Klaus Mann, Notizen in Moskau, 1934

NOTIZEN IN MOSKAU

VON KLAUS MANN

Nach Moskau sind wir eingeladen, um den Ersten Schriftsteller-Kongress der Sowjet-Union zu besuchen. Wir befinden uns also hier in unserer Eigenschaft als Schriftsteller, es ist ein literarisches Ereignis, zu dem wir gekommen sind. Aber von Anfang an wird uns klar, dass es hier gar kein "literarisches Ereignis" gibt, das nicht zugleich, im weitesten Sinn des Wortes, ein öffentliches – und damit auch offizielles – Ereignis wäre. Die verschiedenen Teilgebiete des öffentlichen Lebens sind hier in einem viel intensiveren Grade zusammenhängend als in andren Ländern. Die Literatur ist hier nicht eine schmückende Arabeske am Rand der Gesellschaft. Sie ist hier ein wirkender Teil des öffentlichen Lebens.

Die Demokratie manifestiert sich besonders dadurch, dass möglichst Viele möglichst nahe beteiligt sind am öffentlichen Leben. Dieses Interesse der Masse am öffentlichen Leben darf freilich kein von oben diktiertes, vorschriftsmässiges, reguliertes sein; es muss sich äussern dürfen als ein echtes, leidenschaftliches, vitales.

Es ist ein echtes, leidenschaftliches, vitales Interesse der Masse an den Einrichtungen und Ereignissen des öffentlichen Lebens, was man hier in Moskau spürt – so stark, wie kaum in einer andren Stadt der Welt. Deshalb wird Moskau als eine demokratische Stadt empfunden.

Es klingt paradox, denn hier herrscht eine Diktatur. Diese lügt aber nicht nur, wenn sie behauptet, dass sie ihre Kraft aus dem Volke beziehe. Der Aufbau des sozialistischen Staates ist hier wirklich die grosse, allgemeine Angelegenheit, welche die Herzen ergreift, die Gemüter bewegt, die Köpfe beschäftigt. Es gibt Abseitsstehende, Verbitterte – ohne Frage. Aber man spürt: sie sind eine verschwindende Minorität. Das riesige Geräusch des Aufbaus übertönt das, was sie etwa vorzubringen hätten.

Die Leistung einer Fabrik, der Ausfall einer Ernte sind Gegenstand erregter Diskussion, stolzer Genugtuung, grimmiger Kritik. Zu der grossen allgemeinen Angelegenheit gehören Literatur, Film, Theater ebenso wohl wie das Flugwesen oder die Kollektivisierung der Landwirtschaft. Man ist ehrgeizig, man verlangt Rekorde, auf jedem Gebiet. Man ist entschlossen, den grossen kapitalistischen Staaten gleichzukommen, wenn möglich, sie zu überflügeln. Alle diskutieren, wie weit man es schon gebracht. Die Leistung einer Rekord-Fallschirm-Springerin erweckt die allgemeinste Anteilnahme; dasselbe gelingt einem neuen Theaterstück, einem Roman.

Die Arbeit wird hier mit einem sportlichen Enthusiasmus betrieben; die Vergnügungen und Zerstreuungen mit demselben Eifer. Das öffentliche Leben ist komplex; der "Kulturpark", wo man sich amüsiert und erholt, wo die Masse Tennis spielt und Wasserrutschbahn fährt, gehört ebenso dazu wie Fabrik und Kolchose.

In Moskau wird eine Untergrundbahn gebaut – das ist ein eminent öffentliches Ereignis, alle sprechen davon. Die überfüllten Trambahnen sollen entlastet werden, der Verkehr wird sich manierlicher abspielen, Moskau wird eine richtige Grossstadt sein. Das hebt das allgemeine Selbstgefühl. Wenn ein grosses Touristenhotel gebaut wird, wie eben jetzt, so ist das nicht die Angelegenheit einer Aktien-Gesellschaft, von der niemand was weiss. Es ist vielmehr die öffentliche Angelegenheit. Man schliesst Wetten ab, welches Gebäude zuerst fertig sein wird: das Touristenhotel oder ein andrer Riesenkasten, der gegenüber in Bau steht.

Die Leute lachen viel; wahrscheinlich schimpfen sie auch viel – in gewissen Grenzen dürfen sie das. Die Eindrücke, die man gewinnt auf den Strassen und in den öffentlichen Veranstaltungen Moskaus, widerlegen den Satz, dass eine Diktatur genau so sei wie die andre.

