Deklaration der Regierung der RSFSR an das chinesische Volk und an die Regierungen Süd- und Nordchinas
Kaum ein anderes Dokument sorgte in der Geschichte der sowjetisch-chinesischen Beziehungen für so heftige Auseinandersetzungen und Diskussionen wie die „Deklaration der Regierung der RSFSR an das chinesische Volk und an die Regierungen Süd- und Nordchinas“ vom 25. Juli 1919, die in der Diplomatiegeschichte auch als „Erste Deklaration Karachans“ bekannt ist. Von der sowjetischen Diplomatie als eine propagandistische Offensive gedacht, um die Sympathien der „vom Imperialismus versklavten“ Völker Asiens gegenüber dem bolschewistischen Staat zu gewinnen, sollte die Deklaration die neuen Grundprinzipien der sowjetischen Außenpolitik publik machen. Die Deklaration hat allerdings nicht nur die erwartete Wirkung verfehlt, sondern wurde für längere Zeit zu einer Belastung für die sowjetisch-chinesischen Beziehungen. Den Anlass dazu gab der Vorschlag einer kostenlosen Übergabe der Ostchinesischen Eisenbahn an China, über den sich die sowjetische Seite später weigerte, auch nur zu diskutieren. Die Frage der Übergabe bzw. gemeinsamen Verwaltung der Ostchinesischen Eisenbahn blieb bis zum Einmarsch Japans in Nordchina im Jahre 1931 ein ungelöstes Problem der sowjetisch-chinesischen Beziehungen.
Selbstbestimmung der Völker, eine Absage an ein altes Vertragssystem mit ausländischen Privilegien für Aufenthalt, Handel und Missionäre, Rückgabe der russischen Konzessionen auf chinesischem Territorium - diese Versprechungen der Deklaration zielten auf die chinesische Öffentlichkeit, die sich seit der Entscheidung der führenden Westmächte auf der Friedenskonferenz von Versailles im Jahre 1919, die japanische Präsenz in der Provinz Shandong zu verlängern, gekränkt und betrogen fühlte. Als Folge der Versailler Beschlüsse entflammte in China die sogenannte „Protestbewegung des 4. Mai“ gegen Japan und die imperialistischen Mächte, die bei den Bolschewiki die Hoffnung auf eine baldige „Weltrevolution“ schürte. Die Bolschewiki waren zu diesem Zeitpunkt bereits über die Entstehung eines eigenen Stützpunktes revolutionärer Kräfte in Südchina um Sun Yat-sen informiert, weshalb die Deklaration gleichzeitig an die Regierungen Süd- und Nordchinas gerichtet wurde.
Die Deklaration verfehlte allerdings nicht nur die erwartete Wirkung, sondern wurde auch für längere Zeit zu einer Belastung für die sowjetisch-chinesischen Beziehungen. Den Anlass dazu gab ein Absatz, der den Vorschlag der sowjetischen Regierung über die kostenfreie Übergabe der Ostchinesischen Eisenbahn an China enthielt. Er ist in mehreren der insgesamt 12 Varianten dieser Deklaration (8 davon in russischer Sprache) vorhanden.
Der Vorschlag über die kostenfreie Übergabe fehlte jedoch in der Variante der Deklaration, die in der Zeitung Izvestija vom 26. August 1919 erschien und von der sowjetischen Diplomatie als die einzige offizielle Fassung dieses Dokuments bezeichnet wurde.
