Klaus Mann, Notizen in Moskau, 1934
Einleitung
Klaus Mann war einer der zwölf deutschen Exilschriftsteller, die vom 7. August bis zum 1. September 1934 am I. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller in Moskau teilnahmen. Diese Veranstaltung, zu der insgesamt über 600 Literaten aus allen Sowjetrepubliken und aus anderen Staaten der Welt anreisten, nährte bei vielen "progressiven" westlichen Intellektuellen die Hoffnung, dass die Sowjetunion ein positives Gegengewicht zu den "faschistischen Ländern" – insbesondere zum nationalsozialistischen Deutschland – bilden könne, in denen das Geistesleben erdrückende Einschränkungen erfuhr. Gerade dies freilich war eine gravierende Fehleinschätzung, verschwanden doch im Zuge des Moskauer Kongresses die letzten Freiheiten im künstlerisch-literarischen Leben der UdSSR: Mit der auf ihm vollzogenen Gründung des Verbands der Sowjetschriftsteller begann für die sowjetischen Kulturschaffenden eine Zeit der absoluten Unterordnung unter die Partei und das neu ausgegebene Ideal des sozialistischen Realismus. Trotzdem meinte auch Klaus Mann – ungeachtet aller Widersprüchlichkeiten, mit denen sich ihm das sowjetische Leben darbot –, aus seiner Moskau-Reise Hoffnung für die Zukunft Europas schöpfen zu können. Sein Reisebericht spiegelt dabei exemplarisch die Einstellung zahlreicher Linksintellektueller zum Kommunismus während der Volksfrontjahre. Indes haben die "Notizen in Moskau" bislang in der Forschung zum Themenkomplex "Intellektuelle und Sowjetunion" wenig Beachtung gefunden und werden meist nur in der biographischen Literatur zu Klaus Mann behandelt.
Angesichts der "faschistischen" Bedrohung in Europa lockerte die Moskauer Führung in der ersten Hälfte der 1930er Jahre vorsichtig die 1928 dekretierte "Sozialfaschismusthese", mit der die Sozialdemokratie zum Hauptgegner des Kommunismus erklärt worden war, und ersetzte sie schließlich 1935 offiziell durch die Volksfrontstrategie, die den Zusammenschluß aller linken Kräfte im Kampf gegen den Faschismus anstrebte. Sowjetische Kulturorganisationen begannen, sich "bürgerlichen" Sympathisanten zu öffnen; als solcher wurde Klaus Mann zu dem Moskauer Kongress geladen.
Sein Reisebericht weist ihn als durchaus kritischen Beobachter aus. So hat er keinerlei Zweifel daran, dass die Sowjetunion eine "Diktatur" ist, in der die Menschen nur in sehr engen Grenzen "schimpfen" und kritisieren dürfen – wobei er einschränkend den Unterschied zur nationalsozialistischen Diktatur unterstreicht. Auch der überall sichtbare Warenmangel wird erwähnt. Sehr unangenehm berührt ist Klaus Mann vom Militarismus, der ihm als "fremdeste[r], verwirrendste[r] Teil" der Sowjetunion erscheint. Deutliche Kritik an der sowjetischen Kulturpolitik enthält der Gedanke, dass der "Geist der Opposition" in der Literatur nützlich und als "Stimulans" künstlerischer Potenz wahrscheinlich unersetzlich sei. Auch an der "materialistische[n], optimistische[n] Weltauffassung" äußert Klaus Mann schwerwiegende Zweifel. Zieht man noch weitere Quellen hinzu – insbesondere sein Reisetagebuch und das im Nachlass verwahrte Manuskript des Reiseberichts –, so finden sich dort in oftmals noch deutlicherer Form Negativurteile, etwa zum Lebensstandard der sowjetischen Bevölkerung oder zum Problem der Meinungsfreiheit. Ganz im Gegensatz zu seinen öffentlichen Äußerungen betonte Mann im Privaten sogar gewisse Ähnlichkeiten zum Nationalsozialismus.1
Und trotzdem gewann Klaus Mann dem "neuen Russland" so viel Positives ab, dass dies in seiner Gesamteinschätzung letztlich überwog. Widersprüchlich erscheint dabei die Feststellung, er empfinde Moskau als eine "demokratische Stadt", weil hier ein "echtes, leidenschaftliches, vitales Interesse der Masse an den Einrichtungen und Ereignissen des öffentlichen Lebens" festzustellen sei –, bezeichnet er den Arbeiter- und Bauernstaat doch im gleichen Atemzug als "Diktatur". Aufschlussreicher im Hinblick auf seine positive Haltung sind zwei andere Argumente, die er zu Gunsten der Sowjetunion vorbringt: Zum einen zeigt er sich sehr angetan von der Vorstellung, die Literatur sei hier keine "schmückende Arabeske am Rand der Gesellschaft", sondern ein "wirkender Teil des öffentlichen Lebens". Zum anderen "erregt" ihn das "Abenteuer" Sowjetunion – das "riesige Geräusch des Aufbaus", der "Enthusiasmus" und "Eifer", dieser "'gute Wille' von gigantischem Ausmaß" 2 – so sehr, dass es ihm trotz aller bedrohlichen Entwicklungen in Europa wieder Hoffnung und das glückliche Gefühl vermittelt, "dass es eine Zukunft gibt".