Öffentliche Angelegenheit von allererstem Range ist das Militärische, man ist hier begeistert dafür. Es wäre sinnlos, diese Begeisterung wegzuleugnen, sie besteht. Man sagt, sie habe einen ausschliesslich defensiven Charakter – was im Augenblick fraglos richtig ist, die sowjetistische Aussenpolitik beweist es. Man hat keine aggressiven Gelüste, man ist nur entschlossen, es den Angreifern nicht leicht zu machen – und die Welt weiss, mit welchem Angreifer Sowjet-Russland rechnet. Die defensive Parole hat hier Substanz, während sie in andren, tatsächlich unbedrohten Ländern nur eine demagogische Formel ist. – Trotzdem ist spürbar und übrigens bekannt, dass der militante Enthusiasmus in diesem Lande nicht nur aus der Beunruhigung durch Japan zu erklären ist; er gehört zur allgemeinen Lebensstimmung, ja, geradezu zur ethischen Grundhaltung – und er ist mir an ihr der fremdeste, verwirrendste Teil. Der Hass gegen den imperialistischen Krieg schliesst die allerfreudigste Sympathie für den Krieg, der gegen den Imperialismus zu führen sein wird, nicht aus.

Der Flugtag am 18. August gab Gelegenheit, dem Schriftsteller-Kongress die Aviatik der Union vorzuführen. Man fuhr zum Flugplatz hinaus, von der Terrasse eines neuerbauten Hauses konnte man aufs bequemste alles geniessen, was geboten wurde. Ich war imponiert, jedoch nicht begeistert. Die Vorstellung, dass aus diesen grauenhaft geschwinden Aёroplanen Giftgasbomben in die Strassen von Berlin und Tokio fallen sollen, hat für mich nichts Entzückendes – auch dann nicht, wenn ich weiss, dass das Giftgas schwelen wird im Dienste der einzig gerechten Sache.

Im Kongress selber erschien eine Abordnung der Roten Armee. Die Korridore zwischen den Stuhlreihen füllten sich plötzlich mit gefährlich stampfenden Soldaten, ein Teil von ihnen eroberte sogar das Podium. Helle Wonne bei der Literatur. Dieses war der Moment, in dem ich mich am fremdsten in Moskau fühlte. Ich stand stumm, und ich konnte meine Hände nicht zum Beifall zwingen. Es muss – dachte ich – eine Rote Armee geben und sie muss stark sein –: harte Notwendigkeit, kein Pazifismus wagt sie mehr zu leugnen. Aber warum die helle Wonne?

Freilich hat man sich vorzuhalten, dass die Rote Armee auf eine viel unmittelbarere Weise zum Volksganzen gehört, als die Armee in irgendeinem andren Lande. Sie ist auch Kulturträgerin, der Heeresdienst ist gleichzeitig geistige Schulung. Mehrfach war ich Gast im "Kulturhaus der Roten Armee". Dort gibt es gute Filme und Theaterstücke zu sehen, es wird viel gelesen und in einem schönen Park wird Sport getrieben. – Die Rote Armee gehört zu den Repräsentanten des öffentlichen Lebens schlechthin, sie nimmt auf jede Weise Anteil an ihm, und sie ist populär, ihr Führer gehört zu den populärsten Männern des Landes. – Man vergesse weiterhin nicht, dass man hier nicht so sehr an die "Landesverteidigung" denkt, wenn man vom Defensivkrieg spricht, als an die Verteidigung einer Idee, die keine nationale ist sondern eine universale. Das gibt dem militanten Pathos sein moralisches Prestige. Zudem erinnert es an die kriegerische Tradition der Revolution – wie sie etwa im Revolutionsmuseum und im Bürgerkriegsmuseum aufs eindrucksvollste anschaulich wird.

Solche Überlegungen können mich aber jenen Moment des Schreckens nicht vergessen machen – den Moment, als die bewaffnete Macht eindrang in den Saal der Literatur und dort mit Jubel begrüsst ward.

Der Schriftsteller-Kongress demonstriert vor allem Eines: den vitalen Zusammenhang, der hier besteht zwischen dem literarischen Produzenten und seinen Abnehmern, den Lesern; zwischen Schriftsteller und Publikum; zwischen Literatur und Volk.