Die Frage der Übergabe bzw. der gemeinsamen Verwaltung der Ostchinesischen Eisenbahn blieb bis zum Einmarsch Japans in Nordchina im Jahre 1931 eine zentrale Frage der sowjetisch-chinesischen Beziehungen. So ist auch der Militärkonflikt im sowjetischen Fernen Osten 1929, der die Aufmerksamkeit Moskaus auf seine fernöstliche Flanke lenkte und von der sogenannten „Besonderen Fernöstlichen Armee“ unter Führung von Vasilij Bljucher ausgefochten wurde, auf die Besitzfrage der Ostchinesischen Eisenbahn zurückzuführen. Sowohl die Weigerung der sowjetischen Regierung, über die kostenfreie Übergabe ernsthaft zu diskutieren, als auch ihr heftiger Widerstand gegen die Unterstellung, sie habe jemals einen Vorschlag hinsichtlich der kostenfreien Rückgabe an China gemacht, wurden von der chinesischen Seite und von der Weltgemeinschaft mit der demagogischen und propagandistischen Aufladung der sowjetischen Außenpolitik in Verbindung gebracht.
Erst mit der Erweiterung des Zugangs zu russischen Archiven in den 1990er Jahren wurde es möglich, die Quellengrundlage für die „Erste Deklaration Karachans“ zu sichern und die Geheimnisse um ihre Entstehung und politische Folgewirkung zumindest teilweise zu lüften.
Die Position der sowjetischen Regierung zur Ostchinesischen Eisenbahn wurde erstmals in einem Gespräch formuliert, das die Vertreter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten (NKID) A. Voznesenskij und E. Polivanov im Februar 1918 mit dem Sekretär der chinesischen Botschaft in Petrograd Liu Shizhong führten. Die chinesische Seite wurde über das Einverständnis der sowjetischen Regierung informiert, Peking die Möglichkeit zu geben, die Ostchinesische Eisenbahn früher, als es der Vertrag von 1896 vorsah, zurückzukaufen. Für den Fall, dass finanzielle Schwierigkeiten Chinas der Umsetzung dieser Entscheidung im Wege ständen, wurde die Möglichkeit einer gemeinsamen russisch-chinesischen Verwaltung in Erwägung gezogen.
Am 4. Juli 1918 bekräftigte der Volkskommissar Georgij Čičerin in seiner Rede auf dem 5. Allrussischen Sowjetkongress die Bereitschaft Sowjetrusslands, von den Eroberungen der zaristischen Regierung in China Abstand zu nehmen und dem chinesischen Volk seine Rechte auf die Ostchinesische Eisenbahn früher als vertraglich vorgesehen, zurückzugeben. Nach Čičerin könnte die Rückgabe dann stattfinden, wenn China „einen Teil der für den Bau vom russischen Volk aufgewendeten Mittel zurückerstatte“.[1]
Die von Studenten ins Leben gerufene „4. Mai Bewegung“ in China weckte bei den Bolschewiki in Moskau die Hoffnung auf einen „revolutionären Bund“ mit China, der es erlauben würde, „die moderne kapitalistische Gesellschaft im Fernen Osten nach sozialistischen Prinzipien umzugestalten“.[2] Um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, waren die Bolschewiki mehr denn je bereit, China bei der Ostchinesischen Eisenbahn Zugeständnisse zu machen. So entstand die genannte „erweiterte“ Variante der Deklaration, die den Vorschlag zur kostenfreien Rückgabe enthielt. Sie wurde auch V.I. Lenin als Vorsitzendem des Rates der Volkskommissare (SNK) vorgelegt, wie neue Archivauswertungen ausdrücklich belegen. In der anschließenden offiziellen Veröffentlichung des Textes in der Zeitung Izvestija wurde der Absatz mit dem Vorschlag über die kostenfreie Rückgabe jedoch wieder gestrichen.
Diese offizielle Publikation bekam im September 1919 der japanische Militärattaché Tanaka in London zu Gesicht, der als erster die chinesische Regierung über den Inhalt der Deklaration (angereichert durch eigene Kommentare) informierte. Wegen der Brisanz der Nachricht hielt Peking zuerst alles für eine Desinformation. Erst Anfang 1920 hatten die Bolschewiki eine Möglichkeit gefunden, die chinesische Regierung auf direktem Wege über die „Erste Deklaration Karachans“ zu unterrichten.
