Einführung: Helmut Kohls Regierungserklärung: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Regierungserklärung von Helmut Kohl leitete 1982 den Machtwechsel in Bonn ein. Nach 13 Jahren Opposition übernahm die CDU/CSU durch ein konstruktives Misstrauensvotum wieder das Kanzleramt. Die Uneinigkeit zwischen SPD und FDP darüber, wie man der Wirtschaftskrise, der Staatsverschuldung und der steigenden Arbeitslosigkeit Herr werden könne, hatte den Wechsel der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse herbeigeführt. Nach den vorausgegangenen konservativen Regierungswechseln in den USA und Großbritannien erwartete man nun vielfach auch in Deutschland eine radikale politische Wende, so daß die Regierungserklärung mit besonders großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Tatsächlich kündigte sie relativ genau den künftigen politischen Kurs und einzelne Gesetzesreformen der kommenden Jahre an. Kohl selbst nahm dabei in Anspruch, einen „historischen Neuanfang“ zu wagen.
<div style="text-align:right;">''von: Frank Bösch, 2011''</div>


Die Regierungserklärung stand zugleich für eine Verschiebung im Machtgefüge der CDU. Die Partei hatte in den siebziger Jahren eine umfangreiche programmatische Debatte begonnen, die 1978 in ihr erstes Grundsatzprogramm mündete. Mit dem Regierungsantritt von Helmut Kohl verlor die Parteiprogrammatik jedoch zunehmend an Bedeutung. Dementsprechend stellte Helmut Kohls Regierungserklärung 1982 die ersten langfristigen Weichen, die nach dem Machtwechsel das Selbstverständnis der CDU und ihren Kurs prägten. Die Regierungserklärung wurde bereits weniger von der Parteiführung als von Kohls informellem Beraterkreis entworfen. Da die Ministerien vornehmlich von Sozialdemokraten besetzt waren, kamen zudem externe Berater hinzu wie der konservative Historiker Michael Stürmer und der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld. Da Kohl Neuwahlen im März 1983 anpeilte, konzentrierte sich die Erklärung auf kurzfristig umsetzbare Punkte.


Kohls Regierungserklärung plazierte Begriffe und Ziele, die lange prägend blieben. Ein Leitbegriff war die Selbstbezeichnung als "Koalition der Mitte". Vorherige Umfragen vom Allensbacher Institut hatten ergeben, daß der Begriff mehr Sympathie fand als "Neue Koalition" oder "Erneuerung". Nun gab er der Regierungserklärung nicht nur den Namen, sondern durchzog sie vom ersten Satz an. Als Koalition der Mitte wies die Union der SPD weiterhin einen Randposten auf der Linken zu. Zugleich präsentierte sie sich als Volkspartei des gesellschaftlichen Ausgleiches und nahm sich gegen den in Deutschland heiklen Vorwurf in Schutz, eine Partei der Rechten oder des Bürgertums zu sein. Die sozialen Errungenschaften von Adenauers "Koalition der Mitte" führte Kohl dabei als Beleg für den angestrebten ausgleichenden Kurs an. Die Entfaltung von "Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung" nannte Kohl als ihr geistiges Fundament. Tatsächlich sollte sich der gut positionierte Begriff durchsetzen. Die CDU blieb auch deshalb die Partei der Mitte, weil sie diesen Begriff souverän für sich beanspruchte.
Die Regierungserklärung {{#set:Glossar=Kohl, Helmut}} [[Glossar:Kohl, Helmut|Helmut Kohls]] leitete 1982 den Machtwechsel in Bonn ein. Nach 13 Jahren Opposition übernahm die CDU/CSU durch ein konstruktives Misstrauensvotum wieder das Kanzleramt. Die Uneinigkeit zwischen {{#set:Glossar=Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)}} [[Glossar:Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)|SPD]] und FDP darüber, wie man der Wirtschaftskrise, der Staatsverschuldung und der steigenden Arbeitslosigkeit Herr werden könne, hatte den Wechsel der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse herbeigeführt. Nach den vorangegangenen konservativen Regierungswechseln in den USA und Großbritannien erwarteten viele Konservative, aber gerade auch deren Gegner auf der Linken, auch in Deutschland eine radikale politische Wende, so dass die Regierungserklärung mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Tatsächlich kündigte sie relativ genau den künftigen politischen Kurs und einzelne Gesetzesreformen der kommenden Jahre an. Kohl selbst nahm dabei in Anspruch, einen „historischen Neuanfang“ zu wagen.