Die Frage, die den Schriftsteller im Westen immer beängstigt, oft lähmt – die bittre Frage: Für wen arbeitest du eigentlich? –, sie beantwortet sich hier mit der schönsten Selbstverständlichkeit. Denn hier arbeitet der Schriftsteller, buchstäblich, für Alle: der Rotarmist liest und die Stossbrigadlerin der Kolchose liest; die Fabrikarbeiter diskutieren über Bücher, Bücher werden gekauft von Ingenieuren, von Matrosen, Gymnasiasten und Telephonistinnen. Es wird erstaunlich viel gelesen in der Union. Eine Millionenmasse, gestern noch Analphabeten, stürzt sich heute auf die Literatur. Sie ist gierig nach ihr, sie verschlingt sie. Der Schriftsteller hat eine grosse Situation.

Von ihr profitiert schlechthin alles Literarische. Es gibt hier, zum Beispiel, eine sehr ernsthafte Beschäftigung mit den Klassikern – eine ernsthaftere, will mir scheinen, als im Westen. Die lebendige Beziehung zum "klassischen Erbe" gehört zu den Forderungen eines offiziellen Kulturprogramms – und mit dem klassischen Erbe sind nicht nur Puschkin, Gogol oder Tolstoi gemeint, sondern auch Cervantes oder Balzac. Die Bilder Goethes, Dantes und Shakespeares schmückten, mit den Bildern der russischen Grossen, den Kongress-Saal, in dem über Pflicht und Ziel des sozialistischen Schrifttums debattiert wurde. Vom Podium dieses Saales sprach Johannes R. Becher über das klassische Erbe, das wir nicht nur verwalten, sondern lebendig halten, weiterbilden sollen und an dem wir zu lernen haben. Der deutsche Dichter sprach mit eifervollem Ernst über Formprobleme der Lyrik. Es konnte nicht als Blasphemie empfunden werden, sondern es schien mir ein verheissungsvolles Echo zu geben, als der Name Hölderlins aufklang in diesem Saal.

Ich habe eine russische Publikation über Goethe gesehen, wie sie wahrscheinlich heute nicht hergestellt wird in dem Land, das die Sprache Goethes noch zu reden meint. Und es gibt eine Nachfrage nach solch anspruchsvollen Editionen, die hohen Auflagen, in denen sie erscheinen, sind gleich vergriffen. Man könnte dergleichen – sagte mir der Herausgeber – in einer doppelt Auflage auf den Markt bringen; nur die Papiernot verbietet es. Uns fehlt es an Lesern; diesen nur an Papier. Und wir sollten sie nicht beneiden?

Man steht hier nicht nur für seltene Lebensmittel Schlange, nicht nur vor Kinos oder Autobussen, sondern auch vor Zeitungskiosken. Es kann nicht genug hergestellt werden vom gedruckten Wort – während im Lande der Dichter und Denker das Interesse an ihm einfach verschwindet. Hier aber beschäftigt sich die allgemeine geistige Neugier mit der ganzen Weltliteratur. Céline und John dos Passos, Feuchtwanger und Heinrich Mann sind Begriffe; wenn du nach dem Titel des Buches schielst, in dem die schlichtgekleidete Frau neben dir auf der Gartenbank studiert, kannst du erleben, dass es ein Band Proust ist. Vor allem die Franzosen, die zum Kongress nach Moskau gekommen waren, wurden aufs wärmste gefeiert, es waren André Malraux, Jean-Richard Bloch und Louis Aragon.

Zum Kongress hatten 8000 Betriebe ihre Vertreter angemeldet; natürlich konnten nicht alle zugelassen werden. Der langen, prinzipiellen und übrigens akustisch schwer verständlichen Eröffnungsrede Gorkis folgte ein grossen Teils proletarisches Publikum mit Andacht. Die Presse reservierte täglich Spalten, oft Seiten, ihrem Bericht über den Verlauf des Kongresses.

