Dekret über das Gericht, 22. November (5. Dezember) 1917

Einleitung

Bereits die Februarrevolution hatte die innere Ordnung des zaristischen Rußland aus den Angeln gehoben. Polizeistationen wurden gestürmt, Gefängnisse geöffnet, und die alten Gerichte hörten auf, über Recht und Unrecht zu entscheiden. Die Gesetzgebung der Provisorischen Regierung führte zu Ende, was der Druck der Straße vorbereitet hatte. Sie ersetzte die Polizei durch eine Volksmiliz mit gewählter Leitung, verkündete eine vollständige und sofortige Amnestie für alle politischen Gefangenen und reformierte den Strafvollzug. Sie verbot Todesstrafe und Deportation nach Sibirien, schaffte die Geheimpolizei und die Gendarmerieabteilungen ab und löste die Sondergerichte für politische und Staatsverbrechen auf. Als neue Organe der Rechtsprechung wurden kollegiale „Friedensgerichte“ propagiert, deren Vorsitzende und Mitglieder von den Selbstverwaltungskörperschaften (den Stadtdumen in den Städten und den Zemstva auf dem Lande) bestellt werden sollten. Ziel war, die verschütteten liberalen Grundsätze der Gerichtsreform von 1864 wieder freizulegen, die Justiz aus der Umklammerung von Polizei und Verwaltung zu lösen, Rechtsstaatlichkeit herzustellen.

Der Umbau des Gerichtssystems hatte eben erst begonnen, als die Oktoberrevolution die Provisorische Regierung stürzte und den Ansätzen der bürgerlichen Gerichtsreform den Boden entzog. Die Selbstjustiz der bolschewisierten Sowjets, der Militärischen Revolutionskomitees und der Roten Garden trat neben die Friedensgerichte, kontrollierte und ersetzte sie. Bereits wenige Tage nach dem Umsturz und noch bevor ein Dekret die bolschewistischen Vorstellungen von der künftigen "proletarischen" Rechtsordnung präzisiert hatte, bildeten sich in den Arbeitervorstädten Petrograds neue Gerichtsinstitutionen - aus Repräsentanten der Räte, der Gewerkschaften und anderer Organisationen der Selbstverwaltung. Diese provisorischen Arbeitergerichte verurteilten im Schnellverfahren und im Namen der Revolution, was die Militärischen Revolutionskomitees und Roten Garden an "Konterrevolutionären", Marodeuren und sonstigen politisch oder kriminell Verdächtigen anschleppten. Die Aburteilung erfolgte - ohne Ankläger und Verteidiger, ohne Gesetze und Juristen - in einem öffentlichen Tribunal, wobei sich die Öffentlichkeit eher verschärfend als mildernd auf das Strafmaß auswirkte. Die Petrograder Stadtduma, in der die gemäßigten Sozialisten und die Partei der Konstitutionellen Demokraten (kurz Kadetten genannt) noch über die Mehrheit verfügten, beschloß in den Novembertagen, der Tätigkeit der wilden revolutionären Gerichte ein Ende zu setzen. Doch es fehlte bereits die Macht, den Entschluß zu vollstrecken. Wenig später wurde die Stadtduma, weil in den Augen der Sowjetregierung "konterrevolutionär", selbst aufgelöst und Neuwahl angeordnet.

Daß die bürgerliche Rechtsordnung mit dem Staatsapparat stürzen mußte, zerschlagen werden sollte, war für die Bolschewiki keine Frage. An die Stelle der Staatsverwaltung sollten die Räte, an die Stelle der beamteten Juristen die gewählten Laienrichter treten. Das seit Mitte November beratene und Ende des Monats schließlich verabschiedete Gerichtsdekret Nr. 1 folgte diesem Grundsatz: Es hob alle bestehenden ordentlichen Gerichte auf und kündigte ihre Neubildung aufgrund direkter demokratischer Wahlen an. Als Übergangslösung bis zur Durchführung der Wahl sollten die neuen "Ortsgerichte" - jeweils bestehend aus einem (ständigen) Richter und zwei (wechselnden) Beisitzern - von den örtlichen Sowjets bestellt werden. Untersuchungsrichter, Staatsanwaltschaft und Advokatur wurden abgeschafft; künftig konnte - so das Dekret - jeder unbescholtene Bürger im Strafprozeß als Verteidiger oder Ankläger und im Zivilprozeß als Bevollmächtigter auftreten. Bisher gültige Gesetze waren als subsidiäre Rechtsquelle weiter zugelassen. Doch ihnen übergeordnet waren "revolutionäres Gewissen" und "revolutionäres Rechtsbewußtsein". Alle Gesetze, die dem sozialdemokratischen oder sozialrevolutionären Parteiprogramm widersprachen, hatten als aufgehoben zu gelten. Die Übernahme von früheren Friedensrichtern in das neue Amt des Ortsrichters war gesetzlich möglich, die vorgeschriebene Prozedur jedoch die gleiche wie bei anderen Personen: Sie mußten von den zuständigen Sowjets bestellt, später durch Wahlen im Amt bestätigt werden. Zum Kampf mit der Konterrevolution und zum Schutz der revolutionären Ordnung gegen Plünderung, Raub, Sabotage und Amtsmißbrauch sollten neben den Ortsgerichten "Revolutionäre Tribunale" gebildet werden. Ihr Vorsitzender war zusammen mit sechs Beisitzern jeweils vom Gouvernements- oder Stadtsowjet zu wählen, so stand es im Dekret. Um den obengenannten Verbrechen auf die Spur zu kommen, wurden bei den zuständigen Räteorganen Untersuchungskommissionen eingerichtet.

