Das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland
Führende Vertreter der neu gebildeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gaben das Stuttgarter Schuldbekenntnis bei einem Treffen mit Mitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart ab. Erstmals bekannte sich die evangelische Kirche in Deutschlands darin zu einer Mitschuld am Krieg und an den nationalsozialistischen Verbrechen. Die Erklärung markiert den Neuanfang in den Beziehungen der deutschen evangelischen Kirche mit der ökumenischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Schuldbekenntnis löste innerhalb des deutschen Protestantismus schwere und lang andauernde Kontroversen aus. In diesen Auseinandersetzungen trafen die verschiedenen theologischen, kirchlichen und politischen Strömungen des deutschen Protestantismus aufeinander. Der Streit führte letztendlich zu einer Neubewertung der jüngeren evangelischen Kirchengeschichte und veränderte das Selbstverständnis des deutschen Protestantismus nachhaltig.
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Schon unmittelbar nach Kriegsende bemühten sich Vertreter der Ökumene, ihre während des Krieges weitgehend abgerissenen Kontakte nach Deutschland zu reaktivieren. Humanitäre Motive spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Erinnerung an die Zwischenkriegszeit, in der die Kriegsschuldfrage die Ökumene über Jahre belastet hatte. Die ausländischen Kirchenvertreter erwarteten als Zeichen des Entgegenkommens von deutscher Seite eine klare und eindeutige Anerkennung der Mitschuld am Krieg und an den Verbrechen, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und Europa verübt worden waren.
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis entsprach dieser Erwartung und ebnete damit der deutschen evangelischen Kirche den Weg zurück in die ökumenische Gemeinschaft. Im Text stellte sich die evangelische Kirche in eine „Solidarität der Schuld“ mit dem deutschen Volk und klagte sich an „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt“ zu haben. Mit dem Schuldbekenntnis gingen die deutschen Kirchenvertreter nicht nur einen mutigen Schritt auf ihre Partner in der Ökumene zu, die Erklärung entsprach auch dem eigenen Empfinden, denn die Zerrissenheit der Bekennenden Kirche (BK) im Kirchenkampf war von allen ihren Gruppierungen als entscheidende Schwäche erkannt worden.
Die tiefen Risse innerhalb der evangelischen Kirche Deutschlands wurden durch das Stuttgarter Schuldbekenntnis allerdings nur für einen kurzen historischen Moment überdeckt. Schon bald nach Bekanntwerden der Erklärung entbrannte ein erbitterter Streit um die authentische Interpretation des Textes, in dem die alten Konfliktlinien wieder aufbrachen. Begünstigt wurde dies durch Unschärfen im Text selbst, die in seinem Kompromisscharakter begründet waren. In der endgültigen Fassung waren einzelne Passagen aus den Entwürfen von Hans Asmussen und Otto Dibelius sowie einige Formulierungen von Martin Niemöller zusammengefügt worden.
So stellte auf der einen Seite etwa Martin Niemöller als führender Vertreter des bruderrätlichen Flügels der BK das Bekenntnis der Schuld und folglich die Notwendigkeit eines kirchlichen Neuanfangs ganz in den Vordergrund („Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“). Auf der anderen Seite legten lutherische BK-Theologen wie Hans Asmussen das Hauptaugenmerk eher auf jene Passagen, in denen vom Widerstand der evangelischen Kirche gesprochen wurde („Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat“). Deshalb lehnten sie einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit ab und plädierten dafür, an die Widerstandstradition anzuknüpfen und sie für die Zukunft fruchtbar zu machen. Extrem nationalkonservative Kritiker, in der evangelischen Kirche nicht selten anzutreffen, bestritten die Berechtigung der Schulderklärung überhaupt. Nicht die Deutschen, vielmehr der Versailler „Schandfrieden“ sei für Hitler und den Krieg verantwortlich. Mit der Anerkennung der alliierten Kollektivschuldthese habe die Führung der evangelischen Kirche dem deutschen Volk schweren Schaden zugefügt.
Die Mehrheit der Deutschen und selbst die Mehrheit der evangelischen Christen hat das Schuldbekenntnis im Herbst 1945 nicht mitvollzogen. Dennoch wurde die Erklärung zum Ausgangspunkt einer Neuorientierung des deutschen Protestantismus, die sich allerdings erst in langwierigen Auseinandersetzungen und heftigen Kontroversen vollzog.