Als weiteres identitätsprägendes Leitmotiv etablierte Kohl den Anspruch, eine "Wende" einzuleiten. Den Begriff hatte Kohl bereits seit den siebziger Jahren benutzt. Aber erst die Dramaturgie seiner Regierungserklärung gab ihm seine wirkungsmächtige Kontur. Mit drastischen Worten betonte er zunächst die schwere Wirtschaftskrise, die sich in der hohen Arbeitslosigkeit, der Staatsverschuldung und dem ausbleibenden Wirtschaftswachstum zeige. Zudem sprach er von einer geistig-moralischen Krise der Angst, Wirklichkeitsflucht und Ratlosigkeit. Die durch die neue Regierung eingeleitete Wende sollte in beiden Bereichen Abhilfe schaffen. Dazu stellte er ein sehr konkretes Programm auf, das vor allem vier Leitlinien vorgab: einen Sparkurs, der vor allem im Sozialwesen kürzte, wirtschaftliche und steuerliche Erleichterungen für Unternehmen, eine außenpolitische Kontinuität und eine stärkere "Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger". Viele Punkte aus der bisherigen Programmarbeit traten dagegen zurück. Die in der Oppositionszeit verlangte Förderung der Familien wurde nur noch zaghaft angedeutet. Vor allem die Berücksichtigung der Erziehungsjahre in der Rentensicherung war eine wichtige Ankündigung. Der im CDU-Grundsatzprogramm 1978 noch als fünftes Wirtschaftsziel geforderte Umweltschutz ging in der Erklärung fast unter, obgleich die ökologische Bewegung in Deutschland von ihrer Mobilisierung her gerade ihren Höhepunkt anstrebte.
Die Regierungserklärung markierte zugleich eine Verschiebung im Machtgefüge der {{#set:Glossar=Christlich Demokratische Union (CDU)}} [[Glossar:Christlich Demokratische Union (CDU)|CDU]]. In den 1970er Jahren hatte die Partei eine umfassende programmatische Debatte begonnen, die 1978 in ihr erstes Grundsatzprogramm mündete. Mit dem Regierungsantritt von Helmut Kohl verlor die Parteiprogrammatik jedoch zunehmend an Bedeutung. Dementsprechend stellte Helmut Kohls Regierungserklärung 1982 die ersten langfristigen Weichen, die das Selbstverständnis und den Kurs der CDU nach dem Machtwechsel prägten. Die Regierungserklärung wurde bereits weniger von der Parteiführung als von Kohls informellem Beraterkreis entworfen. Da die Ministerien überwiegend sozialdemokratisch besetzt waren, kamen externe Berater wie der konservative Historiker Michael Stürmer und der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld hinzu. Da Kohl Neuwahlen im März 1983 anstrebte, konzentrierte sich die Erklärung auf kurzfristig umsetzbare Punkte.


Die Außen- und Deutschlandpolitik traten in der Regierungserklärung eher zurück. Auffällig war hier, wie stark die CDU/CSU nun an die seit Willy Brandt entwickelte Ostpolitik anknüpfte. Kohl betonte den Wunsch nach einer Wiedervereinigung, trat aber für einen "Modus Vivendi" mit dem Osten ein. Generell betonte er die Vertragstreue der neuen Regierung, auch gegenüber dem damals bekämpften Grundlagenvertrag. Weniger überraschte die enge Westbindung, die der Kanzler hervorhob. Vor allem sein uneingeschränktes Bekenntnis zum Nato-Doppelbeschluß von 1979 war hier ein Symbol.
Kohls Regierungserklärung setzte Begriffe und Ziele, die lange prägend blieben. Ein Leitbegriff war die Selbstbezeichnung als „Koalition der Mitte“. Vorangegangene Umfragen des Allensbacher Instituts hatten ergeben, dass dieser Begriff mehr Sympathie genoss als „Neue Koalition“ oder „Erneuerung“. Nun gab er der Regierungserklärung nicht nur den Namen, sondern durchzog sie vom ersten Satz an. Als Koalition der Mitte wies die Union der SPD weiterhin einen linken Randplatz zu. Zugleich präsentierte sie sich als Volkspartei des gesellschaftlichen Ausgleichs und nahm sich gegen den in Deutschland heiklen Vorwurf in Schutz, eine Partei der Rechten oder des Bürgertums zu sein. Die sozialen Errungenschaften von Adenauers „Koalition der Mitte“ führte Kohl als Beleg für den angestrebten ausgleichenden Kurs an. Als geistige Grundlage nannte Kohl die Entfaltung von „Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung“. Tatsächlich sollte sich der gut positionierte Begriff durchsetzen. Die CDU blieb auch deshalb die Partei der Mitte, weil sie diesen Begriff souverän für sich beanspruchte.


