"Keine Experimente!" CDU-Wahlplakat, 1957

Einleitung

Obwohl die CDU/CSU schon 1953 die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag gewonnen hatte, waren die Christdemokraten wegen schwebender Entscheidungen über die Wiederbewaffnung und andere Verfassungsfragen gezwungen gewesen, mit vielen anderen Parteien zu koalieren. Nach der Bundestagswahl 1957 war es dann möglich, eine Alleinregierung zu bilden. Lediglich die kleine konservative Deutsche Partei (DP), die nur durch vorherige Wahlabsprachen mit der CDU/CSU Mandate gewann, sich um 1960 auflöste und in der CDU aufging, fungierte als Koalitionspartner.

Der überwältigende Wahlsieg des Jahres 1957, der dritte in Folge für die CDU/CSU, war zuerst ein Triumph für Adenauer und seine Politik der Westbindung sowie der sozialen Marktwirtschaft, welche die ersten zwei Jahrzehnte der Bundesrepublik zutiefst prägte. Zugleich hatte er weitreichende Folgen für die weitere politische Entwicklung der Bundesrepublik. Die Wahl setzte die Konsolidierung der westdeutschen Parteienlandschaft fort. Nachdem 1949 zehn Fraktionen Bundestagsmandate errungen hatten, waren es 1953 bereits nur noch sechs, von denen 1957 schließlich drei bzw. vier übrig blieben (CDU/CSU, FDP, SPD, mit der DP als Anhängsel der CDU/CSU). Diese Entwicklung zugunsten der großen Volksparteien wurde im Allgemeinen als Fortschritt gegenüber der Zersplitterung der Weimarer Zeit begrüßt, selbst wenn manche Kommentatoren Sorge über die anscheinend permanente Herrschaft der CDU/CSU äußerten. Der wachsende Erfolg der CDU/CSU hat auch die Entstehung eines größeren politischen Konsenses zwischen den großen Parteien gefördert. Nachdem sie dreimal mit dem Versuch gescheitert war, eine Alternative zu der Adenauerschen Politik zu bieten, sah sich die SPD gezwungen, ihr Parteiprogramm neu zu gestalten und die Parteiführung neu zu formieren. Die SPD suchte daher die politische Mitte, zuerst 1959 beim Parteitag von Bad Godesberg, auf dem die Sozialdemokraten die soziale Marktwirtschaft bejahten und marxistischen Ballast über Bord warfen, dann später in Bekenntnissen zur NATO, zur Landesverteidigung und zur europäischen Einigung. Geführt von einer jüngeren politischen Generation, verkörpert vor allem durch Willy Brandt, machte sich die SPD während der folgenden Jahre langsam, aber sicher regierungsfähig, indem sie sich in leicht modifizierter Form viele Aspekte der erfolgreichen christdemokratischen Politik zu eigen machte.

Sicher war der Slogan "Keine Experimente" Ausdruck einer konservativen Grundstimmung, wie man sie oftmals den sogenannten "restaurativen" 1950er Jahren zuschreibt. Doch das Ganze als einfachen "Konservatismus" abzutun, übersieht, daß einige Elemente der Adenauerschen Politik – allen voran die Westbindung – an sich mehr innovativ als restaurativ waren. Immerhin, mit diesem Spruch und dem Bild des Patriarchen Adenauer wollten CDU und CSU die Wähler überzeugen, die Errungenschaften der unionsgeführten Regierungen der vorangegangenen acht Jahre nicht aufs Spiel zu setzen, eine Mahnung, die besondere Wirkung hatte, weil die SPD die Politik Adenauers damals zumindest rhetorisch vollständig ablehnte. Adenauer hat zu dieser Stimmung wesentlich beigetragen, als er in einer Wahlrede in Nürnberg warnte, ein Wahlsieg der SPD würde "den Untergang Deutschlands" bedeuten. Diese Kombination von konservativer Zufriedenheit und Warnungen über die gefährlichen Ideen der Opposition findet sich auch in den Wahlsprüchen von anderen westlichen konservativen Parteien während der 1950er Jahre: etwa in den einfachen "I like Ike" Wahlkämpfen der Republikanischen Partei in den USA 1952 und 1956 oder bei den britischen Konservativen, die, geführt von Harold Macmillan, 1959 mit dem Spruch "You’ve never had it so good" einen Wahlerfolg erzielten.

