Das Grundgesetz (Verfassung) der Rußländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, 10. Juli 1918

Einführung

Die Fülle an Doppeldeutigkeiten, Unklarheiten und Widersprüchen in der Verfassung von 1918 verursachte, daß dieses Dokument zur Begründung ganz unterschiedlicher Interpretationen der frühen sowjetischen Geschichte bemüht wurde. Diejenigen, die sie im Rahmen der Totalitarismustheorie interpretierten, sahen hinter ihrer Verworrenheit und Kompliziertheit die bewußte Absicht der GlossarBolschewiki, hinter der Fassade amorpher, halbanarchischer Sowjetinstitutionen ihr Machtmonopol zu errichten. Klassische sozialgeschichtliche Interpretationen stellten im Gegensatz dazu ihren Improvisationscharakter heraus. Sie habe die Schwäche der bolschewistischen Macht widergespiegelt, da sie gezwungen war, der revolutionären Initiative "von unten" Rechnung zu tragen. Dieser Version, obwohl sie andere Akzente in der Bewertung setzte, kommt die Position sowjetischer Historiker nahe. Letztere rekurrieren auf die Aussagen GlossarV. Lenins, nämlich daß die Verfassung von 1918 "nicht von irgendeiner Kommission ausgedacht, nicht von Juristen ausgeklügelt, nicht von anderen Verfassungen abgeschrieben worden" sei, sondern "die Erfahrungen aus der Organisation und dem Kampf der proletarischen Massen gegen die Ausbeuter sowohl im eigenen Lande als auch in der ganzen Welt" niederlege.[1] Sowjetische Forscher betonten ihren provisorischen Charakter, da sie für die Übergangszeit bestimmt war, und rühmten den Realismus und die politische Flexibilität der Bolschewiki als deren Schöpfer. Im gleichen Maße widersprüchlich sind die Bewertungen der Verfassung von 1918 in der juristischen Literatur. Sowjetische Rechtswissenschaftler bewerteten sie als ein Musterbeispiel der revolutionären Rechtssetzung. Die zeitgenössische Literatur zum Verfassungsrecht charakterisiert sie als eine, die hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer juristischen "Technik" die am wenigsten vollkommene in der Geschichte des russischen Verfassungsrechts war.

Dabei sind sich die Historiker einig, daß eine Analyse der Verfassung von 1918 ohne Berücksichtigung der schweren Bedingungen, unter denen sie ausgearbeitet und verabschiedet wurde, undenkbar ist. Der Beschluß über die Vorbereitung des Verfassungsentwurfs wurde auf dem 3. Allrußländischen GlossarSowjetkongreß im Januar 1918 getroffen. Das GlossarAllrußländische Zentrale Exekutivkomitee (VCIK) wurde beauftragt, dem nächsten Sowjetkongreß einen Entwurf vorzulegen. Bis zum März 1918, als der 4. Allrußländische Sowjetkongreß zusammenkam, lagen jedoch nur Rohentwürfe vor, die von den GlossarVolkskommissariaten für Justiz und Glossarfür Innere Angelegenheiten ausgearbeitet worden waren. In Anbetracht dessen richtete das VCIK am 1. April eine Kommission zur Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes ein, an deren Spitze der Vorsitzende der VCIK GlossarJa. Sverdlov stand. Von der bolschewistischen Führung gehörten dazu (außer Sverdlov) GlossarI. Stalin und GlossarN. Bucharin. Außerdem wurden Vertreter der Volkskommissariate für Innere Angelegenheiten, für Justiz, Glossarfür Nationalitätenwesen, Glossarfür Kriegs- und Marineangelegenheiten und Glossarfür Volkswirtschaft aufgenommen. In der Kommission, an der neben den Bolschewiki GlossarLinke Sozialrevolutionäre beteiligt waren, brach der Kampf zwischen den Anhängern der Zentralisierung und der Dezentralisierung der Staatsmacht, zwischen den Verfechtern eines Einheits- und eines Föderativaufbaus des Sowjetstaates aus (E. Carr). Der vorbereitete Entwurf wurde am 3. Juli 1918 veröffentlicht und dem GlossarCK der RKP(b) zur Beratung vorgelegt. Nachdem darin Änderungen eingebracht worden waren, wurde er am 10. Juli 1918 vom 5. Allrußländischen Sowjetkongreß einstimmig angenommen. Am 19. Juli 1918, nach der offiziellen Veröffentlichung in der Zeitung Glossar"Izvestija", trat die Verfassung in Kraft.