Hauptziel der christdemokratischen "Wende", die die Regierungserklärung einforderte, war damit unverkennbar die wirtschaftliche Konsolidierung. Auch die folgenden Programmdebatten von 1983/84 und die christdemokratische Politik legten hierauf den Hauptakzent. Dabei leitete der Bonner Regierungswechsel jedoch keine "marktradikale" oder "neokonservative" Wende ein, die etwa mit den USA oder Großbritannien vergleichbar gewesen wäre. Der vergleichsweise gemäßigte Umbruch hatte verschiedene Gründe. Zum einen war die CDU durch ihre christlich-soziale Verwurzelung weiterhin eine Volkspartei, in der die soziale Absicherung einen deutlich höheren Stellenwert hatte. Insofern ist auch ihre Politik der achtziger Jahre eher mit den christdemokratischen Parteien Europas zu vergleichen, nicht mit den konservativen. Zudem koalierte die CDU mit einem liberalen Koalitionspartner, der zum Teil mit den gleichen Ministern in der vorhergehenden Regierung gesessen hatte. Dies förderte besonders in der Außenpolitik und bei Bürgerrechtsfragen die Kontinuität. Ohnehin war eine radikale Kehrtwende aus institutionellen Gründen kaum möglich. Schließlich sind im politischen Feld Deutschlands viele Akteure beteiligt, die radikale Brüche verhindern. Erinnert sei besonders an die Sozialpartnerschaft von Arbeit und Kapital, das Bundesverfassungsgericht, die segmentierte Ministerialbürokratie oder die föderale Struktur der Bundesrepublik.
Als weiteres identitätsstiftendes Leitmotiv etablierte Kohl bereits seit den 1970er Jahren den Anspruch, eine „Wende“ einzuleiten. Doch erst die Dramaturgie seiner Regierungserklärung verlieh ihm seine wirkungsmächtige Kontur, obwohl er den Begriff nicht benutzte. Mit drastischen Worten betonte er zunächst die schwere Wirtschaftskrise, die sich in hoher Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und ausbleibendem Wirtschaftswachstum zeige. Zudem sprach er von einer geistig-moralischen Krise der Angst, der Realitätsflucht und der Ratlosigkeit. Der von der neuen Regierung eingeleitete Neuanfang sollte in beiden Bereichen Abhilfe schaffen. Dazu entwarf er ein sehr konkretes Programm, das vor allem vier Leitlinien enthielt: einen Sparkurs, der vor allem im Sozialwesen Einschnitte vorsah, wirtschaftliche und steuerliche Erleichterungen für Unternehmen, Kontinuität in der Außenpolitik und eine stärkere „Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger“. Viele Punkte aus der bisherigen CDU-Programmarbeit traten dagegen zurück. Die in der Oppositionszeit geforderte Familienförderung wurde nur noch zaghaft angedeutet. Vor allem die Anrechnung der Erziehungsjahre auf die Rente war eine wichtige Ankündigung. Der Umweltschutz, im CDU-Grundsatzprogramm von 1978 noch als fünftes Wirtschaftsziel gefordert, ging in der Erklärung fast unter, obgleich die ökologische Bewegung in Deutschland gerade ihren Höhepunkt an Mobilisierung erreichte.


