prinzipen der Personalrekrutierung. Die allgemeine Wehrpflicht umfasste die Verpflichtung, sich zur Erfassung zu melden, zur Musterung und Diensttauglichkeitsuntersuchung zu erscheinen, den Wehrdienst als aktiven Dienst und Reservistenwehrdienst in der NVA abzuleisten und Veränderungen zur Person mitzuteilen. Eine Freistellung oder Zurückstellung vom Wehrdienst war aus besonderen Gründen möglich. Die allgemeine Wehrpflicht erstreckte sich auf die männlichen Bürger der DDR vom 18. bis zum vollendeten 50. Lebensjahr. Bei Offizieren endete sie mit der Vollendung des 60. Lebensjahres. Im Verteidigungsfall unterlagen alle männlichen Bürger zwischen 18 und 60 Jahren der Wehrpflicht. Eine Sonderregelung sah für diesen Fall zudem vor, "diensttaugliche" Frauen zwischen dem 18. und 50. Lebensjahr zu medizinischen, technischen oder anderen Sonderdiensten in der NVA zu verpflichten. Die Dauer des Grundwehrdienstes wurde in Anlehnung an die Regelungen der Wehrpflicht in der Bundesrepublik auf 18 Monate festgelegt. Große Bedeutung maß die DDR dem Reservistenwehrdienst bei. Die Reservisten konnten zur Ausbildung, zu Übungen und zur Überprüfung ihrer Kampffähigkeit kurzfristig einberufen werden.

Die Regelungen des Wehrpflichtgesetzes von 1962 schufen erstmalig Voraussetzungen für eine systematische militärische Ausbildung aller wehrfähiger männlicher Bürger und – in Verbindung mit der weiter bestehenden Möglichkeit des freiwilligen Dienstes – gewährleisteten eine kontinuierliche personelle Auffüllung der Streitkräfte. Neben der Beseitigung des Rekrutierungsproblems erhoffte sich die SED darüber hinaus eine Verbesserung der Bildung und Qualifikation in der Truppe. Das Wehrpflichtgesetz ermöglichte nunmehr auch eine gezielte politische und ideologische Erziehung junger DDR-Bürger zu "sozialistischen Soldatenpersönlichkeiten". Der Wehrdienst sollte in diesem Sinne als "Schule der politisch-militärischen Ausbildung und Erziehung" disziplinierend und indoktrinierend wirken. Die Einführung der Wehrpflicht war nicht zuletzt eine wichtige Voraussetzung, den Integrationsprozess der DDR-Streitkräfte in Warschauer Pakt weiter voranzutreiben.

Am 4. April 1962 rückten die ersten Wehrpflichtigen in die Kasernen ein. Die übergroße Mehrheit der gemusterten Jugendlichen kam gezwungenermaßen ihrer gesetzlichen Pflicht zum Dienst in der NVA nach. Dennoch löste das Wehrpflichtgesetz auch Ängste, Unmut und Ablehnung unter Teilen der ostdeutschen Jugend aus. Anders als in der Bundesrepublik gab es kein GlossarRecht auf Kriegsdienstverweigerung. Gegner der Wehrpflicht und des Wehrdienstes wurden von der SED mit Feinden des Friedens und des Sozialismus gleichgesetzt und gesellschaftlich geächtet. Die Strafbestimmungen des Wehrpflichtgesetzes sahen für Wehrdienstverweigerer Gefängnisstrafen vor.

Vor dem Hintergrund steigender Verweigerungszahlen sowie unter dem Druck der Kirchen schuf die DDR-Führung daher im Jahr 1964 vor allem für religiös gebundene Bürger die Möglichkeit eines waffenlosen Wehrdienstes. Diese im Warschauer Pakt einmalige Regelung sah vor, dass Wehrpflichtige ihren Dienst in so genannten GlossarBaueinheiten ohne Waffe ableisten konnten. Wehrdiensttotalverweigerer erhielten nach wie vor Haftstrafen.

Für Generationen junger Männer in der DDR wurde der 18-Monate-Wehrdienst zu einem festen Bestandteil ihrer Biographie – zu einer Lebensetappe, die man freilich ohne Begeisterung anging und möglichst unbeschadet hinter sich bringen wollte.

Über zwei Jahrzehnte hinweg regelten das Wehrpflichtgesetz von 1962 sowie seine zahlreichen Durchführungsbestimmungen und Änderungsverordnungen die Wehrpflicht und den Wehrdienst in der DDR. Im März 1982 erfolgte dann die Verabschiedung eines neuen Wehrdienstgesetzes, das das Wehrpflichtgesetz von 1962 außer Kraft setzte. Zwar blieben grundlegenden Regelungen des alten Wehrpflichtgesetzes wie die Dauer des Grundwehrdienstes oder der Fahneneid unverändert. Doch zeigte sich eine insgesamt noch stärkere politisch-ideologische Einbindung der Wehrpflicht in den sozialistischen Staat. Neu war u.a., dass die Vorbereitung auf den Wehrdienst zum Bestandteil der Erziehung und Ausbildung an Schulen, Berufsbildungseinrichtungen und Hochschulen erklärt wurde. Das Gesetz bestimmte darüber hinaus die Verlängerung für Reservistenübungen und die Einbeziehung von Frauen während der Mobilmachung und im Verteidigungszustand. Das Wehrdienstgesetz von 1982 bildete damit eine wichtige Grundlage für die weitere Militarisierung der DDR-Gesellschaft in den achtziger Jahren.

Erst die friedliche Revolution 1989/90 schuf die Voraussetzung, die Wehrpflicht und den Wehrdienst in der DDR grundlegend neu zu regeln. Im April 1990 verabschiedete die Volkskammer ein Gesetz, in dem erstmalig die Wehrpflicht und ein GlossarZivildienst gleichberechtigt nebeneinander als Dienstpflicht eingearbeitet wurden. Die Dauer dieser Dienstpflicht betrug nunmehr einheitlich 12 Monate. Die NVA erhielt darüber hinaus einen neuen Fahneneid, mit dem man sich solcher Begriffe wie "Feind" oder "Sozialismus" entledigte. Nur wenige Monate später, am 2. Oktober 1990, endete die Geschichte der DDR und ihrer Armee.

Anfangs als notwendiges Mittel zur personellen Verstärkung und Qualifizierung der Streitkräfte sowie zur Bereitstellung umfangreicher Reserven gedacht, wurde die Wehrpflicht in der DDR zunehmend institutionalisiert. Unter den Bedingungen der "realsozialistischen" Gesellschaft konnte es daher nicht ihre Aufgabe sein, demokratische Strukturen in der Armee zu schaffen und zu fördern. Vielmehr nutzte die SED die Möglichkeiten der Wehrpflicht und des Wehrdienstes, um ihre Politik der Indoktrination und Militarisierung durchzusetzen.

Rüdiger Wenzke