Klaus Manns Hinwendung zur Stalin’schen Sowjetunion erscheint aus heutiger Perspektive schwer verständlich, lässt sich doch kaum leugnen, dass die im Namen des Kommunismus erkämpfte Errichtung des sowjetischen Staates und die Versuche, ein "sozialistisches" Wirtschaftssystem zu schaffen, millionenfaches Leid anstatt der erhofften leuchtenden Zukunft brachten. Seine Haltung ist vor dem Hintergrund einer Reihe kontextueller Faktoren zu verstehen: Die westliche Moderne schien zum Zeitpunkt seiner Reise für viele kritische Zeitgenossen diskreditiert und ihrer Vorbildfunktion beraubt. Katastrophen und Krisen wie der Erste Weltkrieg, die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise, das Schreckgespenst eines neuen Weltkriegs, der Aufstieg des "Faschismus" in Europa sowie das Scheitern der parlamentarischen Demokratie in Deutschland und in anderen Staaten schärften den Blick für alternative Fortschrittsmodelle. Gleichzeitig gewann die Sowjetunion in den frühen 1930er Jahren an internationalem Ansehen: Mit ihrem vermeintlich vernünftigen und planmäßigen Wirtschaftssystem schien sie resistent gegen die Krisen der "kapitalistischen Welt" zu sein, außenpolitisch gerierte sie sich als überzeugter und schlagkräftiger Gegner des "Faschismus".
Freilich war das Bild der Sowjetunion im Westen schon zum Zeitpunkt der Reise Klaus Manns überschattet von – nicht immer verläßlichen – Meldungen über politische Repressionen und Schauprozesse. Doch der "Große Terror", der Hunderttausende von Todesopfern fordern sollte, stand noch aus. Informationen über die dramatische Hungersnot der Jahre 1932 – 1934, deren Ursachen in den brutalen Maßnahmen der Zwangskollektivierung lagen und die Millionen Menschen den Tod brachte, konnten nicht als gesichert gelten, und in der sowjetischen Hauptstadt war die Katastrophe nicht direkt zu spüren – erst recht nicht für die ausländischen Gäste des Schriftstellerkongresses. Diese lebten, wie Klaus Mann in einer später aus dem Manuskript gestrichenen Passage feststellte, "auf einer goldenen Insel", "die oft beinah wie ein vergoldeter Käfig wirkt[e]".
Mann selbst hat wiederholt betont, dass der Hauptgrund für seine seit Hitlers Machtübernahme immer wieder geäußerte Zustimmung zur Sowjetunion in der Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Deutschland gelegen habe. Er unterstreicht dies u.a. in einem kurz nach seiner Moskaureise publizierten Aufsatz über Heinrich Heine: In expliziter Analogie zur Situation des Jahres 1934 hebt er hier Heines Äußerung hervor, aus "Haß gegen die Verfechter des Nationalismus" könne er "fast Liebe zu den Kommunisten fassen".3 Auch in seiner in den 1940er Jahren geschriebenen Autobiographie bleibt er bei dieser Darstellung: Nach 1933 habe "jeder realistische Antifaschist wissen [müssen], daß es nur noch eine Möglichkeit gab, den Frieden zu retten: die Zusammenarbeit mit Rußland". Trotz seiner Vorbehalte gegenüber der kommunistischen Weltanschauung habe er an die "Möglichkeit und Wünschbarkeit der Einheitsfront aller progressiven, antifaschistischen Intellektuellen" geglaubt.4 Diese Erklärung erscheint umso plausibler, als der Bruch des Jahres 1933 für Mann auch auf persönlicher Ebene existentielle Konsequenzen mit sich brachte, war er doch fortan mit den gerade für Schriftsteller gravierenden Schwierigkeiten des Exillebens konfrontiert.