Der Spielraum der CDU war allerdings so groß wie seit den fünfziger Jahren nicht mehr. Das klare Wählervotum von 1983 legitimierte Veränderungen, und die Mehrheit im Bundesrat ermöglichte ihre Durchsetzung. Zudem hatte die sozialliberale Koalition so schlechte Wirtschaftsdaten hinterlassen, daß in der Bevölkerung nun eine breitere Bereitschaft für einen Sparkurs bestand, den Helmut Schmidt nicht durchsetzen konnte. Auf die Regierungserklärung folgten tatsächlich entsprechende Reformen, die deutliche Einschnitte in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik brachten. Dabei veränderte sie freilich weniger die Struktur des Sozialstaates als das Ausmaß seiner Leistungen. Schon ab 1982 setzte sie deutliche Zeichen. Die Sozialhilfe und die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit wurden beispielsweise gekürzt, die Selbstbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten und Kuren verdoppelt, das Bafög auf Darlehensbasis umgestellt und die Rentenanpassung verschoben. Selbst beim Kindergeld übertraf die CDU die sozialdemokratischen Kürzungspläne, die sie im Jahr zuvor noch verhindert hatte. Gleichzeitig senkte sie die Vermögens- und Gewerbesteuer und lockerte die Arbeitszeitvorschriften. Ihre Steuerreform fand dagegen vor allem in der Erhöhung der Mehrwertsteuer eine Gegenfinanzierung. Alle diese Maßnahmen belasteten zweifelsohne besonders die Geringverdiener, während sie die Unternehmen und höheren Einkommen stärker entlasteten. Nicht nur in den Massenprotesten der Gewerkschaften wurde der Union daher bereits seit Oktober 1982 vorgeworfen, den Staat auf Kosten der kleinen Leute zu sanieren.
Die Außen- und Deutschlandpolitik traten in der Regierungserklärung eher in den Hintergrund. Auffallend war, wie stark die CDU/CSU nun an die seit {{#set:Glossar=Brandt, Willy}} [[Glossar:Brandt, Willy|Willy Brandt]] entwickelte Ostpolitik anknüpfte. Kohl betonte den Wunsch nach einer Wiedervereinigung, plädierte aber für einen „Modus Vivendi“ mit dem Osten. Generell betonte er die Vertragstreue der neuen Regierung, auch gegenüber dem damals bekämpften Grundlagenvertrag. Weniger überraschend war die enge Westbindung, die der Kanzler betonte. Vor allem sein uneingeschränktes Bekenntnis zum [[Kommuniqué_der_Sondersitzung_der_Außen-_und_Verteidigungsminister_der_NATO_in_Brüssel_(NATO-Doppelbeschluss) | Nato-Doppelbeschluss von 1979]] war dafür ein Symbol.


Von ihren Folgen her hinterließ die Regierungserklärung daher einen zwiespältigen Eindruck. Der Wirtschaftsaufschwung, die Senkung der Staatsausgaben und die Reduzierung der Inflation sprachen dafür, daß sie durchaus eine "Wende" einleitete. Dagegen scheiterte die Regierungserklärung insbesondere damit, die Arbeitslosigkeit zu senken, die sie gleich in den ersten Abschnitten zum Kern aller Reformanstrengungen gemacht hatte. Vor allem scheiterte aber der Anspruch, eine "geistig-moralische Wende" einzuleiten, bei der etwa die "Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger" den Sozialstaat entlasten würde. Ein mentaler Wandel ließ sich eben nicht durch ein Regierungsprogramm herbeireden.
Hauptziel der in der Regierungserklärung geforderten christdemokratischen Wende war somit eindeutig die wirtschaftliche Konsolidierung. Auch die folgenden Programmdebatten von 1983/84 und die christdemokratische Politik legten hierauf den Hauptakzent. Dabei leitete der Bonner Regierungswechsel jedoch keine „marktradikale“ oder „neokonservative“ Wende ein, die etwa mit der in den USA oder Großbritannien vergleichbar gewesen wäre. Der vergleichsweise gemäßigte Umbruch hatte verschiedene Gründe. Zum einen blieb die CDU durch ihre christlich-soziale Verwurzelung eine Volkspartei, in der soziale Sicherheit einen deutlich höheren Stellenwert hatte. Insofern ist auch ihre Politik in den 1980er Jahren auch eher mit den christdemokratischen Parteien Europas zu vergleichen als mit den konservativen. Hinzu kam, dass die CDU mit einem liberalen Koalitionspartner koalierte, der zum Teil mit den gleichen Ministern in der Vorgängerregierung gesessen hatte. Dies förderte die Kontinuität vor allem in der Außenpolitik und bei Bürgerrechten. Ohnehin war ein radikaler Kurswechsel aus institutionellen Gründen kaum möglich, etwa angesichts der Sozialpartnerschaft von Arbeit und Kapital, des Bundesverfassungsgerichts, der segmentierten Ministerialbürokratie oder der föderalen Struktur der Bundesrepublik.
 
