John F. Kennedy, Rede an die Berliner vor dem Schöneberger Rathaus ["Ich bin ein Berliner!"], 26. Juni 1963

Einleitung

Die simplen vier Worte "Ich bin ein Berliner", die der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 vor Hunderttausenden begeisterter Westberliner aussprach, zählen immer noch zum mythischen Grundbestand der deutschen kollektiven Erinnerung. Sie markierten den Höhepunkt der westdeutsch-amerikanischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Wirkung ist nur vor dem Hintergrund einer spezifischen historisch-politischen Situation und eines besonderen Ortes zu verstehen. Der Ort war Berlin, einst Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschland, von wo aus der Zweite Weltkrieg und der Holocaust initiiert worden war, dann aber auch Helden- und Frontstadt des Kalten Krieges, insbesondere in der Zeit der Blockade 1948/49. Das Jahr 1949 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der US-amerikanischen Sieger- und Hegemonialmacht und den Deutschen. Berlin wurde nach 1949 jenseits des Atlantiks zu einer symbolischen Projektionsfläche, so wie umgekehrt die USA, gerade in den Augen der Einwohner West-Berlins, von der Besatzungs- zur Schutzmacht mutierten. Von da an fungierte West-Berlin unter amerikanischem Schutz als Schaubild des Westens, seiner politischen Freiheitsverheißungen und seines ökonomischen Erfolgs. Die isolierte Stadt war zudem ein steter Stachel im Fleisch des sowjetischen Hegemonialsystems in Osteuropa. Noch 1958 hatten gerade die Vereinigten Staaten den Versuch des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow abgewiesen, West-Berlin aus dem Verfügungsbereich der Westmächte herauszubrechen. Genau diese besonderen Beziehungen zwischen West-Berlin und den USA aber standen seit 1961 auf der Kippe. Der Bau der Mauer durch das ostdeutsche SED-Regime war von den Westmächten tatenlos hingenommen worden. Sehr viele Optionen hatten sie indes angesichts der nuklearen Rüstung beider Blöcke nicht gehabt. Trotzdem waren unter den Berlinern Vorbehalte und Skepsis gegenüber den Amerikanern angewachsen. Die Regierung des demokratischen Präsidenten John F. Kennedy, der 1960 als militanter Antikommunist in sein Amt gewählt worden war, wußte, daß gegenüber den Deutschen und der Stadt Berlin politischer Handlungsbedarf bestand, nachdem man 1961 und 1962 bis zur Kubakrise gegenüber dem Osten manche diplomatische Niederlage hatte einstecken müssen. Insbesondere die mißglückte, von den USA organisierte Landung exilkubanischer Rebellen in der Schweinebucht hatte in einem Desaster geendet. Berlin schien aus Sicht von Kennedys Beratern der geeignete Ort, um durch geschickte Symbolpolitik die Dinge wieder ins Lot zu rücken, denn auch innenpolitisch stand man unter Druck. Der Präsident sah sich dem Druck sowohl der schwarzen Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung nach mehr Partizipation, als auch dem der weißen, rassistisch-konservativen Südstaatendemokraten nach Aufrechterhaltung des Status quo ausgesetzt. Seine Beliebtheitswerte waren in den Umfragen in den Keller gestürzt.

Aber nicht allein die USA hatten ein genuines Interesse an einem gelungenen Auftritt des redegewandten, rhetorisch begabten Präsidenten in Deutschland. In der Bundesrepublik zeichnete sich das Ende der Gründerära unter dem greisen christdemokratischen Bundeskanzler Konrad Adenauer ab, der sich beim Mauerbau ebenfalls merkwürdig bedeckt gehalten hatte. Sein Herausforderer war der aus dem skandinavischen Exil zurückgekehrte sozialdemokratische Reformpolitiker Willy Brandt, damals ausgerechnet Regierender Bürgermeister von West-Berlin. Er und seine Mannschaft waren deutlich mehr als Adenauer, der seit Jahren innerhalb des westlichen Bündnisses die französische, gaullistische Karte spielte, an einem Besuch des amerikanischen Präsidenten interessiert. Brandt stilisierte sich gerne als der deutsche Kennedy und hatte auch Elemente von dessen Wahlkampf übernommen.

Dies war die Situation, die Kennedy zu Beginn seines Besuches vorfand: Er mußte das Vertrauen der Westdeutschen und der Berliner in die Schutzmachtfunktion der USA wieder herstellen und den in katholisch-konservativen Kreisen wachsenden Einfluß des französischen Gaullismus in der CDU/CSU konterkarieren, ohne sich in die innenpolitischen Streitigkeiten der jungen Bundesrepublik hineinziehen zu lassen. Vor diesem Hintergrund betonte er in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus insbesondere die Rolle West-Berlins im Kalten Krieg, die gemeinsamen Werte von Freiheit und Demokratie sowie die Verantwortung der USA für Berlin. Er lobte die Tapferkeit der Berliner und skizzierte den Kommunismus deutlich als Ideologie des Bösen, der Unterdrückung und der Aggression. Dabei griff Kennedy gleich zweimal auf den deutschen Satz, "Ich bin ein Berliner" zurück, der natürlich eine Anspielung auf die klassische Stelle aus Ciceros contra Verrem "Civis Romanus sum" darstellte. Interessanterweise hatte Kennedy sich gut ein Jahr zuvor, in einer Rede in New Orleans, diesen Topos schon einmal bedient, damals aber davon gesprochen, er sei stolz, Bürger der USA zu sein. Während er in New Orleans auf die Großmachtrolle der USA und die daraus für den Westen resultierende Pax Americana anspielte, diente das markante und viel umjubelte "Ich bin ein Berliner" vor dem Berliner Publikum eher dazu, die moralische Vorbildfunktion West-Berlins in der eschatologischen Auseinandersetzung zwischen dem guten Reich der Freiheit, dem Westen, und dem üblen Reich der Unfreiheit, der sowjetkommunistischen Machtsphäre, herauszustreichen. Dies war der performative Versuch, die fehlenden Reaktionen aus Anlaß des Mauerbaus symbolisch in positives strategisches Kapital umzumünzen.

Das Konzept Kennedys ging denn auch voll auf. Die Rede wurde begeistert, fast enthusiastisch aufgenommen und fand über den Tag hinaus ein breites Echo. Angesichts dieses Erfolgs von Kennedys symbolischer Strategie erstaunt es freilich, daß sehr lange unklar war, woher die Idee zu dem entscheidenden Satz eigentlich stammte. Im ursprünglichen maschinegeschriebenen Manuskript fehlt die zentrale Aussage nämlich. Zeitgenossen und Historiker haben dann im Gefolge des 26. Juni 1963 mehreren Mitarbeitern und Beratern des Präsidenten den Kredit für die Idee gegeben. Allerdings hat der Historiker Andreas Daum jüngst auf der Basis intensiver Recherchen und einer breiten Quellengrundlage die überzeugende These aufgestellt, daß es Kennedy selbst war, der am 18. Juni auf den Gedanken gekommen war, diese Passage in seine Ansprache einzubauen. Wenn dem tatsächlich so war, bewies er damit seinen einzigartigen politischen Instinkt für den Stellenwert von Emotionen in Zeiten der Krise.

Michael Hochgeschwender