Der positive Tenor der "Notizen in Moskau" liegt jedoch nicht nur in den oben beschriebenen kontextuellen Faktoren begründet. Wenngleich es sicherlich ein Fehlschluss wäre, Klaus Manns Sympathien für die Sowjetunion primär auf utopisches Wunschdenken zurückzuführen, spielt auch dieses Motiv eine gewisse Rolle. Hiervon zeugen etwa seine Wahrnehmungen des sowjetischen Lebensstandards, die von einem positiven Bild des "sozialistischen" Wirtschaftssystems beeinflusst waren: Die Feststellung des Manuskripts, das "Leben in der Sowjet-Union" sei "gewiß immer noch hart" und "ohne Begeisterung für die Sache […] wohl oft schwer zu ertragen", verrät zwar eine gewisse Kritik, erscheint aber angesichts des Desasters, zu dem die Zwangskollektivierung geführt hatte, verharmlosend. Für die Publikation strich Mann dieses vorsichtige Negativurteil dann sogar ganz. Dass die Wahrnehmungen teilweise durch Projektionen verzerrt wurden, offenbart sich noch deutlicher in jenen Passagen, in denen Klaus Mann die Stellung der Literatur im sowjetischen Leben behandelt: Begeistert berichtet er von dem vermeintlich "vitalen Zusammenhang […] zwischen Schriftsteller und Publikum" und zeigt sich durchaus angetan von dem Gedanken, dass dem "gedruckten Wort" in der Sowjetunion eine pädagogische Funktion bei der Heranbildung des "neuen Menschen" zukomme. Trotz einer gewissen Irritation angesichts des "Kult[s]" um den "Patriarch[en]" Maxim Gorki ist er beeindruckt, dass ausgerechnet ein Schriftsteller zu den "meist verehrten Figuren des Landes" gehöre und daß sein Bild im Kongress-Saal "in Riesenformat neben dem Bilde Stalins" hängt. Diese Beobachtungen scheinen stark durch Klaus Manns Ideal vom Schriftsteller als "sittlichem Mentor" seiner Zeitgenossen geprägt zu sein. In der Tradition des deutschen "Gelehrten" und vor dem Hintergrund eines aristokratischen Konzepts des "Geistigen" glaubte Klaus Mann ähnlich wie sein Onkel Heinrich Mann, dass die Aufgabe des Intellektuellen darin bestehe, in Zusammenarbeit mit den politischen Machthabern eine ethische, die Gesellschaft verbessernde Wirkung auszuüben. Dieses Wunschbild sah er ganz offensichtlich in der Sowjetunion seiner Verwirklichung nahe. Stalins Diktatur erschien in dieser Perspektive als positiver Gegenpol zu der den "Geist" verachtenden Barbarei des nationalsozialistischen Deutschlands.
Trotz des erkennbaren Bemühens, auch Widersprüchlichkeiten zu thematisieren, stellen Klaus Manns "Notizen in Moskau" eine eindeutig prosowjetische Stellungnahme mit klaren politischen Intentionen dar: Für Mann verkörperte die Sowjetunion als einziger ernst zu nehmender Gegner des "Faschismus" die letzte Hoffnung, Europa vor der Unkultur des Nationalsozialismus zu bewahren. Um den Zusammenhalt der antifaschistischen Einheitsfront nicht zu gefährden, war er bereit, weltanschauliche Differenzen zugunsten einer gemeinsamen Disziplin zurückzustellen. Sein zutiefst emotionaler und leidenschaftlicher Moskau-Artikel, der die "europäische Zukunft" aufs engste an die der Sowjetunion gekoppelt sah, entsprach dabei ganz dem Geist der von ihm im Exil herausgegebenen Zeitschrift "Die Sammlung", die sich als intellektuelles Forum für alle Gegner des "Faschismus" verstand.
Klaus Manns Haltung war charakteristisch für weite Teile der europäischen Linken während der Volksfrontjahre. Dementsprechend löste sein Reisebericht keine kontroversen öffentlichen Debatten aus. In privaten Reaktionen jedoch zeigten sich schon zu diesem Zeitpunkt die kaum überwindbaren Risse in der antifaschistischen Allianz linker Kräfte. Kritik kam von kommunistischer ebenso wie von nichtkommunistischer Seite: Den einen erschien seine prosowjetische Stellungnahme nicht konsequent genug, den anderen blieb sie zu unkritisch. Im Zuge der großen Stalinistischen Schauprozesse und Säuberungen der Folgejahre gestaltete sich Manns Haltung zur Sowjetunion zunehmend ambivalent. Länger jedoch als manch anderer Anhänger der Volksfrontbewegung vermied er einen endgültigen Bruch. Erst infolge des Hitler-Stalin-Paktes distanzierte er sich eindeutiger – führte dieser doch die Vorstellung ad absurdum, der Nationalsozialismus könne im Schulterschluss mit den Kommunisten überwunden werden.
Eva Oberloskamp
1 Mann, Tagebücher, S. 51. []
2 Mann, Tagebücher, S. 59. []
3 Mann, Die Vision Heinrich Heines, S. 127. []
4 Mann, Wendepunkt, S. 375 u. 380. []