Nachdem den Bolschewiki Anfang 1920 in Omsk, Irkutsk und Vladivostok die Beteiligung an der Macht gelungen war, beauftragte die sowjetische Regierung gleichzeitig drei ihrer Bevollmächtigten – V.D. Vilenskij-Sibirjakov, J.D. Janson (Bevollmächtigter des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten der RSFSR für Sibirien und den Fernen Osten) und I.G. Kušnarev (Mitglied des Fernöstlichen Büros des CK der RKP (b) in Wladiwostok (Dal'bjuro) und Leiter des Eisenbahnministeriums der Küstenregion Primorje) – mit der Aufgabe, die chinesische Seite über den Inhalt der „Ersten Deklaration Karachans“ zu informieren. Die Varianten der Deklaration, die die Bevollmächtigten bei sich hatten, waren inhaltlich identisch und enthielten den Absatz über die Übergabe der Ostchinesischen Eisenbahn. In Anbetracht der politischen und gesellschaftlichen Situation in Russland zu Beginn der 1920er Jahre ist diese dreimalige Vergabe desselben politischen Auftrags nicht überraschend. Die ersten Schritte der sowjetischen Diplomatie im Fernen Osten sorgten stets für viel Verwirrung. Da es in der Praxis keine eindeutige Hierarchie in der außenpolitischen Exekutive gab, die Kommunikationsnetze in einem von dem Bürgerkrieg und wirtschaftlichen Chaos zermürbten Land nur mit Mühe und Not funktionierten, und die Macht der Bolschewiki bzw. ihrer Sympathisanten nur auf einem eng begrenzten Gebiet zu spüren war, sorgte Moskau immer wieder für Redundanzen im Mechanismus seiner Ostasienpolitik.
Letzen Endes hatte die chinesische Regierung in Peking die „erweiterte“ Fassung der „Ersten Deklaration Karachans“ aus vier verschiedenen Quellen erhalten. Am 2. März 1920 übergab Janson den Text der Deklaration dem chinesischen Konsul in Irkutsk Wei Bo. Weil sich die Reise von Wei Bo nach China vertagte, übersetzte Janson den Text ins Französische und schickte ihn an 26. März per Telegramm an das Außenministerium Chinas in Peking. Noch am selben Tag erhielt das Außenministerium den Text und übersetzte ihn ins Chinesische.
Kušnarev, der sich auf der Reise von Moskau nach Vladivostok befand, übergab während eines Zwischenaufenthaltes in Charbin ein Exemplar der Deklaration an den chinesischen General Zhang Silin. Ende März, als das Telegramm von Janson in Peking schon bekannt war, erreichte Vilenskij-Sibirjakov Vladivostok, wo er sich mit dem Vertreter Chinas Li Jiao traf. Als Li Jiao ihn über das von dem Vertreter der sowjetischen Regierung an General Zhang Silin übergebene Dokument informierte, erwiderte Vilenskij-Sibirjakov heftig, dass außer ihm keine weiteren offiziellen Bevollmächtigten der bolschewistischen Regierung in Vladivostok anwesend seien. Danach überreichte Vilenskij-Sibirjakov den Text der Deklaration an den chinesischen Konsul Shao Hengjun und veröffentlichte ihn in einer örtlichen Zeitung. Die vier „chinesischen“ Varianten des Dokuments werden heute im Archiv des Außenministeriums der Chinesischen Republik in Taipeh (Taiwan) aufbewahrt.
Um die Folgen der diplomatischen Panne mit der „ersten Deklaration Karachans“ zu mildern, übergab die sowjetische Regierung am 27. September 1920 dem chinesischen General Zhang Silin, der mit einer diplomatischen Mission in Moskau weilte, eine neue Note des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten, in der Sowjetrussland die Aussagen der offiziellen Version vom 25. Juli 1919 bekräftigte. Diese diplomatische Note bezeichnete man in der Diplomatiegeschichte als „zweite Deklaration Karachans.“[3]
Während der späteren Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit China 1922-1924 bestritten die sowjetischen Emissäre Adol'f Ioffe und Lev Karachan offiziell die Existenz einer von der Veröffentlichung in der Izvestija abweichenden Textvariante der Deklaration.