Der Saal, in dem über die Probleme der Literatur diskutiert wurde, lag inmitten der Stadt, deren Leben in den Sitzungsraum brandete. Es erschienen Deputationen der Arbeiter von der Untergrundbahn und Abgesandte der Matrosen, der Rotarmisten, der "Jung-Pioniere" (kommunistische Jugendgruppen), der Kolchosen und der Eisenbahner. Plötzlich stand eind [sic!] Mann oder eine Frau in Uniform oder im Arbeitskittel auf der Tribüne, wo eben noch ein Schriftsteller gestanden hatte. Der Mann oder die Frau im Arbeitskittel begann zu sprechen, ohne Manuskript, frei, mit verblüffender Sicherheit. Der Proletarier richtete Grüsse von seinen Kollegen an die Schriftsteller aus. Im Namen seiner Kollegen brachte er nicht nur Dank, sondern auch Forderungen. Dies und jenes wollte man anders haben, dies und jenes vermisste man noch. Der Matrose verlangte Seemannnslieder, die martialisch aussehende Frau von der Kolchose eine epische Würdigung der landwirtschaftlichen Arbeiterin. Ans Werk, Genosse Schriftsteller!

Nachher sprach wieder ein Autor oder ein Kritiker. Man diskutierte über den Roman und über die Satire, über Gedicht und Drama, eigentlich aber immer über den "neuen Menschen" – den sozialistischen –, wie er am besten zu schildern und wie ihm am nützlichsten zu dienen sei. Diesem "neuen Menschen" – dem schon existenten; mehr noch dem heranzubildenden; dem, dessen Art und Wesen man erst von weitem erkennt –: ihm fühlt die Literatur sich ganz und gar verpflichtet, alles, was sie leistet, hat nur Daseinsberechtigung, wenn es ihn fördert, seine gegenwärtige und künftige Grösse darstellt und dadurch deutlicher macht. – Daher der tiefe, verantwortungsvolle Ernst, mit dem man hier pädagogische Fragen erörtert und überlegt.

Während der ersten Kongresstage standen im Mittelpunkt der Diskussion die Themen "Kinderliteratur" und "Literatur der nationalen Minderheiten", von der Stalin verlangt hatte, sie solle "sozialistisch im Inhalt" sein, "national in der Form" (wobei freilich die Scheidung zwischen Inhalt und Form etwas bedenklich anmutet). – Gorki hatte in seiner grossen Eröffnungsrede diese beiden Themen angeschnitten.

Die Stellung des Schriftstellers Maxim Gorki in der Sowjet-Union ist mit der Situation irgendeines andren Schriftstellers in irgendeinem andren Lande nicht zu vergleichen. Es gibt auch hier, ausser ihm, viele hoch geschätzte und viel besprochene Autoren: es gibt Serafimowitsch und A. Tolstoi, Panferow und Iwanow, Ilya Ehrenburg, Cholokow, Tretjakow, Fedin, den Lyriker Pasternak. Aber Gorki ist der Patriarch, der ehrwürdige Liebling, die hohe Instanz. Gorki gehört zu den populärsten, den verehrtesten Figuren des Landes. Sein eigensinnig-gütiges, bäurisch-durchgeistigtes Haupt sieht dich aus jedem dritten Schaufenster an; im Kongress-Saal hing sein Bild in Riesenformat neben dem Bilde Stalins: der Dichter neben dem Leiter des Staates. Es wird mit ihm ein Kult getrieben, gegen den er selbst protestiert; er tat es auch im Rahmen des Kongresses: in seiner zweiten, abschliessenden Rede warnte er ausdrücklich vor der Überschätzung eines Einzelnen. Als er das Podium betrat, wollten die Ovationen nicht aufhören. Während er sprach, musste er sich der Photographen wie lästiger Fliegen erwehren. Er redete lange und mit leiser Stimme. Ich wage es nicht, seine Rede zu beurteilen, die ich in vielleicht ungenügender Übersetzung und abgekürzt kennenlernte. Sie schien mir von einem etwas starren marxistischen Dogmatismus; ich spürte in ihrer Conzeption nicht die Grösse, die man der Figur Gorki zugesteht – wie denn überhaupt die auf dem Kongress gehaltenen Reden weniger interessant und in einem gewissen Sinn rückständiger waren, als andere, weniger offiziöse Äusserungen des öffentlichen Lebens.

Man bekommt hier viel berichtet von der erstaunlich vielseitigen, pädagogischen und produktiven Tätigkeit dieses gefeierten alten Mannes, Gorki. Die Legende seiner riesenhaften Leistung macht ihn ehrwürdig, auch für den Fremden. Mit einer echten Ehrfurcht betritt man sein Haus.