In der wissenschaftlichen Literatur ist die Meinung stark verbreitet, daß die Staatsführer an der Vorbereitung der Verfassung nicht in dem Maße Anteil genommen hätten, wie es der hohen Bedeutung des "Grundgesetzes" angemessen gewesen wäre. Diese Tatsache wird in der Regel mit der bolschewistischen Geringschätzung des Rechtes oder mit der Belastung der bolschewistischen Führer durch eine lawinenartig wachsende politische und wirtschaftliche Krise erklärt. Die These, daß sich die bolschewistischen Führer der Teilnahme an ihrer Ausarbeitung enthielten, bedarf jedoch einer Relativierung. Die repräsentative Besetzung der Kommission zur Vorbereitung des Verfassungsentwurfs, der hartnäckige Kampf der Bolschewiki gegen die Vertreter der Linken Sozialrevolutionäre in der Frage des weiteren Aufbaus des Sowjetstaates sowie die Aufnahme der von Lenin verfaßten "Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" in die Verfassung, all dies spricht für eine aktive Rolle der bolschewistischen Führung in der Ausarbeitung der ersten Sowjetverfassung.

Die Verfassung von 1918 besteht aus einer Präambel, 6 Abschnitten, 17 Kapiteln und 90 Artikeln. In der kurzen Präambel werden die Ordnung des Inkrafttretens sowie Maßnahmen zu ihrer Popularisierung festgelegt.

Der erste Abschnitt enthält die "Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes". Dieses Dokument war eigentlich zur Vorlage in der GlossarKonstituierenden Versammlung bestimmt, die am 5. (18) Januar 1918 eröffnet wurde, und es diente als eine Art Provokation, um ihren "konterrevolutionären" Charakter zu entlarven. Die "Deklaration" wurde von Ja. Sverdlov in der ersten Sitzung der Konstituierenden Versammlung verlesen. Wie von der bolschewistischen Führung vermutet, wurde der Vorschlag, über die "Deklaration" zu diskutieren, abgelehnt. Am 12. (25.) Januar 1918 wurde sie vom de facto Rechtsnachfolger der aufgelösten Konstituierenden Versammlung – dem 3. Allrußländischen Sowjetkongreß – angenommen. In ihrer Funktion als Teil der Verfassung wurde die "Deklaration" einer Überarbeitung unterworfen: Aus ihr wurden alle Bestimmungen und Erwähnungen entfernt, die die Konstituierende Versammlung betrafen. Aber es blieben alle Punkte darin erhalten, die die wichtigsten Neuerungen der bolschewistischen Regierung seit Oktober 1917 zum Ausdruck brachten und welche die Konstituierende Versammlung hätte annehmen sollen. Im 1. Kapitel wird Rußland formal zu einer föderativen Sowjetrepublik der Arbeiter-, Soldaten und Bauerndeputierten erklärt (V. Lenin hat aus seinem Titel die ursprünglich von ihm selbst eingefügte Definition "sozialistische" rausgestrichen). Im 2. Kapitel werden als Maßnahmen zur "Herstellung einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft" die GlossarSozialisierung des Bodens, die Einführung der GlossarArbeiterkontrolle, die Arbeitspflicht und die Bewaffnung der Werktätigen, der Verzicht auf internationale Finanzvereinbarungen und die GlossarNationalisierung der Banken genannt. Im 3. Kapitel wird der Bruch mit der internationalen Politik der "bourgeoisen Zivilisation" verkündet. Das 4. Kapitel erkennt die GlossarSowjets als die einzige bevollmächtigte Vertretung der werktätigen Massen an, wobei es den freiwilligen Charakter der Föderation der Sowjetrepubliken Rußlands betont.

Der zweite Abschnitt beschreibt die allgemeinen Bestimmungen der Verfassung. Eine Reihe von ihnen wiederholt den Inhalt des ersten Abschnitts, worin die strukturelle Unvollkommenheit des Dokuments zum Ausdruck kommt. Zur Hauptaufgabe der Verfassung, die für die Übergangszeit bestimmt war, wird die Errichtung einer "starken Allrußländischen Sowjetmacht" erklärt. Im Unterschied zum 1. Artikel erklärt der 10. Artikel die Rußländische Republik zur " freien sozialistische Gesellschaft aller Werktätigen in Rußland." Erneut werden die Sowjets als Inhaber aller Staatsgewalt und der föderative Charakter des Staates bestätigt. Die oberste Macht im Staat wird dem Allrußländischen Sowjetkongreß übertragen und zwischen den Sowjetkongressen dem Allrußländischen Zentralen Exekutivkomitee. Die Artikel, die Gewissens-, Presse- und Vereinsfreiheit sowie den Zugang zum Wissenserwerb betreffen, beschreiben weniger die Rechte der Werktätigen als die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Staates. Darüber hinaus werden die allgemeine Arbeits- und Wehrpflicht sowie die Gleichberechtigung unabhängig von der Rassen- und Nationalitätenzugehörigkeit verkündet, unter dem wichtigen Vorbehalt, daß einzelne Personen und Bevölkerungsgruppen die Bürgerrechte verlieren, wenn sie sie "zum Schaden der Interessen der sozialistischen Revolution benützen". Besondere Erwähnung finden das Asylrecht und das vereinfachte Verfahren zur Verleihung von Bürgerrechten an Ausländer, was den Glauben der Verfassungsurheber an das nahe Eintreten der Weltrevolution wiederspiegelt. Wie in allen anderen, so wird auch in diesem Abschnitt die bolschewistische Partei nicht erwähnt. Diese Tatsache ist kaum alleine mit dem Bestreben der leninschen Führung, die wahre Rolle der Partei zu verbergen, oder mit der Schwäche und der Unsicherheit ihrer realen Lage zu erklären. Es ist eher anzunehmen, daß die Bolschewiki die Partei nicht als ein Staatsmachtorgan, sondern als ein revolutionäres Machtorgan verstanden.