'''Frank Bösch'''


Der Handlungsspielraum der CDU war allerdings so groß wie seit den 1950er Jahren nicht mehr. Das klare Wählervotum von 1983 legitimierte Veränderungen, und die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ermöglichten deren Durchsetzung. Zudem hatte die sozialliberale Koalition so schlechte Wirtschaftsdaten hinterlassen, dass in der Bevölkerung eine breitere Bereitschaft für einen Sparkurs bestand, den {{#set:Glossar=Schmidt, Helmut}} [[Glossar:Schmidt, Helmut|Helmut Schmidt]] nicht durchsetzen konnte. Der Regierungserklärung folgten tatsächlich entsprechende Reformen, die deutliche Einschnitte in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik brachten. Dabei veränderte sie freilich weniger die Struktur des Sozialstaates als den Umfang seiner Leistungen. Schon ab 1982 setzte sie deutliche Zeichen. So wurden die Sozialhilfe und die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gekürzt, die Eigenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten und Kuren verdoppelt, das Bafög auf Darlehensbasis umgestellt und die Rentenanpassung verschoben. Selbst beim Kindergeld übertraf die CDU die sozialdemokratischen Kürzungspläne, die sie im Jahr zuvor noch verhindert hatte. Gleichzeitig senkte sie die Vermögens- und Gewerbesteuer und flexibilisierte die Arbeitszeitregelungen. Ihre Steuerreform wurde vor allem durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer gegenfinanziert. Alle diese Maßnahmen belasteten zweifelslos vor allem die unteren Einkommensgruppen, während Unternehmen und höhere Einkommen stärker entlastet wurden. Nicht nur in den Massenprotesten der Gewerkschaften wurde der Union daher bereits im Oktober 1982 vorgeworfen, den Staat auf Kosten der kleinen Leute zu sanieren.


In ihrer Wirkung hinterließ die Regierungserklärung daher einen zwiespältigen Eindruck. Der Wirtschaftsaufschwung, die Senkung der Staatsausgaben und der Rückgang der Inflation sprachen dafür, dass sie durchaus einen Kurswechsel einleitete. Dagegen scheiterte die Regierung vor allem bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die sie gleich zu Beginn ihrer Regierungserklärung zum Kern aller Reformanstrengungen erklärt hatte. Vor allem aber scheiterte der Anspruch, eine „geistig-moralische Wende“ im Sinne von mehr Eigeninitiative einzuleiten, in der etwa die „Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger“ den Sozialstaat entlasten würde. Ein mentaler Wandel ließ sich eben nicht durch ein Regierungsprogramm herbeireden.
   
   
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Aktuelle Version vom 20. November 2024, 20:02 Uhr


von: Frank Bösch, 2011


Die Regierungserklärung Helmut Kohls leitete 1982 den Machtwechsel in Bonn ein. Nach 13 Jahren Opposition übernahm die CDU/CSU durch ein konstruktives Misstrauensvotum wieder das Kanzleramt. Die Uneinigkeit zwischen SPD und FDP darüber, wie man der Wirtschaftskrise, der Staatsverschuldung und der steigenden Arbeitslosigkeit Herr werden könne, hatte den Wechsel der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse herbeigeführt. Nach den vorangegangenen konservativen Regierungswechseln in den USA und Großbritannien erwarteten viele Konservative, aber gerade auch deren Gegner auf der Linken, auch in Deutschland eine radikale politische Wende, so dass die Regierungserklärung mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Tatsächlich kündigte sie relativ genau den künftigen politischen Kurs und einzelne Gesetzesreformen der kommenden Jahre an. Kohl selbst nahm dabei in Anspruch, einen „historischen Neuanfang“ zu wagen.

