Erhebung des Meinungsforschungsinstituts EMNID "Der Wandel der Erziehungsziele in der Bundesrepublik Deutschland, 1951-1998"

Einführung

Der sozialstrukturelle und -kulturelle Wandel der 50er und 60er Jahre veränderte nicht nur die materiellen Existenzbedingungen, sondern auch Meinungen, Einstellungen und teilweise Grundüberzeugungen. Die Soziologie hat darauf bereits in den 70er Jahren reagiert und sogar – teils euphorisch, teils mit Bedauern – einen grundstürzenden Wandel traditioneller Werte konstatiert. Inwiefern tatsächlich "Werte" als lang andauernde und nur allmählich veränderbare Sinnstiftungsmuster in einem derart kurzen Zeitraum fundamental ins Trudeln gerieten, kann aus historiographischer Perspektive nur annäherungsweise beurteilt werden. Das liegt nicht nur daran, dass Wertvorstellungen schwer messbar sind, sondern hängt auch damit zusammen, dass vergleichbare Daten zumeist erst seit den frühen 50er Jahren vorliegen.

Auch wenn es über die Tiefe, das Tempo und die Ausformungen des Wertewandels auseinandergehende Meinungen gibt, so besteht doch weitgehend Übereinstimmung darin, dass durch den zunehmenden Wohlstand, die Öffnung der Gesellschaft und die Hebung des Bildungsniveaus zumindest bis zur Mitte der 70er Jahre "postmaterialistische Werte" an Bedeutung gewannen. Damit sind grundlegende Orientierungsmuster gemeint, die nicht auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse gerichtet sind, sondern auf die Verbesserung der Lebensqualität im Sinne von Selbstverwirklichung und Partizipation.

Als in den frühen 60er Jahren nach dem Ende der Rekonstruktionsphase existentielle Grundbedürfnisse wie Ernährung und Wohnung befriedigt waren, die äußere Sicherheit durch ein stabilisiertes Staatswesen gewährleistet schien und durch die GlossarEntspannungspolitik auch die Blockkonfrontation im Kalten Krieg nachließ, nahm nicht nur die Bereitschaft zur politischen und kulturellen Liberalisierung zu. Im gleichen Maß wuchs auch die Aufmerksamkeit, mit der sich die Bundesbürger jenen Aspekten des Alltagslebens widmeten, die nicht unmittelbar existenzbezogen waren. Werte der Akzeptanz gegenüber Vorgaben traditionaler Autoritäten verloren an Bedeutung, während Werte der Selbstentfaltung wichtiger wurden. Dieser Pluralisierungsvorgang, das heißt die Ausdifferenzierung vorher weniger entwickelter „Sinn-, Lebens- oder Optionsmuster" (GlossarHelmut Klages) wurde durch die Reduzierung der Arbeitszeit vorangetrieben. Diese Entwicklung verschob die Gewichte zwischen Arbeit und Freizeit so sehr, dass Zeitgenossen sogar vom Aufkommen einer "Freizeitgesellschaft" sprachen.

Für die Bewältigung dieser historisch beispiellosen Situation konnte auf Erfahrungswerte der älteren Generationen oder auf Orientierungshilfen der traditionellen sozialmoralischen Milieus kaum zurückgegriffen werden. Hinzu kam, dass sich die Bindekraft von Klasse, Religion, Region und Familie lockerte. Damit stiegen die Anforderungen an den Einzelnen, sich selbständig in der Gesellschaft zu orientieren. Die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, verbesserte sich durch eine Ausdehnung der individuellen Erfahrungs- und Reflexionshorizonte, die die Medialisierung, insbesondere der Aufstieg des Fernsehens, die Automobilisierung und der Ausbau des Bildungssystems mit sich brachten.

Aus soziologischer Perspektive werden die 60er Jahre als Sattelphase eines gesellschaftlichen Umbruchs angesehen. Noch unter dem Eindruck dieser Dynamik und unmittelbar vor dem Beginn der "GlossarOelkrise" sah der amerikanische Soziologe GlossarDaniel Bell in diesem Jahrzehnt den Beginn einer "postindustriellen Gesellschaft". Für das Gebiet der Literatur verkündete GlossarLeslie Fiedler 1968 den "Tod der Moderne" und prägte mit dem Begriff der "Postmoderne" ein begierig aufgegriffenes Label zur Kennzeichnung des kulturellen Umbruchs. Für GlossarUlrich Beck haben zentrale Entwicklungen, die zur "Zweiten Moderne" hinführten, in 60er Jahren begonnen: der Individualisierungsschub und die Evidenz von Nebenfolgen der "einfachen" Modernisierung.