Der umfangreichste dritte Abschnitt "Die Strukturen der Sowjetmacht" besteht aus zwei Unterabschnitten, fünf Kapiteln und 33 Artikeln. Der Unterabschnitt A ist der Organisation der Zentralmacht gewidmet. Das 6. Kapitel beschreibt den Status des Allrußländischen Sowjetkongresses und die Ordnung der Wahlen, die für die Stadt- und Landbevölkerung nicht gleich waren. Im 7. Kapitel werden die Kompetenzen des VCIK umrissen, das zum "obersten gesetzgebenden, verfügenden und kontrollierenden Organ" erklärt wird. Das 8. Kapitel ist der Struktur und den Kompetenzen des GlossarRates der Volkskommissare (SNK) gewidmet. Die Deklaration über seine Rechenschaftspflicht gegenüber dem VCIK wird durch die Anmerkung neutralisiert, der gemäß "Maßnahmen, die eine unaufschiebbare Erledigung erfordern, [...] vom Rate der Volkskommissare unmittelbar durchgeführt werden" können. Artikel 47 spiegelt das rasche Vorrücken der Sowjetmacht in die Regionen wieder und betont insbesondere, daß nur die Mitglieder des SNK den Titel eines "Volkskommissars" tragen dürfen. Im 10. Kapitel werden die Zuständigkeitsbereiche des Allrußländischen Sowjetkongresses und des VCIK festgelegt. Die Aufzählung der 17 Zuständigkeitsbereiche dieser Organe nimmt jedoch keine klare Abgrenzung ihrer Kompetenzen vor, da sie gesteht, daß über die oben genannten Fragen hinaus in ihre "Zuständigkeit alle Fragen [fallen], die sie als zu ihrer Zuständigkeit gehörig erklären". Der Unterabschnitt B legt die Struktur und die Kompetenzen der lokalen sowjetischen Machtorgane fest. Das 10. Kapitel ist den Sowjetkongressen der Gebiete, Gouvernements, Kreise und Amtsbezirke gewidmet, das 11. Kapitel den lokalen Sowjets, das 12. Kapitel den Zuständigkeitsbereichen der lokalen Machtorgane. Die Kongresse und die Exekutivkomitees der Sowjets werden zu höchsten Machtträgern in den ihnen unterstellten Territorialbezirken erklärt. Die Verfassungsurheber lehnten das Prinzip der Gewalteinteilung ab. Die pyramidenartige Struktur und die Unterordnung der unteren Sowjets gegenüber den übergeordneten schränkten die Kompetenzen der Sowjets auf Fragen ein, die "rein örtliche (für das betreffende Territorium) Bedeutung" haben. Dabei beschreibt der Abschnitt weder die Grenzen der Föderation noch die Mechanismen ihres Aufbaus und ihrer Funktion, so daß das Föderationsprinzip einen fiktiven Charakter erhielt: Nach der Verfassung von 1918 war die RSFSR eine Föderation ohne Föderationssubjekte.

Der vierte Abschnitt der Verfassung ist dem aktiven und passiven Wahlrecht gewidmet und besteht aus drei Kapiteln und 15 Artikeln. Im nachrevolutionären Rußland trug das Wahlrecht einen deutlich ausgeprägten Klassencharakter. Es wurde an die Werktätigen verliehen – an diejenigen, "welche ihren Lebensunterhalt durch produktive und gemeinnützige Arbeit verdienen", sowie an "Soldaten der Sowjetarmee und der Flotte" und sogar an die Ausländer, die keine russische Staatsbürgerschaft besaßen. Bedeutenden Bevölkerungsgruppen hat man jedoch das Wahlrecht nach dem Klassenprinzip entzogen – denjenigen, die Lohnarbeit einsetzten oder von nicht erwirtschafteten Einnahmen lebten, den Händlern, den Kultusdienern, Mönchen, den ehemaligen Beamten und Polizeiagenten.

