Richtlinien der Zentrumspartei von 1922

Einführung

Die Zentrumspartei bildete einen genuinen und integrierenden, wenngleich lange umstrittenen Bestandteil des modernen deutschen Parteiwesens. Drei Wurzeln lagen ihr zugrunde: Erstens ist das Streben nach angemessener Repräsentanz christlich-kirchlich gesinnter Personengruppen im zunehmend säkularistischen Nationalstaat zu nennen. Von daher forderten die politisch aktiv werdenden Katholiken seit 1848 die Gewährung kirchlicher Freiheitsrechte, die für sie im Rang bürgerlicher Grundrechte standen. Zweitens erschien vielen großdeutsch eingestellten Katholiken nach der kleindeutschen GlossarReichseinigung von 1871 als unabweisbar, für die Erhaltung der bundesstaatlichen Gliederung und die nunmehrige Minoritäts-Existenz einzutreten. Drittens bezeugten bereits erste Wahlaufrufe, Konferenzen und Programmentwürfe der 1860er Jahre ein Bewusstsein für die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen der entstehenden GlossarIndustriegesellschaft.

Im Dezember 1870 bildete das Zentrum eine Fraktion von 48 Abgeordneten im Glossarpreußischen Abgeordnetenhaus. Ihr Vorläufer war die dort bis 1867 bestehende Katholische Fraktion (Zentrum). Anfang 1871 schlossen sich nach den ersten Reichstagswahlen im Gefolge der Reichseinigung von 1870/71 67 Abgeordnete zur Zentrumsfraktion des Reichstags zusammen. Diese blieb mit Führungspersönlichkeiten wie GlossarLudwig Windthorst, GlossarErnst Lieber, GlossarAlfred von Hompesch, GlossarGeorg von Hertling und GlossarPeter Spahn bis zum Ende des Kaiserreichs die bestimmende Kraft der Partei. Erst am 8. Februar 1914 trat das erste zentrale Spitzengremium des Zentrums, der Reichsparteiausschuss, zusammen.

Das Zentrum verstand sich als politische und überkonfessionelle Partei, die für die Wahrung des Rechts und der Verfassung eintrat. Doch entwickelte es sich infolge des GlossarKulturkampfs, den GlossarReichskanzler GlossarOtto von Bismarck und der nationale Liberalismus entfesselten, de facto zur Vertreterin der katholischen Volksminderheit, deren Anteil 1910 bei 36,7% an der Gesamtbevölkerung Deutschlands lag.

Die Bedrohung von außen führte zu innerer Geschlossenheit. Das Zentrum umfasste Angehörige aller sozialen Schichten, deren Interessenausgleich ihm auch programmatisch angelegen war. Zwischen 1874 und 1890 stimmten zeitweise über 80% der wahlberechtigten Katholiken für die Zentrumspartei. Während dieser Jahre entstand auch eine regional differenzierte katholische Presse. Anstelle einer Parteiorganisation dienten die katholischen Vereine dem Zentrum als soziale Basis. Der bedeutendste von ihnen wurde nach 1890 der GlossarVolksverein für das katholische Deutschland. Er widmete sich "apologetischen" Aufgaben und der sozialen Schulung der Industriearbeiter. Auch das Gewerbe, der Kaufmanns- und der Mittelstand fanden im Zentrum Vertretung. Zur Unterstützung der vielfach an den Universitäten zurückgesetzten katholischen Gelehrten wurde 1876 bei Bonn die GlossarGoerres-Gesellschaft gegründet.

Seit 1894 wirkten die dem Zentrum nahe stehenden GlossarChristlichen Gewerkschaften der sozialistischen Agitation unter den Industriearbeitern entgegen. Da sie, anders als die katholischen Fachabteilungen, Arbeiter verschiedener konfessioneller Herkunft aufnahmen, wurden sie erst nach innerkatholischen Auseinandersetzungen von der kirchlichen Hierarchie anerkannt. Während dem Zentrum die Solidarisierung mit der "reichsfeindlichen" polnischen und elsässischen Minderheit gelang, konnte die Bruchlinie zum selbstbewussten, politisch liberal, konservativ oder sozial orientierten Protestantismus bis 1933 bzw. 1945 nicht überwunden werden. Die Aufrufe der "Kölner Richtung" GlossarJulius und Carl Bachems, den "Zentrumsturm" zu verlassen, sowie die Verteidigung der protestantischen Landsleute gegen publizistische Angriffe französischer Katholiken im Ersten Weltkrieg, die den hohen Grad der "Integration" der Katholiken im Kaiserreich anzeigte, blieben so ohne Wirkung.