Obwohl schon nach der ‚Stuttgarter Schulderklärung‘ heftig angefeindet, ging die Erklärung den bruderrätlichen, theologisch von Karl Barth geprägten Kreisen noch nicht weit genug. Sie drängten darauf, das kirchliche Schuldbekenntnis entschiedener und unmissverständlicher zu formulieren und weiter zu konkretisieren. So entstand 1947 das ‚Wort des Bruderrates der EKD zum politischen Weg unseres Volkes‘, später zumeist nach dem Entstehungsort als ‚Darmstädter Wort‘ bekannt. Die Verfasser, unter ihnen Karl Barth und Martin Niemöller, legten darin dar, wo ihrer Meinung nach die politische Schuld der evangelischen Kirche und des deutschen Volkes lag: Die Deutschen hätten in nationaler Hybris an eine besondere deutsche Sendung in der Welt geglaubt. Im Vertrauen auf eine autoritäre Staatsführung und militärisch gestützte Machtpolitik seien sie der Versuchung erlegen, die Nation auf den Thron Gottes zu setzen. Die Kirche habe versagt, weil sie eine Allianz mit konservativen Kräften eingegangen sei, das Recht zur Revolution verneint und stattdessen politische Schwarz-Weiß-Malerei mitgetragen habe. Außerdem habe sie nicht erkannt, dass „der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre“ eine stete Anfrage an den Auftrag der Kirche in ihrem Einsatz für Schwache und Entrechtete darstelle. Als Konsequenz aus den genannten Irrwegen forderte die Erklärung, die Kirche müsse umkehren und einen neuen Weg zu Gott und den Menschen einschlagen.
Das ‚Darmstädter Wort‘ provozierte noch heftigeren Widerspruch als das ‚Stuttgarter Schuldbekenntnis‘. Denn es verschärfte gerade jene Aussagen, die im Zentrum der Kritik konservativer Kirchenvertreter und weiter Teile der kirchlichen Öffentlichkeit an ‚Stuttgart‘ gestanden hatten. Besonders, dass quasi die gesamte Geschichte des deutschen Protestantismus als ein einziger Irrweg beschrieben wurde, erregte die Gemüter, und dass der Reichsbruderrat den Sozialismus als stete Anfrage an die Christen ernstzunehmen mahnte, aber unverhohlen gegen die CDU Stellung bezog, ließ die Wogen noch höher schlagen. Stark vereinfacht verlangte das ‚Darmstädter Wort‘ einen radikalen Bruch mit dem verbreiteten nationalen Geschichtsbild, politische Neutralität zwischen den Machtblöcken in Ost und West und eine Abwendung von der CDU. Das war für konservative Protestanten und selbst für manche Bruderräte zu viel. Das ‚Darmstädter Wort‘ polarisierte noch stärker als das ‚Stuttgarter Schuldbekenntnis‘, denn in allen seinen zentralen Punkten lagen die Positionen zwischen barthianisch geprägten Bruderräten und konservativen Lutheranern so weit auseinander, dass eine Verständigung unmöglich war. Letztlich ging es in dieser Auseinandersetzung nur vordergründig um historische oder politische Fragen; viel eher ging es um den theologischen Streit über Wesen und Aufgabe der Kirche. Damit war für beide Seiten der innerste Kern des religiösen und kirchlichen Selbstverständnisses betroffen, konkret die Wesens-, Standort- und Funktionsbestimmung der Kirche und des Protestantismus in den sich auseinanderentwickelnden Gesellschaften der beiden deutschen Teilstaaten.
Das ‚Stuttgarter Schuldbekenntnis‘ ist ein Meilenstein in der Selbstreflexion des deutschen Protestantismus und steht nicht allein für einen kirchlichen Neuanfang in Deutschland und mit der ökumenischen Gemeinschaft, sondern auch für den Beginn eines konfliktreichen Prozesses, in dessen Verlauf die verschiedenen aus dem Kirchenkampf hervorgegangenen kirchlichen Gruppierungen ihren jeweils eigenen Weg in die Gesellschaften der beiden deutschen Staaten suchten und fanden. Der deutsche Protestantismus entwickelte dabei ein neues Verhältnis zu Staat und politischer Öffentlichkeit, bestimmte seine Position in der Demokratie (bzw. in der sozialistischen Gesellschaft) neu und leistete in Westdeutschland einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der demokratisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaft.