Die Regierungserklärung markierte zugleich eine Verschiebung im Machtgefüge der CDU. In den 1970er Jahren hatte die Partei eine umfassende programmatische Debatte begonnen, die 1978 in ihr erstes Grundsatzprogramm mündete. Mit dem Regierungsantritt von Helmut Kohl verlor die Parteiprogrammatik jedoch zunehmend an Bedeutung. Dementsprechend stellte Helmut Kohls Regierungserklärung 1982 die ersten langfristigen Weichen, die das Selbstverständnis und den Kurs der CDU nach dem Machtwechsel prägten. Die Regierungserklärung wurde bereits weniger von der Parteiführung als von Kohls informellem Beraterkreis entworfen. Da die Ministerien überwiegend sozialdemokratisch besetzt waren, kamen externe Berater wie der konservative Historiker Michael Stürmer und der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld hinzu. Da Kohl Neuwahlen im März 1983 anstrebte, konzentrierte sich die Erklärung auf kurzfristig umsetzbare Punkte.

Kohls Regierungserklärung setzte Begriffe und Ziele, die lange prägend blieben. Ein Leitbegriff war die Selbstbezeichnung als „Koalition der Mitte“. Vorangegangene Umfragen des Allensbacher Instituts hatten ergeben, dass dieser Begriff mehr Sympathie genoss als „Neue Koalition“ oder „Erneuerung“. Nun gab er der Regierungserklärung nicht nur den Namen, sondern durchzog sie vom ersten Satz an. Als Koalition der Mitte wies die Union der SPD weiterhin einen linken Randplatz zu. Zugleich präsentierte sie sich als Volkspartei des gesellschaftlichen Ausgleichs und nahm sich gegen den in Deutschland heiklen Vorwurf in Schutz, eine Partei der Rechten oder des Bürgertums zu sein. Die sozialen Errungenschaften von Adenauers „Koalition der Mitte“ führte Kohl als Beleg für den angestrebten ausgleichenden Kurs an. Als geistige Grundlage nannte Kohl die Entfaltung von „Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung“. Tatsächlich sollte sich der gut positionierte Begriff durchsetzen. Die CDU blieb auch deshalb die Partei der Mitte, weil sie diesen Begriff souverän für sich beanspruchte.

Als weiteres identitätsstiftendes Leitmotiv etablierte Kohl bereits seit den 1970er Jahren den Anspruch, eine „Wende“ einzuleiten. Doch erst die Dramaturgie seiner Regierungserklärung verlieh ihm seine wirkungsmächtige Kontur, obwohl er den Begriff nicht benutzte. Mit drastischen Worten betonte er zunächst die schwere Wirtschaftskrise, die sich in hoher Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und ausbleibendem Wirtschaftswachstum zeige. Zudem sprach er von einer geistig-moralischen Krise der Angst, der Realitätsflucht und der Ratlosigkeit. Der von der neuen Regierung eingeleitete Neuanfang sollte in beiden Bereichen Abhilfe schaffen. Dazu entwarf er ein sehr konkretes Programm, das vor allem vier Leitlinien enthielt: einen Sparkurs, der vor allem im Sozialwesen Einschnitte vorsah, wirtschaftliche und steuerliche Erleichterungen für Unternehmen, Kontinuität in der Außenpolitik und eine stärkere „Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger“. Viele Punkte aus der bisherigen CDU-Programmarbeit traten dagegen zurück. Die in der Oppositionszeit geforderte Familienförderung wurde nur noch zaghaft angedeutet. Vor allem die Anrechnung der Erziehungsjahre auf die Rente war eine wichtige Ankündigung. Der Umweltschutz, im CDU-Grundsatzprogramm von 1978 noch als fünftes Wirtschaftsziel gefordert, ging in der Erklärung fast unter, obgleich die ökologische Bewegung in Deutschland gerade ihren Höhepunkt an Mobilisierung erreichte.

Die Außen- und Deutschlandpolitik traten in der Regierungserklärung eher in den Hintergrund. Auffallend war, wie stark die CDU/CSU nun an die seit Willy Brandt entwickelte Ostpolitik anknüpfte. Kohl betonte den Wunsch nach einer Wiedervereinigung, plädierte aber für einen „Modus Vivendi“ mit dem Osten. Generell betonte er die Vertragstreue der neuen Regierung, auch gegenüber dem damals bekämpften Grundlagenvertrag. Weniger überraschend war die enge Westbindung, die der Kanzler betonte. Vor allem sein uneingeschränktes Bekenntnis zum Nato-Doppelbeschluss von 1979 war dafür ein Symbol.