Gleichzeitig aber war dieses Plakat Ausdruck einer wachsenden Modernisierung und Amerikanisierung der westdeutschen Politik. Obwohl Wahlkämpfe immer noch auf traditionellen Reden und öffentlichen Kundgebungen bauten, avancierte die CDU/CSU unter Adenauer mit ihren schlichten, aber wirksamen Plakaten und Sprüchen zum Verfechter der neuesten Strategien der politischen Werbung. Die Parole "Keine Experimente!" wurde von Werbeprofi Hubert Strauf entworfen, dem Erfinder des erfolgreichen Coca-Cola Spruches: "Mach mal Pause." CDU/CSU-Wahlpropaganda wurde durch die neuesten Kenntnisse der Werbekunst aus Amerika beeinflußt, unterstützt von neuen Methoden der Demoskopie. Erich Peter Neumann und Elisabeth Noelle-Neumann, Mitbegründer des Instituts für Demoskopie Allensbach, lieferten detaillierte Analysen der öffentlichen Meinung, die für die CDU/CSU bei der Gestaltung und Durchführung des Wahlkampfes von entscheidender Bedeutung waren. Außerhalb der offiziellen CDU/CSU-Parteistrukturen haben auch andere formell unabhängige Gruppen wie "Die Waage" oder die "Arbeitsgruppe demokratischer Kreise" ihre eigene Propaganda für die Politik Adenauers und insbesondere für die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards entwickelt. Zudem hat die CDU/CSU einen stark personalisierten, fast präsidialen Wahlkampf geführt, konzentriert weniger auf die Partei als auf das Image Adenauers, Erhards und anderer wichtiger Politiker, die die zentralen Aspekte der CDU/CSU-Politik verkörperten. Einige Kritiker warnten damals, daß diese Art von Politik, verbunden mit Adenauers schon als autoritär angeprangerter "Kanzlerdemokratie", drohte, die CDU zum bloßen "Kanzlerwahlverein" zu degradieren, aber der Erfolg war letztlich unbestreitbar.

Dieser stark von amerikanischen Vorbildern beeinflußte Wahlkampf machte Schule in der Bundesrepublik. Von der Niederlage lernend, nahmen die anderen Parteien viele dieser Praktiken auf und modifizierten sowohl Form als auch Inhalt ihrer Werbung. In späteren Wahlkämpfen wurde es zunehmend schwieriger, Unterschiede in den Werbestrategien der Parteien auszumachen.

Die Bundestagswahl von 1957 gilt als Zenit der Ära Adenauer. Doch wurde der große Wahlsieg Adenauer und der CDU/CSU schließlich auch zum Verhängnis. Statt der normalen Streitereien mit einem Koalitionspartner spielten sich während der folgenden Legislaturperiode zunehmend Flügelkämpfe zwischen und innerhalb der Schwesterparteien ab, die eine heftige Debatte über die Nachfolge Adenauers immer wieder anheizten. Eine "Brigade Erhard" machte sich für den Wirtschaftsminister stark, während Adenauer versuchte, Erhard zu stoppen, indem er die Ambitionen anderer Unionspolitiker, wie etwa von Innen- bzw. Außenminister Gerhard Schröder, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier oder Finanzminister Frank Etzel nährte. Die Kontroverse über Adenauers 1959 leichtfertig geäußerten und dann schnell zurückgenommenen Entschluß, Bundespräsident zu werden, war nur die erste öffentliche Manifestation wachsender Spannungen innerhalb des "Kanzlerwahlvereins", die über die Bundestagswahl 1961 hinaus bis zu Adenauers endgültigem Rücktritt 1963 andauerten. Die Personalisierung der Politik machte es schwer für die Union, eine neue Führung zu küren, und noch schwieriger für den Parteivorsitzenden, die politische Bühne zu verlassen.

Die Öffentlichkeit beobachtete diese Spannungen mit wachsendem Unmut. Dissonanzen innerhalb der CDU/CSU und auch der am 13. August 1961 (d.h. mitten im Wahlkampf) beginnende Bau der Berliner Mauer trugen wesentlich dazu bei, daß die CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1961 ihre absolute Mehrheit verlor und eine Koalition mit der FDP eingehen mußte. Seitdem hat keine Partei annähernd die Chance gehabt, eine erfolgreiche Alleinregierung auf Bundesebene zu bilden. Obwohl die Amerikanisierung von deutschen Wahlkämpfen weiter voranschreitet, im Fünf-Parteien-System der heutigen Bundesrepublik gehört eine absolute Mehrheit auf Bundesebene der Vergangenheit an.

Ronald J. Granieri