Andererseits überstand der Katholizismus den Umbruch von 1918/19 besser als andere politische Gruppierungen. Da die Katholiken im Kaiserreich teilweise systematisch zurückgesetzt worden waren, gewannen zumindest ihre Führungskräfte leichter Abstand von diesem Staatsgebilde als viele evangelische Christen. Auch der Abschied von der Monarchie fiel ihnen leichter, weil die Glossarkatholische Staatslehre die jederzeit zu bewahrende Ordnung des Gemeinwesens über die Staatsform stellte. Jedoch enthüllte das Vordringen der sozialdemokratischen, radikal sozialistischen und kommunistischen Kräfte in der GlossarRevolution von 1918, dass eine große geschlossene Gegenkraft fehlte. An frühere Versuche der Ausweitung des Zentrums (1918) anschließend, propagierte der christliche Gewerkschaftsführer GlossarAdam Stegerwald vor 340 Delegierten des Essener Kongresses am 20. November 1920 die "Zusammenfassung der vaterländischen, christlichen, volkstümlichen und wahrhaft sozial denkenden Kreise aus allen Volksschichten" in einer "großen gemäßigten Partei", die "auf der Grundlage positiv christlicher Gesinnung" ruhen solle. Doch die Resonanz im Zentrum, wie bei den anderen Parteien, blieb aus. Hinzu kam die Ungunst der Zeitsituation mit ihren wirtschaftlichen Problemen und politischen Dissonanzen, zumal die Konfessionsschranken sich auf politischem Gebiet als unüberwindbar erwiesen.

Ein gewisser Ersatz für die verpasste Chance kann darin gesehen werden, dass das Zentrum sich als Partei der Mitte definierte und eine zunächst nach links, dann auch nach rechts offene Koalitionspolitik betrieb. Im Sinne eines umfassenden Gestaltungsanspruches lässt sich die Aussage des Kulturexperten der Partei, GlossarGeorg Schreiber, vom Januar 1923 interpretieren: "Das Zentrum sei jetzt mehr denn je das Zentrum des deutschen Parteilebens". Nach der Revolution wollte die Partei zum Neuaufbau wesentlich beitragen und zu diesem Zweck eine den staatspolitischen Notwendigkeiten gerecht werdende Sachpolitik treiben. So nahmen denn die Richtlinien von 1922, "ein neues Programm für die alte Partei" (R. Morsey), zu allen wichtigen Bereichen des Staatslebens prononciert Stellung: zu den "Auswärtigen Angelegenheiten", zu "Staatsordnung und Verwaltung", zu "Finanzwesen und Steuern", zu "Wirtschaft und Arbeit", zu "Volkswohlfahrt und Kultur".

Die Betonung der Sach- und Staatspolitik schien geeignet, gemeinsames überparteiliches Handeln zu erleichtern und die immer noch virulenten konfessionspolitischen Vorbehalte zu entkräften. Das Bekenntnis der Richtlinien zu einer "zielklaren christlich-nationalen Politik" spiegelte wohl den seit der Revolution von 1918/19 gestärkten Einfluss der christlich-nationalen Arbeiterbewegung wider. Die Kerntruppe der Christlichen Gewerkschaften war durch die Einzelverbände der deutschen Angestelltengewerkschaften und der Beamtengruppe verstärkt worden; Fühler reichten weiter in die liberal orientierten Verbände hinein.

Die Offenheit und Sachorientierung der "Richtlinien" trug zudem der unifizierenden Tendenz des Weimarer Staates Rechnung, zu der nun die GlossarFinanzreform des bekannten Zentrumsparlamentariers GlossarMatthias Erzberger erheblich beitrug. Während die GlossarBayerische Volkspartei den Föderalismus auf den Schild erhob und um dessentwillen auch die Fraktionsgemeinschaft mit der Schwesterpartei verweigerte, bildete dieser alte Programmpunkt für das Zentrum keinen Glaubenssatz.