Wir sind einen Abend lang seine Gäste gewesen – ein grosser Abend, der mit Diskussion begann und mit Trinksprüchen endete. – Der Schriftsteller Gorki empfing seine Schriftsteller-Gäste in einem fürstlichen Haus. Während man im ersten Stock um eine lange Tafel sass und Fragen an den Hausherrn richtete, der als ein etwas enerviertes Orakel in der Mitte thronte, erschienen einige sehr hohe Mitglieder der Sowjet-Regierung, es waren mächtige Männer, die mächtigsten vielleicht nach dem allermächtigsten: ihr Auftreten war nicht anders als das der Deputation einer Fabrik es gewesen wäre, an diesem Abend waren sie Gorkis Gäste und unsere Tischgenossen, es war eine Demonstration der Regierung für die Literatur.

Sie erschienen vielleicht grade in dem Augenblick, als Gorki gefragt wurde, was er von Céline oder von John dos Passos halte. Er äusserte sich ziemlich ablehnend über Beide; er bewahrt sich eine strenge Haltung dem gegenüber, was im Westen produziert wird – darin im Gegensatz zum grossen sowjet-russischen Publikum –: es scheint ihm den Forderungen des sozialistischen Realismus nicht gerecht zu werden.

Die Diskussion wurde erregender, als der Franzose Aragon, mit einer gewissen nachlässigen Kühnheit, das grosse und gefährliche Thema in die Debatte warf: das Thema "Individualismus-Kollektivismus". "Wie stehen Sie, Maxim Gorki", fragte der Franzose Aragon, "zu dem Vorwurf, den man von liberaler Seite dem Kommunismus macht: er unterdrücke die Persönlichkeit und ihre freie Entfaltung?"

Nun ist auf diese Fragestellung schon eine Formel als Antwort da, die besagt: der Kommunismus sei zwar feindlich dem Individualismus, garantiere aber, als einzige Staatsform, die freie Entwicklung der Individualität. Sie vereinfacht wie alle Formeln. Das Problem behält, jenseits seiner etwas zu blendenden Lösung, tiefe Aktualität. Die Dringlichkeit dieser Problematik sollte sich, denselben Abend noch, in einer Diskussion zwischen Jean-Richard Bloch und Radek erweisen.

Zum dramatischen Höhepunkt des gesprächereichen Festes wurde die Rede einer jungen chinesischen Revolutionärin, die die Kerker ihrer Heimat und Europas kennt. Sie sprach in gebrochenem Deutsch. Mit einer ergreifenden Zwitscherstimme berichtete sie, wie in ihrem Lande gelitten wird für die Sache der Zukunft. Junge chinesische Literaten – ihre Freunde – wurden lebendig begraben, weil sie Bücher übersetzt hatten von Maxim Gorki. "Ich darf hier bei alte Gorki sitzen", rief die junge Kämpferin, und ihre Zwitscherstimme gab die erstaunlichsten Töne her. "Aber andere, die sich ihr Leben lang das gewünscht haben, sind tot." Sie konnte nicht weitersprechen, vor Tränen. Niemand rührte sich. Als man den gesenkten Kopf wieder hob, sah man, dass Gorki weinte.

Die Rede Karl Radeks über die internationale Literatur war, nach dem einführenden Gorki-Referat, das zentrale Ereignis des Kongresses. Es ist fraglos, dass diese Rede enttäuschte. In der Diskussion, die nachher lebhaft einsetzte, wurde Radek von vielen Seiten attackiert, und oft heftig. Seine abschliessende Erwiderung war konzentrierter und geistvoller, als seine Rede es gewesen war.

Karl Radek gilt für einen glänzenden Aussenpolitiker. Nicht so zuständig scheint er mir in den Angelegenheiten des Schrifttums. Seine Darstellung der weltliterarischen Situation war roh und schematisch; übrigens enthielt sie Unrichtigkeiten. Sowohl was die Leistungen der deutschen proletarischen Literatur, – er hatte einige Namen wahllos herausgegriffen –, als auch was die Haltung der "links-bürgerlichen" Schriftsteller während des Krieges betrifft, widersprachen ihm deutsche Delegierte: Plivier und Willi Bredel. Die Diskussion zwischen J. R. Bloch und Radek über das zentrale Thema "Individualismus", im Hause Gorkis begonnen, wurde im Kongress-Saal fortgesetzt. Der deutsche Verleger und Schriftsteller Wieland Herzfelde antwortete Radek auf einen Angriff, den dieser gegen James Joyce unternommen hatte.