Auch die empirische Sozialforschung lokalisiert die Sattelphase für den Wertwandel in den langen 60er Jahren. Auf der Basis westdeutscher Umfragedaten, wie sie von Meinungsforschungsinstituten wie GlossarEmnid, Divo oder dem GlossarInstitut fuer Demoskopie in Allensbach in Form von repräsentativen Stichproben regelmäßig erhoben wurden, hat Helmut Klages die Startphase des Wertewandels auf die Jahre 1963 bis 1965 datiert und für die darauf folgenden Jahre einen "Wertewandelsschub" konstatiert, der bis etwa 1975 andauerte. Dieser Schub kam Klages zufolge zu einem Abschluss, weil sich zum einen insbesondere die ökonomischen Rahmenbedingungen geändert hätten; so setzte 1974 eine GlossarWeltwirtschaftskrise ein. Zum anderen sei eine "Sättigung" des Wandlungsbedürfnisses in der Bevölkerung eingetreten. Anschließend erfolgten nur noch situativ bedingte Schwankungen auf der Basis eines fundamental pluralisierten Wertesystems. Andere Sozialwissenschaftler haben diese Periodisierung im Wesentlichen bestätigt und teilweise detaillierter dargelegt, dass wesentliche Elemente des Wertewandels nicht erst in der Folge des magischen Datums "1968" einsetzten, sondern dass "1968" eine Folge eines bereits voll entwickelten Wertewandelsschubs darstellte.

Im Verhältnis zu den Umwälzungen in Wirtschaft und Sozialkultur verlief der Wandel der Werte nicht parallel, sondern er stellte sich erst zeitlich verzögert ein. Es dauerte einige Zeit, bis die Gesellschaft als Ganzes die schon seit den 50er Jahren radikal sich wandelnden  materiellen Verhältnisse wahrnahm, in teilweise kontroversen Debatten ihre Bedeutungen aushandelte und allmählich Konventionen für ihre sprachliche und praktische Handhabung fand.

Dies hatte vor allem damit zu tun, dass Individuen und Teilgruppen der Gesellschaft in unterschiedlichem Ausmaß und Tempo ihre Wertvorstellungen modifizierten. Kriterien wie Alter, Bildungsstand, Geschlecht, Region, Religion und soziale Herkunft bestimmten derartige Ungleichzeitigkeiten mit. Die historische Forschung hat mittlerweile einige Anhaltspunkte für die Frage nach den Folgewirkungen der in den 50er Jahren erfolgten "Modernisierung im Wiederaufbau" (Axel Schildt/Arnold Sywottek) für die Einstellungen und Wertvorstellungen der Westdeutschen herausgearbeitet. Die Ausstattung mit Konsumgegenständen, der Tourismus, verbesserte Bildung, aber auch politische und wirtschaftliche Ereignisse wie der GlossarVietnamkrieg, die GlossarRezession von 1966 oder der Dokument Regierungswechsel von 1969 beeinflussten den Wertewandel für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in unterschiedlicher Weise.

Verzögerungen und Ungleichzeitigkeiten sind zeitgenössisch immer wieder beobachtet und unterschiedlich beurteilt worden. Einer der meistdiskutierten Konflikte bewegte sich an der Generationslinie: Während die jüngeren Altersjahrgänge die gewandelten Gegebenheiten für selbstverständlich hielten und ihr Alltagsverhalten danach ausrichteten, hatten Ältere Anpassungsleistungen zu vollbringen, zu denen sie in unterschiedlich starkem Maße bereit und in der Lage waren. 1969 konstatierte Emnid unter Bezug auf zahlreiche Daten der Sozialforschung: "Seitdem wir das 2. Drittel des Jahrhunderts überschritten haben, werden die grundlegenden Wandlungen in unserer Gesellschaft immer deutlicher. Man orientiert sich auf Freizeit, Konsum und Wohlstand; den faktischen Veränderungen auf diesen Gebieten folgt die Bewusstseinsanpassung nur zögernd; die Jugend, die in die neue Zeit problemlos hineingewachsen ist, vollzieht diese Änderungen im Meinungsbild zuerst."

Das lässt sich auch beim Wandel der Erziehungsziele beobachten. Unterscheidet man bei den Umfrageergebnisse nach dem Alter und fragt nach den Voten der jüngsten Befragungsgruppen, so gaben diese jeweils deutlich höhere Präferenzen für "Selbständigkeit und freier Wille" ab. 1957 und 1965 waren es jeweils 42 %, 1967 47 %. Im Jahr 1974 lag deren Anteil mit 71 % sogar 18 % über dem Bevölkerungsdurchschnitt (Karl-Heinz Reuband). Differenziert man hier noch einmal nach dem Bildungsstand, so schält sich klar heraus, dass die die Befürwortung dieser Erziehungsziele mit abnehmendem Alter und zunehmender Bildung ansteigt. 1974 stimmten diesem Ziel 73 % der 16- bis 24jährigen Volksschulabsolventen zu, aber 82 % der gleichaltrigen Realschulabsolventen und sogar 91 % der Abiturienten. Mit dem letztgenannten Anteil lag die Avantgarde des Wertewandels zu fast 40 % über dem Bevölkerungsdurchschnitt.

Ein Blick auf die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 60er Jahre zeigt nicht nur, dass derartige Befunde erhebliche innergesellschaftliche Spannungsverhältnisse widerspiegeln. Er macht auch deutlich, dass der Wertewandel sich nicht abstrakt vollzog, sondern – wenn auch im Kielwasser eines sozialkulturellen Strukturwandels – gegen Widerstände und die Macht der Tradition durchgesetzt werden musste. Dies trieb insbesondere junge Intellektuelle um, die häufig den Generationskonflikt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Liberalisierung der Gesellschaft rückten – und zugleich von der gesamtgesellschaftlich zunehmenden Akzeptanz gesteigerter Selbständigkeit besonders profitierten.

Detlef Siegfried