Grüne Charta von der Mainau, 20. April 1961

Grüne Charta von der Mainau

I.

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland legt unter anderem folgende Grundrechte fest:

Art. 1

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft …

Art. 2

(1) Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit …

Art. 14

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

II.

Dazu ist festzustellen:

Die Grundlagen unseres Lebens sind in Gefahr geraten, weil lebenswichtige Elemente der Natur verschmutzt, vergiftet und vernichtet werden und weil der Lärm uns unerträglich bedrängt. Die Würde des Menschen ist dort bedroht, wo seine natürliche Umwelt beeinträchtigt wird. Zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten gehört auch das Recht auf ein gesundes und menschenwürdiges Leben in Stadt und Land.

III.

Voraussetzung für unser Leben ist, neben gesunder Nahrung, die gesunde Landschaft mit Boden, Luft, Wasser und ihrer Pflanzen- und Tierwelt. Diese lebenswichtigen Elemente werden übermäßig und naturwidrig beansprucht.

Immer häufiger werden lebendiger Boden vernichtet,

Oberflächen- und Grundwasser verdorben,

Luft verunreinigt,

Pflanzen und Tierwelt gestört und offene Landschaft verunstaltet.

Die gesunde Landschaft wird in alarmierendem Ausmaß verbraucht.

IV.

Wir wissen:

Auch Technik und Wirtschaft sind unerläßliche Voraussetzungen unseres heutigen Lebens.

Die natürlichen Grundlagen von Technik und Wirtschaft können weder willkürlich ersetzt noch beliebig vermehrt werden.

Deshalb ist es notwendig, gemeinsam die Lage zu überprüfen, zu planen, zu handeln, um den Ausgleich zwischen Technik, Wirtschaft und Natur herzustellen und zu sichern.

V.

Um des Menschen willen ist der Aufbau und die Sicherung einer gesunden Wohn- und Erholungslandschaft, Agrar- und Industrielandschaft unerläßlich:

Deshalb ist zu fordern:

1. eine rechtlich durchsetzbare Raumordnung für alle Planungsebenen unter Berücksichtigung der natürlichen Gegebenheiten;

2. die Aufstellung von Landschaftsplänen, von Grünordnungsplänen in allen Gemeinden für Siedlungs-, Industrie- und Verkehrsflächen;

3. ausreichender Erholungsraum durch Bereitstellung von Gartenland, freier Zugang zu Wäldern, Bergen, Seen und Flüssen und sonstigen landschaftlichen Schönheiten, stadtinnerer Freiraum in Wohnungsnähe für die tägliche Erholung, stadtnaher Erholungsraum für das Wochenende und stadtferner Erholungsraum für die Ferien;

4. die Sicherung und der Ausbau eines nachhaltigen fruchtbaren Landbaus und einer geordneten ländlichen Siedlung;

5. verstärkte Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung eines gesunden Naturhaushaltes, insbesondere durch Bodenschutz, Klima- und Wasserschutz;

6. die Schonung und nachhaltige Nutzung des vorhandenen natürlichen oder von Menschenhand geschaffenen Grüns;

7. die Verhinderung vermeidbarer, landschaftsschädigender Eingriffe, z.B. beim Siedlungs- und Industriebau, beim Bergbau, Wasserbau und Straßenbau;

8. die Wiedergutmachung unvermeidbarer Eingriffe, insbesondere die Wiederbegrünung von Unland;

9. eine Umstellung im Denken der gesamten Bevölkerung durch verstärkte Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Bedeutung der Landschaft in Stadt und Land und die ihr drohenden Gefahren;

10. die stärkere Berücksichtigung der natur- und landschaftskundlichen Grundlagen im Erziehungs- und Bildungswesen;

11. der Ausbau der Forschung für alle den natürlichen Lebensraum angehenden Disziplinen;

12. ausreichende gesetzgeberische Maßnahmen zur Förderung und Sicherung eines gesunden Lebensraumes.

Hier nach: Graf Lennert Bernadotte, Grüne Charta von der Mainau, Faltblatt, 1961.