"Aufruf an alle Deutsche!" Flugblatt Nr. 5 der "Weißen Rose", Januar 1943

Einleitung

Seit Juni 1942 verfaßten und verteilten die Münchner Medizinstudenten Hans Scholl und Alexander Schmorell Flugblätter, in denen sie zum Widerstand gegen das NS-Regime aufriefen. In kurzer Folge erschienen vier Flugschriften, die mit "Flugblätter der weissen Rose" überschrieben waren und die Ordnungsziffern I bis IV trugen. Scholl und Schmorell verschickten ihre Flugblätter per Post an ausgewählte Adressaten, die größtenteils bildungsbürgerlichen Schichten angehörten. Auf diese Gruppe waren die Texte zugeschnitten: Zahlreiche Zitate aus dem bürgerlichen Bildungskanon, die Referenz auf die christliche Glaubenswelt und eine aufwendige Sprache prägten die Flugblätter. Diese erste Widerstandsphase unterbrach die sogenannte "Frontfamulatur", die Scholl und Schmorell von Ende Juli bis Ende Oktober 1942 in Lazaretten an der Ostfront ableisten mußten. Die Front, das Elend der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten und das Kennenlernen Rußlands waren für Scholl und Schmorell, dessen früh verstorbene Mutter Russin war, einschneidende Erlebnisse, die ihren Entschluß zum Widerstand bestärkten. Als sie im November nach München zurückkehrten, begannen sie, ihre Aktivitäten auszuweiten. Im Herbst und Winter 1942 weihten sie weitere Mitstreiter in ihr Unternehmen ein: die Medizinstudenten Willi Graf, der auch schon bei der "Frontfamulatur" dabei gewesen war, und Christoph Probst, einen Jugendfreund Schmorells, sowie Professor Kurt Huber. Auch Hans Scholls Schwester Sophie, die bislang nur Mitwisserin gewesen war, wurde nun aktiv in die Pläne einbezogen. Der Widerstand radikalisierte sich.

Mitte Januar 1943 verfaßte Hans Scholl das fünfte Flugblatt "Aufruf an alle Deutsche!", das von Huber an einzelnen Stellen redigiert wurde. Erstmals hieß es nun nicht mehr "Flugblätter der weissen Rose", sondern "Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland", was eine deutlich größere Opposition suggerierte und den Plänen einer Ausweitung des Widerstands entsprach. Auch der Adressatenkreis wurde nun wesentlich weiter gefaßt. Das Flugblatt richtete sich ausdrücklich an "alle Deutsche". Dieses neue Konzept spiegelt sich in Inhalt und Sprache des Textes wider, der wesentlich klarer und konkreter ist als bei den früher verfaßten Flugschriften. Er ist inhaltlich in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil ruft Hans Scholl die Leser auf, sich vom Nationalsozialismus loszusagen. Den nationalsozialistischen Angriffskrieg sieht er als verloren an. Stattdessen fordert er in Analogie zu den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert einen "neue[n] Befreiungskrieg", der sich gegen den Nationalsozialismus richten soll. Die Alternativen, die der Flugblattext entwickelt, sind abschreckend: Hitler führe das "deutsche Volk in den Abgrund", und am Ende erwarte diejenigen, die sich dem Widerstand nicht anschließen, ein "schreckliches, aber gerechtes Gericht". Hier vergleicht Scholl die Deutschen auch mit den Juden und prophezeit, daß wie bislang die Juden von den Christen nun die Deutschen das "von aller Welt gehaßte und ausgestoßene Volk" sein würden. Im zweiten Teil des Flugblatts wendet er sich konkreten Zukunftsplanungen zu, was in den bislang verbreiteten Schriften der "Weißen Rose" nicht vorgekommen war. Scholl skizziert ein föderalistisches Deutschland innerhalb einer ebenso organisierten europäischen Staatenordnung. Friedliche Zusammenarbeit soll den "imperialistischen Machtgedanke[n]" ablösen. Erstmals nimmt das Flugblatt nun auch Bezug auf die Situation der Arbeiterschaft, die vorher als Adressat keinerlei Rolle gespielt hatte. Sie soll durch "einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden". Als gemeinsame europäische Grundlage nennt Scholl die demokratischen Grundrechte, von denen er hier Redefreiheit, Konfessionsfreiheit und den Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür explizit erwähnt. Mit dem Bezug auf die Grundrechte und dem Appell an "alle Deutsche" läßt sich das fünfte Flugblatt auch als demokratische Wende der "Weißen Rose" interpretieren.