Der fünfte Abschnitt "Das Budgetrecht" beschreibt die Finanzpolitik der RSFSR als ein Mittel zur "Expropriierung der Bourgeoisie und zur Vorbereitung der Bedingungen für die allgemeine Gleichheit der Bürger der Republik auf dem Gebiete der Produktion und der Güterverteilung". Die Verfassung erklärt den "Eingriff in das private Eigentumsrecht" zur Lösung dieser Aufgabe für zulässig und zweckmäßig. Dieser Abschnitt legte die Zentralisierung des Staatshaushalts und die Grundsätze und Verfahren für die Verteilung seiner Mittel fest.

Der letzte, sechste Abschnitt der Verfassung beschreibt Wappen und Fahne der RSFSR.

Was die Lebensfähigkeit und Wirksamkeit der Verfassung von 1918 betrifft, so werden in der Forschung grundsätzlich verschiedene Meinungen vertreten. Die einen halten sie für totgeboren und begründen ihre These entweder damit, daß es nicht in der Absicht der bolschewistischen Führung lag, sich an die darin festgelegten Grundsätze zu halten, oder damit, daß es unter den Bedingungen des Bürgerkriegs zur Deformation der Institutionen, Prinzipien und Mechanismen kam, die in der Verfassung definiert wurden. Eine andere Position lautet, daß sie wandelbar und pragmatisch genug war, um mit geringfügigen Veränderungen bis 1936 rechtsgültig bleiben zu können.

Aus kulturgeschichtlicher Perspektive stellt die Verfassung von 1918 ein Dokument dar, das die wachsende Enttäuschung der Bolschewiki über die Auswirkungen der revolutionären Selbstbestimmung der Massen wiederspiegelt. Die Sowjets erwiesen sich als informelle Vereinigungen, deren Funktionen nicht scharf umrissen waren. Sie ließen sich schlecht kontrollieren und verwalten, zeigten eine Tendenz zur Autonomisierung gegenüber dem Zentrum und trugen zur Verstärkung der zentrifugalen Kräfte bei. Die Hauptaufgabe der Verfassung bestand in der genauen Bestimmung ihrer Kompetenzen, in der Systematisierung, Unifizierung und Zentralisierung ihrer Tätigkeit. V. Lenin machte aus dieser Zweckbestimmung der Verfassung keinen Hehl. Auf dem Kongreß der Vorsitzenden der Gouvernementsowjets, der drei Wochen nach ihrer Verabschiedung stattfand, erklärte er, laut einem Pressebericht: "Von der Sowjetregierung zur Leitung des Landes berufen, konnten sich die Arbeiter- und Bauernmassen, denen das so lange verwehrt war, nicht den Wunsch versagen, den Staat auf Grund eigener Erfahrung aufzubauen. Die Losung "Alle Macht den Sowjets!" hat dazu geführt, daß man draußen im Lande die Erfahrungen beim Aufbau des Staates aus eigenen Fehlern sammeln wollte. Eine solche Übergangsperiode war unerläßlich und hat gute Ergebnisse gezeitigt. An diesen separatistischen Bestrebungen war viel Gesundes und Gutes im Sinne einer schöpferischen Aktivität. Die Sowjetverfassung hat das Verhältnis der Machtorgane der Amtsbezirke zu denen der Kreise, der Kreisorgane zu den Gouvernementsorganen und dieser zur Zentralregierung geklärt."[2]

Es ist möglich, die Verfassung von 1918 als ein Dokument zu interpretieren, das die Vorstellungen der Bolschewiki von der zivilisatorischen Mission wiedergibt, die sie sich selbst zuschrieben. Sie zielte darauf, die Massen zu disziplinieren und der Tätigkeit der Sowjets einen geregelten und eingespielten Charakter zu verleihen. In diesem Sinne besaß sie ein "antisowjetisches" Wesen. Die folgende Erfahrung des Bürgerkrieges überzeugte die Bolschewiki und ihre Anhänger von der Effektivität der Disziplinierungspraktiken und der heilsamen Wirkung der Vereinheitlichung und Zentralisierung. Der GlossarVerfassung der UdSSR von 1924 folgend, sah die Verfassung der RSFSR von 1925 eine strengere Hierarchie der Sowjets vor und unterstellte sie einer wirksameren Kontrolle der Zentralmacht.

Igor Narskij

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)