Interne Nachforschungen des sowjetischen Narkomindel Ende 1922 – Anfang 1923 hatten ergeben, dass sowohl im Archiv des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten als auch in dem nach Moskau gebrachten Archiv der Fernöstlichen Republik kein authentisches Exemplar der Deklaration neben der Druckversion in der Izvestija auffindbar war. Auf eine Anfrage des Narkomindel teilte Janson vorsichtshalber mit, dass er sich nicht mehr erinnere, welche Variante der Deklaration er der chinesischen Seite übergeben hatte. Außerdem gaben sowjetische Diplomaten intern zu, dass die Unterschrift Karachans nur unter dem Text der Variante existent war, die von Vilenskij-Sibirjakov 1919 in der Broschüre „China und Sowjetrussland“ veröffentlicht und von der chinesischen Seite ständig zitiert wurde. Deshalb drehten sich die Debatten in der Geschichtswissenschaft bis Ende der 1990er Jahre hauptsächlich um die Frage, ob die „chinesische“ Variante authentisch war.
Ende der 1990er Jahre gelang es dem russischen Sinologen M. Krjukov, die „erweiterte“ Version der Deklaration in russischer Sprache zusammen mit anderen Schreiben von Vilenskij-Sibirjakov in den Aktenbeständen Lenins im Moskauer Archiv RGASPI zu finden. Dieser Fund bestätigt, dass den „chinesischen“ Varianten tatsächlich ein Originaldokument in russischer Sprache zugrunde lag. Die vorliegende Publikation des Dokuments stützt sich auf die offizielle Fassung des Narkomindel, die am 25. Juli 1919 in der Zeitung Izvestija veröffentlicht wurde. Sie wurde durch den Absatz über die Übergabe der Ostchinesischen Eisenbahn an China ergänzt, den die bisher unbekannte „erweiterte“ Version enthält. Im Text der Publikation ist er Kursiv gesetzt.
Für die chinesische Diplomatie stand immer außer Zweifel, dass das Außenministerium in Peking einen sowjetischen Vorschlag der kostenfreien Rückgabe der Ostchinesischen Eisenbahn nicht nur tatsächlich erhalten hatte, sondern auch rechtzeitig eine positive Antwort nach Moskau gesandt hatte. Deshalb stand die Umsetzung dieses Angebotes Moskaus sowie die chinesische Forderung eines sowjetischen Truppenabzuges aus der Äußeren Mongolei bei den Gesprächen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und der UdSSR 1922-1924 stets auf der Tagesordnung. Dabei betonten die sowjetischen Unterhändler Adol'f Ioffe und Lev Karachan immer wieder, dass Sowjetrussland nie eine kostenfreie Rückgabe in Erwägung gezogen hatte. Die neuen Dokumente aus den russischen Archiven zeigen jedoch, dass darüber in internen Diskussionen der Kremlstrategen wiederholt und heftig diskutiert wurde. So war Ende 1922 eine Diskussion zwischen Ioffe, dem sowjetischen Bevollmächtigten in Peking, und dem Politbüro in Moskau entbrannt. Ioffe wandte sich gegen den Beschluss des Politbüros vom 16. November 1922, wonach die sowjetischen Zugeständnisse in der Frage der Ostchinesischen Eisenbahn lediglich die Beteiligung Chinas an der Verwaltung, die vorzeitigen Rückkaufsrechte und die Verengung der Streifen entlang der Eisenbahnlinie, in denen Russland gemäß dem Vertrag von 1896 besondere Vorrechte genoss, beinhalteten.