Die durch die Kriegsfolgelasten und die Reparationen geförderte Tendenz zum Einheitsstaat nötigte das Zentrum allerdings zum verstärkten Wettstreit mit den Kräften des DokumentLiberalismus und mit den zwischen Mäßigung und Radikalismus schwankenden DokumentSozialdemokraten. Die christliche Staatslehre und Philosophie, die Bildungs- und Jugendarbeit (GlossarWindthorstbunde) und damit die weltanschaulichen Grundlagen erfuhren eine neue Akzentuierung. Die Propagandatätigkeit schlug sich z.B. in den "Mitteilungen der Deutschen Zentrumspartei" (seit 1924) und in dem die verschiedenen Politikfelder behandelnden "Politischen Jahrbuch" (1925-1928) nieder.

Diese Betonung des weltanschaulichen Charakters der Zentrumspartei trat in einen gewissen Gegensatz zur tendenziell vorbehaltlosen Koalitionspolitik. Gegen konservative Tendenzen in den eigenen Reihen verteidigte die Zentrumsführung wiederum ihren maßgeblichen Anteil an der Weimarer Verfassungsarbeit und den pragmatisch zu verstehenden ersten Verfassungsartikel, dass die Staatsgewalt vom Volke (statt von Gott) ausgehe.

Die "christliche Volkspartei", wie sich das Zentrum seit 1918 nannte, setzte sich zunehmend für die Republik und die aktive Mitarbeit in dieser ein. Nach der Ermordung des Zentrumspolitiker Erzberger durch rechtsradikale Täter formulierte sein Parteifreund GlossarJoseph Wirth, 1921 Reichskanzler, dann Außen- und Finanzminister: "Der Feind steht rechts". Der Publizist GlossarCarl Muth forderte 1926 in der Zeitschrift "Hochland", Partei für die verfassungsmäßig gebotene Republik zu ergreifen, statt indifferent abzuwarten. Auf dem 4. Reichsparteitag des Zentrums in Kassel 1925 waren ähnliche Stimmen zu vernehmen. 1931 wandte sich Karl Bachem in seinem Geschichtswerk über die Zentrumspartei scharf gegen den Nationalsozialismus, während der Zentrumskanzler GlossarHeinrich Brüning Anfälligkeit immerhin für autoritäre Tendenzen zeigte.

Auch an der sinkenden Anzahl der Reichstagsabgeordneten des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei ließ sich ablesen, dass der Weimarer Republik die Wähler davonliefen: Ihr Anteil sank von 1919 21,2 % bei den Wahlen zur Nationalversammlung auf 15,1 % bei der Reichstagswahl vom 14. Sept. 1930.

Das Jahr der "GlossarMachtergreifung" 1933 bedeutete das Ende des Zentrums. Das NS-Regime übte so starken Druck auf die Partei aus, dass diese sich schließlich im Juli 1933 als letzte "bürgerliche" Partei selbst auflöste. Viele Abgeordnete und Mitglieder des Zentrums wurden als ehemalige Angehörige einer der verhassten Weimarer "GlossarSystemparteien" von den Nationalsozialisten beruflich benachteiligt, bespitzelt, verfolgt, verhaftet oder ins Exil gezwungen.

Die Wiederbegründung der Deutschen Zentrumspartei fand im Oktober 1945 in Soest statt. Die führende Gründerpersönlichkeit war der frühere Generalsekretär des rheinischen Zentrums, GlossarWilhelm Hamacher. Die Partei wollte weiterhin die Interessen des katholischen Bevölkerungsteils vertreten, lehnte den Protestantismus als nationalistisch belastet ab und akzentuierte ein nach links weit geöffnetes Programm. Die Mehrheit der Führung der Orts- und Provinz-Vereine des früheren Zentrums brachte sich indes in die überkonfessionelle Gründung der Christlich Demokratischen Union (GlossarCDU) ein. Unter den gänzlich gewandelten Bedingungen der zweiten Nachkriegszeit beteiligten sich frühere Zentrumspolitiker wie GlossarKonrad Adenauer und Adam Stegerwald maßgeblich an der Neubildung der Unionsparteien CDU und GlossarCSU. Sie taten dies aus innerer Überzeugung, um nach einer beispiellosen Niederlage christliche Grundsätze und frühere Wertmaßstäbe in eine zwischen 1933 und 1945 pervertierte Politik einzubringen, aber auch in dem Bewusstsein, dass die neuen interkonfessionellen Volksparteien den Herausforderungen einer gewandelten Welt und schwer berechenbaren Zukunft ausgesetzt waren.

Winfried Becker