Dieser Angriff auf Joyce war typisch für Radeks gesamte Haltung. Er warnte vor dem Einfluss des grossen Iren und nannte ihn kleinbürgerlich, weil der "Ulysses" nur individualistische, keine sozialen Inhalte habe. Der revolutionierenden psychologischen und stilistischen Leistung, die James Joyce zu einem Ereignis macht in der europäischen Literatur, gedachte er nicht. – Als noch peinlicher empfand ich einige Sätze, die er Marcel Proust widmete. Ein Gegenstand des Sarkasmus war ihm, dass Proust sieben Gerüche gleichzeitig von einander unterscheiden konnte und dass seine Kritiker – auch seine sowjet-russischen – ein Rühmens davon machen. In Arbeiterwohnungen – meinte Radek – gebe es meistens nur einen Geruch, den nach Kohl; man täte besser daran, helle, saubre Arbeiterhäuser zu bauen. – Ausgezeichnet, wir sind für die Arbeiterhäuser. Aber sind sie ein Argument gegen Proust? Doch nur dann, wenn man der Kunst keinerlei Daseinsberechtigung zugesteht, solange die Arbeiterwohnungen nicht überall perfekt sind. So denkt und empfindet man jedoch nicht in der Sowjet-Union. Was sollte also die recht vulgäre Ironie Karl Radeks?

Von der Fähigkeit Marcel Prousts, sieben Gerüche gleichzeitig von einander zu unterscheiden, ist in der Tat viel Rühmens zu machen, da der also Überfeinerte, dank dieser Fähigkeit und dank anderen, dieser verwandten, aus dem Roman etwas gemacht hat, was er bis dahin nicht gewesen war. Proust entdeckte Neuland, auch er: er führte eine neue Sensibilität in die Literatur ein, er lieferte ein unerhörtes Beispiel dafür, mit welcher Präzision sinnliches Leben durch das Wort wiederzugeben ist.

Das Referat über die Weltliteratur hätte man lieber von einem Kompetenteren gehört, dessen Anwesenheit hier übrigens auf eine gewisse demonstrative Art gefeiert wurde: von Ilya Ehrenburg. Durch seinen Roman "Der zweite Tag", aus dem viel zu lernen ist über die Problematik der Sowjet-Jugend, hat er sich das Vertrauen des Publikums und der Kritik in seinem Lande ganz gewonnen; früher hatte er zu denen gehört, gegen die man Bedenken hatte, wenngleich er niemals ein Verstossener war. Seine Rede auf dem Kongress schien mir die substanziellste, ernsthafteste und mutigste zu sein. Er brachte auch Kritik, man nahm sie mit Respekt zur Kenntnis – freilich unter der Voraussetzung, dass Ehrenburgs Grundeinstellung zum sozialistischen Staat eine durchaus positive sei. Kritik wird akzeptiert, wenn sie von einem wirklich Beteiligten kommt; wenn sie, genau betrachtet, also eigentlich Selbstkritik bedeutet. Dann freilich darf und soll sie scharf und gründlich sein – während man im faschistischen Staat zwar "positive Kritik" fordert, in praxi aber alles verbietet, was nicht Lobhudelei ist.

Mich beschäftigt die Frage, ob der Geist der Opposition ein der Literatur letztlich nützlicher oder schädlicher Geist ist. Sowohl der Fascismus als der Kommunismus behaupten, dass er schädlich sei. Dabei ist zu bedenken, dass die sowjetistische Literatur vom Pathos der Anklage, der Opposition doch noch profitiert, da sie die kapitalistische Umwelt als Objekt der sittlichen Verneinung hat. Dieser Zustand soll sich jedoch ändern, gemäss der Hoffnung und der Verheissung. Dann wird die Literatur mit dem gesellschaftlichen Zustand einverstanden sein, ihr Beruf wird es sogar werden, ihn zu feiern und höchstens noch Einzelheiten zu kritisieren. Wie wird ihr das bekommen?