Ioffe wies darauf hin, dass eine kostenfreie Rückgabe der Ostchinesischen Eisenbahn eine immense propagandistische Wirkung auf die Gestaltung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen ausüben würde. Er fand für diese „verschwenderische“ Idee jedoch keine hochrangigen Verbündeten in Moskau. Im Gegenteil, für diese Position musste er heftige Kritik von seinem engen Freund, dem Politbüromitglied und Vorsitzenden des Revolutionären Militärrates, Lev Trockij, einstecken. Einige Jahre später entwickelte sich die sowjetische China-Politik, und dabei auch die Eigentumsfrage der Ostchinesischen Eisenbahn, zum Zankapfel im innerparteilichen Kampf zwischen Stalin und der so genannten „linken Opposition“ um Trockij. Im Gegensatz zum sowjetisch-chinesischen Vertrag vom 31. Mai 1924, der die Ostchinesische Eisenbahn bis zu einer endgültigen Entscheidung provisorisch unter eine gemeinsame Verwaltung stellte, forderte die „linke Opposition“ 1926 in einem Brief an das Juli-Plenum des CK VKP (b), die Eisenbahn an China zurückzugeben. 1935 wurde die Ostchinesischen Eisenbahn von der Sowjetunion an Japan verkauft, das die Interessen des Marionettenstaates Mandschukuo international vertrat.
- ↑ Georgij V. Čičerin, Stat’i i reči po voprosam meždunarodnoj politiki. Socėkskiz, Moskva 1961, S. 59.
- ↑ V. Vilenskij, Kitaj i Sovetskaja Rossija: iz voprosov našej dal’nevostočnoj politiki. Gosudarstvennoe izdatel’stvo, Moskva 1919, S. 15-16, Online.
- ↑ Dokumenty vnešnej politiki SSSR, t. 3, Moskva 1959, S. 214.
Deklaration der Regierung der RSFSR an das chinesische Volk und an die Regierungen Süd- und Nordchinas
25. Juli 1919
An dem Tag, an dem die sowjetischen Truppen die Armee des konterrevolutionären Despoten Kolčak zerschlagen haben, der sich auf ausländische Bajonette und ausländisches Gold stützte, siegreich in Sibirien einmarschierten und eine Einigung mit den revolutionären Völkern Sibiriens ansteuern, richtet der Rat der Volkskommissare folgende brüderlichen Worte an alle Völker Chinas:
Das sowjetische Russland und die sowjetische Rote Armee gehen nach einem zweijährigen Krieg und der übermenschlichen Anstrengungen über den Ural nach Osten nicht um Gewalttaten, Versklavung und Eroberung willen. Das weiß bereits jeder sibirische Bauer und jeder sibirische Arbeiter. Wir bringen den Völkern die Befreiung vom Joch ausländischer Bajonette, vom Joch des ausländischen Goldes, die die versklavten Völker des Ostens, und unter ihnen besonders das chinesische Volk, erdrosseln. Wir eilen nicht nur unseren arbeitenden Klassen, sondern auch dem chinesischen Volk zu Hilfe, dem wir nochmals in Erinnerung rufen, was wir ihm schon seit der Großen Oktoberrevolution von 1917 sagen und was vielleicht seitens der bestechlichen amerikanischen-europäischen-japanischen Presse vor ihm verschwiegen wurde.
Gleich nachdem die Arbeiter- und Bauernregierung im Oktober 1917 die Macht in ihre Hände nahm, wandte sie sich im Namen des russischen Volkes an die Völker der ganzen Welt mit dem Vorschlag eines stabilen und dauerhaften Friedens. Die Grundlage dieses Friedens sollte die Abkehr von jeglicher Eroberung fremder Territorien, die Absage von jeglichem gewaltsamen Anschluss fremder Ethnien und von jeglicher Kontribution sein. Jedes Volk, ob groß oder klein, wo auch immer es beheimatet ist, ob es bisher ein unabhängiges Dasein führte oder gegen seinen Willen in einen anderen Staat integriert war, muss in seinem internen Leben frei sein und keine Macht darf es gewaltsam in seinen Grenzen festhalten.