Hauptziel der in der Regierungserklärung geforderten christdemokratischen Wende war somit eindeutig die wirtschaftliche Konsolidierung. Auch die folgenden Programmdebatten von 1983/84 und die christdemokratische Politik legten hierauf den Hauptakzent. Dabei leitete der Bonner Regierungswechsel jedoch keine „marktradikale“ oder „neokonservative“ Wende ein, die etwa mit der in den USA oder Großbritannien vergleichbar gewesen wäre. Der vergleichsweise gemäßigte Umbruch hatte verschiedene Gründe. Zum einen blieb die CDU durch ihre christlich-soziale Verwurzelung eine Volkspartei, in der soziale Sicherheit einen deutlich höheren Stellenwert hatte. Insofern ist auch ihre Politik in den 1980er Jahren auch eher mit den christdemokratischen Parteien Europas zu vergleichen als mit den konservativen. Hinzu kam, dass die CDU mit einem liberalen Koalitionspartner koalierte, der zum Teil mit den gleichen Ministern in der Vorgängerregierung gesessen hatte. Dies förderte die Kontinuität vor allem in der Außenpolitik und bei Bürgerrechten. Ohnehin war ein radikaler Kurswechsel aus institutionellen Gründen kaum möglich, etwa angesichts der Sozialpartnerschaft von Arbeit und Kapital, des Bundesverfassungsgerichts, der segmentierten Ministerialbürokratie oder der föderalen Struktur der Bundesrepublik.

Der Handlungsspielraum der CDU war allerdings so groß wie seit den 1950er Jahren nicht mehr. Das klare Wählervotum von 1983 legitimierte Veränderungen, und die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ermöglichten deren Durchsetzung. Zudem hatte die sozialliberale Koalition so schlechte Wirtschaftsdaten hinterlassen, dass in der Bevölkerung eine breitere Bereitschaft für einen Sparkurs bestand, den Helmut Schmidt nicht durchsetzen konnte. Der Regierungserklärung folgten tatsächlich entsprechende Reformen, die deutliche Einschnitte in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik brachten. Dabei veränderte sie freilich weniger die Struktur des Sozialstaates als den Umfang seiner Leistungen. Schon ab 1982 setzte sie deutliche Zeichen. So wurden die Sozialhilfe und die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gekürzt, die Eigenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten und Kuren verdoppelt, das Bafög auf Darlehensbasis umgestellt und die Rentenanpassung verschoben. Selbst beim Kindergeld übertraf die CDU die sozialdemokratischen Kürzungspläne, die sie im Jahr zuvor noch verhindert hatte. Gleichzeitig senkte sie die Vermögens- und Gewerbesteuer und flexibilisierte die Arbeitszeitregelungen. Ihre Steuerreform wurde vor allem durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer gegenfinanziert. Alle diese Maßnahmen belasteten zweifelslos vor allem die unteren Einkommensgruppen, während Unternehmen und höhere Einkommen stärker entlastet wurden. Nicht nur in den Massenprotesten der Gewerkschaften wurde der Union daher bereits im Oktober 1982 vorgeworfen, den Staat auf Kosten der kleinen Leute zu sanieren.

In ihrer Wirkung hinterließ die Regierungserklärung daher einen zwiespältigen Eindruck. Der Wirtschaftsaufschwung, die Senkung der Staatsausgaben und der Rückgang der Inflation sprachen dafür, dass sie durchaus einen Kurswechsel einleitete. Dagegen scheiterte die Regierung vor allem bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die sie gleich zu Beginn ihrer Regierungserklärung zum Kern aller Reformanstrengungen erklärt hatte. Vor allem aber scheiterte der Anspruch, eine „geistig-moralische Wende“ im Sinne von mehr Eigeninitiative einzuleiten, in der etwa die „Selbst- und Nächstenhilfe der Bürger“ den Sozialstaat entlasten würde. Ein mentaler Wandel ließ sich eben nicht durch ein Regierungsprogramm herbeireden.


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