Auswirkungen hatten die vom ‚Stuttgarter Schuldbekenntnis‘ ausgehenden Konfliktlinien auch auf die Geschichtswissenschaft und die kirchliche Zeitgeschichte: Denn faktisch hatten sich bei der Reorganisation der evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die landeskirchlichen Strukturen und der volkskirchliche Aufbau durchgesetzt. Von den Protagonisten des ‚Darmstädter Wortes‘ wurde dies als Niederlage aufgefasst und unter dem Stichwort ‚Restauration‘ verbucht. Diese Sichtweise der Nachkriegsgeschichte des deutschen Protestantismus hat sich in den späten sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur vorherrschenden Interpretation entwickelt. Die Durchsetzung des ‚Restaurationsparadigmas‘ als Leitmotiv für die Analyse der evangelischen Zeitgeschichte hatte zum einen institutionelle Gründe.
Die 1955 gegründete ‚Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit‘, die 1970 in die ‚Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte‘ umbenannt wurde, war fast ausnahmslos mit Theologen besetzt. Das hatte zur Folge, dass das theologische Verdikt Karl Barths, das in den innerkirchlichen Kontroversen um das ‚Stuttgarter Schuldbekenntnis‘ und das ‚Darmstädter Wort‘ mehr und mehr an Gewicht und Verbreitung gewonnen hatte, auch in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung unübersehbare Spuren hinterließ. Auf der anderen Seite hat die deutsche Geschichtswissenschaft das von kirchenhistorischer Seite angebotene Geschichtsbild weder grundsätzlich in Frage gestellt, noch eigene Anstrengungen unternommen, um zu einem facettenreicheren, differenzierteren Bild zu kommen. Vielmehr schien die von Historikern des angloamerikanischen Sprachraums entwickelte und seit den siebziger Jahren auch in Deutschland rezipierte ‚Sonderwegsthese‘ die Ergebnisse der evangelischen Zeitgeschichtsforschung zu bestätigen. Die ‚Sonderwegsthese‘ löste eine intensive wissenschaftlicher Debatte aus, die bis in die achtziger Jahre hinein akademische historische Diskussionen bestimmte.
Erst im Umfeld der deutschen Wiedervereinigung waren zaghafte Versuche zu beobachten, die Fixierung der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung auf die NS-Zeit aufzubrechen, das ‚Restaurationsparadigma‘ in Frage zu stellen und auch methodisch neue Wege zu beschreiten. Grund hierfür war der veränderte Bezugsrahmen: Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten entstand wieder ein deutscher Nationalstaat und die evangelische Kirche sah sich mit einer ganz neuen Schulddebatte konfrontiert, nämlich über Schuld und Verstrickung der Kirche während vierzig Jahren SED-Herrschaft.
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Die Stuttgarter Erklärung[ ]
Der Rat der EKD. begrüßt bei seiner Sitzung am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen:
„Wir sind für diesen Besuch um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volke nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche, gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, daß er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.
Daß wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.
Wir hoffen zu Gott, daß durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.
So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: „Veni, creator spiritus!“
Stuttgart, 18./19. Oktober 1945.
gez. D. Wurm Dr. Lilie Dr. Heinemann Martin Niemöller.
Asmussen DD.Hahn Smend D. Dr. Lic. Niesel
D. Meiser Held Dibelius
Hier nach: Hier nach: Die Stuttgarter Erklärung, 18./19. Oktober 1945, in: Verordnungs- und Nachrichtenblatt. Amtliches Organ der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nr. 1, Januar 1946, S. 1.
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Verordnungs- und Nachrichtenblatt. Amtliches Organ der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nr. 1, Januar 1946, S. 1. Archiv der BSB München. Gemeinfrei (amtliches Werk).
Verordnungs- und Nachrichtenblatt. Официальный орган Евангелической церкви в Германии, № 1, январь 1946 г., с. 1. Архтив Ваварской государственной библиотеки в Мюнхене. Общественное достояние (официальный документ).
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