Deshalb erklärte die Arbeiter- und Bauernregierung alle Geheimverträge mit Japan, China und den ehemaligen Alliierten für „nichtig“. [Dazu zählten] alle Verträge, mit deren Hilfe die zaristische Regierung und ihre Alliierten durch Gewalt und Bestechung die Völker des Ostens, hauptsächlich das chinesische Volk, versklavten, um den russischen Kapitalisten, russischen Grundbesitzern und russischen Generälen Vorteile zu verschaffen. Die sowjetische Regierung schlug deshalb zeitnah der Chinesischen Regierung vor, die Verhandlungen über die Annullierung des Vertrages von 1896, des Pekinger Protokolls von 1901 und aller Verträge mit Japan von 1907 bis 1916 aufzunehmen, d. h. nach Rückgabe al dessen, was dem chinesischen Volk von der zaristischen Regierung genommenen wurde, sei es im Alleingang oder zusammen mit den Japanern und Alliierten geschehen. Verhandlungen darüber fanden bis März 1918 statt. Unerwartet packten die Alliierten die Chinesische Regierung bei der Gurgel, überhäuften die Pekinger Machthaber und die chinesische Presse mit Gold und zwangen die Chinesische Regierung auf jeglichen Kontakten mit der Russischen Arbeiter- und Bauernregierung zu verzichten. Ohne die Rückgabe der Mandschurischen Eisenbahn an das chinesische Volk abzuwarten eroberte Japan und seine Verbündeten diese, drangen selbst in Sibirien ein und zwangen sogar die chinesischen Truppen ihnen bei diesem verbrecherischen und unglaublichen Raubüberfall zu helfen. Das chinesische Volk, die chinesischen Arbeiter und die chinesischen Bauern konnten nicht einmal die wahren Gründe erfahren, warum dieser Überfall der amerikanischen, europäischen und japanischen Raubtiere auf die Mandschurei und Sibirien erfolgte.
Nun wenden wir uns erneut an das chinesische Volk, um ihm die Augen zu öffnen.
Die sowjetische Regierung verzichtete auf ihre Eroberungen, die die zaristische Regierung machte, indem sie China die Mandschurei und andere Gebiete entriss. Mögen die Völker, die in diesen Gebieten wohnen, selbst entscheiden, in den Grenzen welchen Staates sie sein möchten und welche Regierungsform sie bei sich zu Hause errichten wollen.
[Die sowjetische Regierung gibt dem chinesischen Volk ohne jegliche Gegenleistung die Ostchinesische Eisenbahn sowie alle Bergbau-, Forst-, Gold- und andere Konzessionen zurück, die unter der zarischen Regierung, unter der Regierung von Kerenskij und unter den Räubern Chorvat, Semjonov, Kolčak russische Generäle, Kaufleute und Kapitalisten an sich rissen.][1]
Die sowjetische Regierung verzichtet auf die Kontribution von China für den Boxeraufstand im Jahre 1900. Dies erfolgt nun schon zum dritten Mal, weil, wie uns bekannt wurde, diese Kontribution von den Alliierten weiterhin erhoben wird, um die [Lohnkosten und die] Schrullen der ehemaligen zaristischen Botschafter in Peking und der ehemaligen zaristischen Konsuln in China zu bezahlen. Alle diese zaristischen Sklaven wurden längst ihrer Macht enthoben, bleiben aber auf ihren Posten und belügen mit Unterstützung Japans und der Alliierten weiterhin das chinesische Volk. Das chinesische Volk muss dies wissen und sie aus seinem Land als Betrüger und Gauner verjagen.