Die Schriftsteller der bürgerlichen Epoche konnten sich – so heisst es hier – zu ihrer ganzen Grösse keineswegs entwickeln, da sie – mindestens unbewusst – in einer ablehnenden Stellung sich befanden gegenüber der sie umgebenden, ausbeuterischen und schlechten gesellschaftlichen Realität und gelähmt waren durch diese Opposition. Der sozialistische Schriftsteller aber wird das höchste ihm mögliche Mass erreichen können, denn er ist nicht mehr gehemmt durch seine negative Stellung zur Gemeinschaft, deren Daseinsform und Ordnung er ja vielmehr glühend bejaht. Es wird deshalb hier streng unterschieden zwischen dem pessimistischen Realismus des 19. Jahrhunderts, der vor allem die Nacht- und Schattenseiten, das Furchtbare der gesellschaftlichen Wirklichkeit anklägerisch schilderte – und dem sozialistischen Realismus, der optimistisch ist und im Dienste des gesellschaftlichen Aufbaus steht.

Fraglos ist, dass der Schilderer einer geliebten sozialistischen Wirklichkeit subjektiv glücklicher sein darf, als der spottende und anklagende Gesellschaftskritiker es je war. Ein andres Problem ist es, ob dieses Glück auch gleichzeitig eine Steigerung seiner künstlerischen Potenz bedeuten wird. Vielleicht wuchs seine Kraft doch eben an der leidensvollen Spannung, die zwischen seiner Gesellschaftsvision und der sozialen Realität bestand. Die Frage ergibt sich, welchen Ersatz er finden wird für die schreckliche und grosse Stimulans solcher Spannung; oder ob diese Spannung – es ist die zwischen Idee und Wirklichkeit – nicht in einer veränderten Form immer und unter allen Umständen bestehen bleiben muss.

Die Literatur steht hier im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Aber das erspart uns die Frage nicht: was ist denn hier die Funktion der Literatur? Was erwartet man, was will man von ihr? Will man wirklich nur, dass sie den sozialistischen Aufbau schildert, kritisiert, feiert? Ist damit ihre Aufgabe schon erfüllt? Wäre alles andre verspätet bürgerlicher Schnickschnack?

Ich akzeptiere jene Conzeption Max Brods, welche die menschlichen Schmerzen einteilt in heilbare und unheilbare, in verschuldete und unverschuldete, in unedle und edle. Die "heilbaren" Schmerzen sind alle jene, die aufzuheben sein werden durch eine bessere soziale Ordnung – durch eine Organisation der Gesellschaft also, die das Prinzip der gegenseitigen Ausbeutung nicht mehr kennt. Damit wären aber jene Schmerzen noch nicht getilgt, die andere Ursachen haben, als Organisationsfehler. Ist die Trauer jemals aufzuheben? Ist sie nicht immanent dem Phänomen des menschlich-individuellen Daseins, des irdischen, todgeweihten, vergänglichen Daseins überhaupt? Ist die Einsamkeit der Individuation, das gnadenlose Getrenntsein des Menschen vom Nächsten – der immer zugleich der Fernste ist –, wegzuschaffen durch die sozialistische Umorganisation? Ist das Bewusstsein für Vergänglichkeit und Einsamkeit nur die dekadente Stimmung spätbürgerlicher Generationen?

Die grosse Tat der sozialen Neuordnung – die sich in der Sowjet-Union verbindet mit der Tat der Industrialisierung, ja, Zivilisierung eines Teiles der Erdoberfläche, der rückständig war –, diese heroїsche Tat erzeugt bei den russischen Schriftstellern eine Stimmung von eclatantem Optimismus. Eine Beschäftigung mit metaphysischen Dingen kommt ihnen komisch vor, wenn nicht gar contre-revolutionär; für eine zu innige Beschäftigung mit dem Tode haben sie nur ein Achselzucken – der Tod ist der natürliche Abschluss eines Lebens, das Arbeit für die Gemeinschaft war. – Ich halte mir vor, was den sozialistischen Schriftsteller misstrauisch machen muss gegen jede tragische oder metaphysische Stimmung: wir haben gar zu häufig ihren Missbrauch gesehen, ihren Missbrauch im Dienste der Reaktion, der fortschrittsfeindlichen Mächte. Man weiss, dass der Fascismus die tragischen Stimmungen protegiert. Sie sind ihm bei weitem bequemer als der klare, rationale Fortschrittswillen. Aber – schliesst das Eine das Andre aus? Ist eine materialistische, optimistische Weltauffassung wirklich die Voraussetzung für den politischen guten Willen? Für die Verwendbarkeit im Dienste der guten Sache? Ist der nicht-materialistische Schriftsteller wirklich schon reaktionär und arbeitet, ohne es zu wissen, im Dienst des Fascismus? – Es gibt heute keine andre Frage, die mich so tief beunruhigt wie diese. Deshalb setze ich sie in dieser zugleich vagen und vergröbernden Direktheit her. Ich weiss, dass man mir keine Antwort geben kann. Eine lange Entwicklung wird mir die Antwort geben.