Der "Aufruf an alle Deutsche!" wurde in etwa fünf- bis sechstausend Exemplaren produziert und erreichte damit eine wesentlich höhere Auflage als die ersten vier Flugblätter, von denen jeweils nur etwa hundert Stück hergestellt worden waren. Neben Hans Scholl und Alexander Schmorell wirkten nun auch Sophie Scholl und Willi Graf bei der Vervielfältigung der Flugblätter, der Beschaffung von Adressen aus Telefon- und Adreßbüchern und bei der Vorbereitung der Schriften zum Versand mit. Erstmals wurden die Flugblätter nicht mehr nur in München verschickt. Schmorell fuhr nach Salzburg, Linz und Wien und gab dort Flugblätter bei der Post auf. Sophie Scholl tat das gleiche in Augsburg und brachte überdies Flugschriften nach Ulm, wo sie den Schüler Hans Hirzel beauftragte, sich um den Versand zu kümmern. Die Münchner Studenten erweiterten auch die Formen ihres Widerstands. Sie begannen, ihre Flugblätter in der Stadt auszulegen, und brachten in mehreren Nächten Maueranschriften an der Universität und an Gebäuden in der Nähe an, in denen sie "Nieder mit Hitler!" und "Freiheit" forderten. Zudem versuchten sie, den Kontakt zu anderen Regimegegnern herzustellen und neue Mitstreiter zu gewinnen. Graf unternahm mehrere Reisen zu Bekannten aus der katholischen Jugendbewegung, um dort um Unterstützung zu werben. Scholl und Schmorell trafen sich mit Falk Harnack, dem Bruder von Arvid Harnack, der zur "Rote Kapelle" gehörte, um über dessen Beziehungen Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen herzustellen.

In diese Phase der Radikalisierung fielen zwei Ereignisse, die den eingeschlagenen Weg zu bestätigen schienen: Zum einen kam es bei einer Jubiläumsveranstaltung zur 470-Jahrfeier der Universität München zu Protesten der Studierenden gegen die Rede des Gauleiters Giesler. Zum anderen erreichte die Meldung von der deutschen Niederlage in Stalingrad das Reich. Beides spielt im fünften Flugblatt, das dazu in etwa zeitgleich erschien, noch keine Rolle. Doch das sechste, von Huber verfaßte Flugblatt nahm darauf Bezug und, für Probst war die Stalingrad-Niederlage der Anlaß, den schon längere Zeit von Hans Scholl erbetenen Entwurf für einen Flugblattext niederzuschreiben und Scholl auszuhändigen. Beim Verteilen des sechsten Flugblatts am 18. Februar 1943 im Lichthof der Universität München wurden Hans und Sophie Scholl verhaftet. Vier Tage später verhängte der Volksgerichtshof gegen die Geschwister Scholl und Christoph Probst die Todesstrafe, die noch am gleichen Tag vollstreckt wurde. In mehreren Nachfolgeprozessen wurden außerdem gegen Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber Todesurteile ausgesprochen. Viele weitere Mitstreiter wurden zu Haftstrafen verurteilt.

Doch auch nach der Zerschlagung der "Weißen Rose" wurden deren Flugblätter weiter vervielfältigt, verteilt und rezipiert. In Deutschland gab es mehrere Widerstandsgruppen und Einzelpersonen, die sich daran beteiligten oder die in eigenen Schriften Bezug auf die Münchner Ereignisse nahmen. Hier sind insbesondere der Münchner Chemiestudent Hans-Konrad Leipelt, der im Januar 1945 hingerichtet wurde, sowie der sogenannte "Hamburger Zweig" der "Weißen Rose" zu nennen. Auch im Ausland stieß der Widerstand der "Weißen Rose" auf Resonanz, nachdem Berichte über die Gruppe und einzelne Flugblätter aus Deutschland hinausgeschmuggelt worden waren. Das sechste Flugblatt der "Weißen Rose" wurde vom britischen Militär als Gegenpropaganda in Deutschland eingesetzt. Seit dem Sommer 1943 wurde der Text, nun mit der Überschrift "Ein deutsches Flugblatt" versehen und um einen einführenden Kommentar ergänzt, von Flugzeugen der Royal Air Force in mehreren Millionen Exemplaren über Deutschland abgeworfen. Thomas Mann erwähnte die "Weiße Rose" in seiner BBC-Rundfunksendung "Deutsche Hörer!". Das "Nationalkomitee Freies Deutschland", die Vereinigung oppositioneller deutscher Kriegsgefangener und Emigranten in der Sowjetunion, bezog sich in mehreren Flugblättern auf die Münchner Widerstandsgruppe.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des NS-Regimes geriet die "Weiße Rose" nicht in Vergessenheit. In der Bundesrepublik war die Widerstandsgruppe von Anfang an ein bedeutender Bezugspunkt kollektiver Identitätsstiftung und ist dies bis heute geblieben. In der 2003 ausgestrahlten ZDF-Fernsehsendung "Unsere Besten – Die größten Deutschen" wurden Hans und Sophie Scholl auf Platz 4 gewählt. Die Präsenz der "Weißen Rose" im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik ist vor allem auf die Initiative Inge Scholls zurückzuführen, der ältesten Schwester von Hans und Sophie Scholl. 1952 publizierte sie ihren Erinnerungsbericht "Die weiße Rose". In einem Anhang waren alle sechs Flugblätter der Widerstandsgruppe abgedruckt. Das Buch wurde bis heute in zahlreiche Sprachen übersetzt und millionenfach aufgelegt.

Christine Hikel