Die sowjetische Regierung setzt alle besonderen Privilegien sowie alle Niederlassungen russischer Händler auf chinesischem Boden außer Kraft. Kein russischer Beamter, Priester und Missionar dürfen sich in chinesische Angelegenheiten einmischen, und wenn einer von ihnen eine Straftat begeht, so muss er sich vor einem örtlichen Gericht verantworten. In China soll es keine andere Macht, kein anderes Gericht als die Macht und das Gericht des chinesischen Volkes geben. Neben diesen wichtigsten Punkten ist die sowjetische Regierung bereit, sich mit dem chinesischen Volk, vertreten durch seine [Bevollmächtigten], über alle weiteren Fragen zu einigen, damit ein für alle mal jeglichen Akten der Gewalt und Ungerechtigkeit, die die vorherigen russischen Regierungen zusammen mit Japan und den Alliierten gegenüber China verübten, ein Ende gesetzt wird.
Die sowjetische Regierung weiß wohl, dass die Alliierten und Japan alles Erdenkliche tun werden, damit die Stimme der russischen Arbeiter und Bauern auch diesmal nicht vom chinesischen Volk gehört wird, dass für die Rückgabe alles dessen, was dem chinesischen Volk früher genommen wurde, zuerst die in Sibirien und in der Mandschurei sitzenden Räuber beseitigt werden müssen. Deshalb schickt sie ihre Nachricht an das chinesische Volk zusammen mit ihrer Roten Armee, die über den Ural nach Osten geht, um den sibirischen Bauern und Arbeitern Hilfe bei der Befreiung von dem Banditen Kolčak und seinem Alliierten Japan zu leisten.
Wenn das chinesische Volk, ähnlich dem russischen Volk, frei sein und dem Schicksal entgehen will, das ihm die Alliierten in Versailles zugedacht haben, es in ein zweites Korea oder zweites Indien zu verwandeln, so muss es verstehen, dass sein einziger Verbündeter und Bruder im Kampf für die Freiheit der russische Bauer und Arbeiter und ihre Rote Armee sind.
Die sowjetische Regierung schlägt dem chinesischen Volk, vertreten durch seine Regierung, vor, schon jetzt mit uns in offizielle Beziehungen zu treten und ihre Vertreter unserer Armee entgegen zu senden.
Stellvertretender Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Lev Karachan
Hier nach: Dokumenty vnešnej politiki SSSR, t. 2 [Dokumente zur Außenpolitik der UdSSR. Bd. 2]. Moskva 1958, s. 221 ff. (Übersetzung aus dem Rus.: M. Fuchs)
- ↑ Diese Stelle fehlt in der Version der Deklaration, die in der Zeitung „Izvestija“ (Nr. 188 (740), 26. August 1919) veröffentlicht wurde. Vgl.: RGASPI, f. 5, op. 2, d. 194, l. 4. Übersetzung von M. Fuchs.
Hier nach: RGASPI, f. 5, op. 2, d. 194, l. 3-6. Kopie. Gemeinfrei (amtliches Werk).
Bruce A. Elleman, Diplomacy and Deception: The Secret History of Sino-Soviet Diplomatic Relations, 1917–1927. Sharpe, Armonk, N.Y. 1997.
Marina Fuchs, Regional’naja ėlita Dal’nego Vostoka v mechanizme sovetskoj vnešnej politiki: dokumental’naja istorija voennogo konflikta na KVŽD meždu SSSR i Kitaem, 1929 [Regionale Eliten in der sowjetischen Außenpolitik: Dokumentarische Geschichte des militärischen Konflikts zwischen der UdSSR und China um die Ostchinesischen Eisenbahn im Jahr 1929]. Izd-vo „Jugo-Vostok“, New York 2020.
Michail V. Krjukov, Vokrug „Pervoj Deklaracii Karachana“ po kitajskomu voprosu. 1919 g. [Um die Frage der „Ersten Deklaration Karachans“ zur chinesischen Frage]. In: Novaja i novejšaja istorija, 5 (2000), S. 30–44.
Allen S. Whiting, Soviet policies in China, 1917–1920. Stanford Univ. Press, Stanford 1968, Online.