Vielleicht ist diese Entwicklung in der Sowjet-Union schon im Flusse. Man hat dort schon viele Etappen hinter sich. Denn es gab dort eine Zeit, da die Literatur sich gleichsam selber ablehnte und die Daseinsberechtigung absprach. Poeten verkündigten damals, nur die Reportage passe in den neuen Staat, Kunst aber sei "Opium fürs Volk". Heute verlangt die offizielle Kulturkritik von der Literatur nicht mehr nur Gesinnung, sondern vor allem künstlerische Qualität – und dies mit allem Ernst und allen Konsequenzen. Sie verlangt also Schönheit. Diese bedeutet aber nicht nur "saubere Arbeit", Stalins Bezeichnung des Schriftstellers als des "Ingenieurs der Seele" ist überholt. Mit der Schönheit dringt das Geheimnis, das Irrationale ein.

Man wird auch die Etappe des "optimistischen Realismus" überwinden, es ist meine Überzeugung. Das wird man sich leisten können, wenn die Zeit des heroischen Aufbaus und der Gefährdung von aussen vorüber ist – also in der Sowjet-Union vielleicht früher, als in irgendeinem andren Land. Wenn von den "heilbaren" Schmerzen die ärgsten geheilt sind, wenn die Neuordnung, auf die wir alle warten, auch nur zum schwersten Teile vollbracht sein wird – dann werden die "unheilbaren" Schmerzen sich wieder zum Worte melden, und jedes Kunstwerk wird ihre Stimme sein. Wenn die Erde ein wenig vernunftvoller geordnet sein wird, wird man wieder vom Geheimnis sprechen dürfen, ohne als ein Reaktionär zu gelten – und ohne einer zu sein.

Vielleicht darf diese kämpfende Generation nur den Optimismus kennen. Aber die nächste – des bin ich sicher – wird nicht mehr glauben, die menschliche Einsamkeit sei eine Verschuldung des Kapitalismus, der schauer- und liebevolle Blick auf den Tod eine kleinbürgerliche Marotte, der Schmerz der Liebe ein Ablenkungsmanöver vom Klassenkampf. Diese Generation wird von der Literatur etwas anderes wollen, als ein Hohes Lied auf die Kollektivisierung der Landwirtschaft. Sie wird durstig sein nach anderen Tönen und sie wird hören wollen Rufe aus einer anderen Tiefe. Ach, ich spüre es doch: ihr wird ein "Werther" geschrieben werden.

Die Eindrücke, die diese Stadt und ihre neue Kultur mir schenkt, sind gross und bewegend. Die grossen Eindrücke bewegen mein Herz und meine Gedanken. In meinem Herzen und in meinen Gedanken wechseln Ergriffenheit und Widerspruch miteinander ab. Die Ergriffenheit ist stärker als der Widerspruch.

Nachts, wenn ich aus dem Kongress-Saal, aus dem Leben dieser halb noch asiatischen, halb schon amerikanisierten Stadt in mein Hotelzimmer komme, bin ich erregt – jede Nacht wieder: ich komme aus einem Abenteuer. Von dieser seelisch-intellektuellen Erregtheit sind die Notizen, die ich mir mache, nur ein matter Niederschlag.

Moskau hat die Kraft, alle unsre Gedanken auf die Zukunft zu konzentrieren – so zukunftsträchtig ist diese Stadt. Ja, auf die europäische Zukunft, auf unsere Zukunft konzentrieren sich meine Gedanken. Ich spüre, wie noch nie, ihren furchtbaren Ernst, die Grösse der Entscheidungen, die sie bringen wird. Ich sehe ihr mit Grauen und mit Hoffnung entgegen. Ich frage mich, wie ich ihr standhalten werde. – Diese Beunruhigung ist tief und quälend; sie enthält aber auch Glück. Denn ich spüre doch wieder, dass es eine Zukunft gibt.

Hier nach: Klaus Mann, Notizen in Moskau, in: Die Sammlung 2 (1934/35) Heft 2, S. 72-83.