Die Justiz widersetzte sich der Auflösung. Ja, ihre oberste Instanz, der "Regierende Senat", verurteilte die Politik der "selbsternannten Volkskommissare" als "kriminelle Aktion" und forderte die unteren Justizorgane auf, ihre Tätigkeit bis zur Entscheidung der Konstituierenden Versammlung fortzusetzen. Auch der Versuch, die Friedensrichter zu gewinnen, schlug fehl. Ihre Generalversammlung sprach am 27. November 1917 in Moskau der neuen Regierung die demokratische Legitimität ab und erklärte, weiterhin nach den Instruktionen des Regierenden Senats zu verfahren und nur der Gewalt zu weichen. Daraufhin schloß das Militärische Revolutionskomitee den Regierenden Senat, das Petrograder Oberste Militärgericht, das Handelsgericht und das Bezirksgericht. Anfang Dezember verfügte der Justizkommissar die Schließung der Friedensgerichte, und Mitte Dezember wurden auch die Moskauer Gerichtsinstitutionen geschlossen.

In der Provinz und auf dem flachen Lande dauerte der Umschichtungsprozeß sehr viel länger. Noch bis Frühjahr 1918 sprachen Friedensgerichte vielerorts Recht, und wo neue Gerichte geschaffen wurden, folgten sie nicht immer dem vorgeschriebenen Organisationsmuster. Die im Dekret vorgesehene direkte Wahl der Richter wurde fast nirgends verwirklicht. Alle Einzelzeugnisse deuten vielmehr darauf hin, daß Gerichte und Sowjets, Rechtsprechung und Exekutive eng verbunden blieben. Teils saßen die Räte selbst zu Gericht, teils bildeten sie aus ihrer Mitte eine Gerichtskommission oder aber sie beauftragten eine gemischte Gruppe von Repräsentanten aller Arbeiterorganisationen mit der Judikative. Die Bestellung von Laienrichtern und die Verschränkung der Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) waren erklärte Grundsätze des Rätestaates, doch waren beide Tatbestände vielerorts ebenso praktisch-politisch wie theoretisch bedingt. Weil die Friedensrichter dem neuen Regime die Unterstützung verweigerten, mußten Gewerkschaften und Fabrikkomitees zur Abstellung von lese- und schreibekundigen Arbeitern ersucht werden. Und weil die zur Verfügung stehenden Kader klein waren, war Ämterhäufung kaum zu vermeiden und eine säuberliche Trennung der Gewalten undurchführbar.

Aber darauf kam es den neuen Machthabern auch nicht an. Mit dem Ziel der Zerschlagung des "bürgerlichen Justizapparates" wurde durch das Gerichtsdekret Nr. 1 den Bemühungen der Provisorischen Regierung um Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit der Boden entzogen, die Rechtsprechung zum Teil des Klassenkampfes erklärt und Willkür im Rahmen der Revolution vorab legalisiert. Auf das Gerichtsdekret Nr. 1 folgte schon im März 1918 ein zweites, im Juli 1918 ein drittes, bevor im November des gleichen Jahres ein neues umfangreiches Gesetz zur Neuordnung des Justizwesens die drei vorangegangenen Dekrete der Sache nach aufhob – freilich ohne damit de facto dem Chaos und der Willkür schon ein Ende zu setzen. Erst nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Einleitung der Neuen Ökonomischen Politik wurden auch in der Justizpolitik die Weichen neu gestellt: mit der Justizreform von 1922: Die Sowjetregierung entschloß sich, die Rechtsprechung durch die Kodifizierung des Straf- und Zivilrechtes auf eine feste Basis zu stellen, das Prozeßrecht zu fixieren und die bestehenden Gerichtsinstanzen zu einem einheitlichen System zusammenzufassen. Die Staatsanwaltschaft und die Advokatur, bisher mehr geduldet als gewollt, wurden formell wieder eingeführt und die Außerordentliche Kommission aufgelöst.

Helmut Altrichter