"Zeit zum Investieren". Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1976/77

Einleitung

Wie erklärt sich dieser grundlegende Positionswandel des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten "Zeit zum Investieren" von 1976? Ausgangspunkt bildete das Krisenjahr 1973, in dem die westlichen Industriestaaten von zwei ökonomischen Schocks bislang unbekannten Ausmaßes getroffen wurden: Im März 1973 kollabierte zunächst das Weltwährungssystem von Bretton Woods. Die expansive Geldpolitik der Vereinigten Staaten infolge des Vietnamkrieges zwang die anderen Staaten, große Mengen an US-Dollar auf dem internationalen Devisenmarkt zu erwerben. Nur mittels dieser Aufkäufe konnten sie in einem System fester Wechselkurse zeitweilig den Wert ihrer Währungen gegenüber der Leitwährung des US-Dollars stabil halten. Die Schwäche des US-Dollars ließ sich dadurch aber mittelfristig nicht aus der Welt schaffen. Stattdessen gewann die D-Mark auf dem internationalen Währungsmarkt zunehmend an Attraktivität, so daß mehr und mehr Devisen in die Bundesrepublik strömten. Die Inflationsrate, die hier bereits durch die Expansion der Staatsausgaben unter der sozialliberalen Regierung genährt worden war, erfuhr dadurch einen weiteren kräftigen Schub. Angesichts der sich verschärfenden Preisniveauinstabilität entschied die Bundesregierung schließlich am 19. März 1973 neben fünf weiteren europäischen Staaten aus dem System fester Wechselkurse von Bretton Woods auszuscheren.

Die Entwicklung des Preisniveaus kam allerdings auch in den nachfolgenden Monaten nicht zur Ruhe. Anfang Oktober 1973 war der vierte Nahostkrieg (Jom-Kippur-Krieg) zwischen Israel und den arabischen Staaten ausgebrochen. Als sich der Krieg zugunsten des von den Vereinigten Staaten unterstützten Israels neigte, griffen die arabischen Staaten zum Öl als Waffe. Die Erdöl exportierenden arabischen Staaten veranlaßten einen Lieferboykott und drosselten drastisch die Fördermenge, so daß in der Bundesrepublik wie in den anderen westlichen Industriestaaten das Preisniveau weiter in die Höhe schnellte. Der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods und die Ölpreiskrise lösten den ersten tief greifenden konjunkturellen Einbruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte aus. Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik verschlechterte sich in all ihren Grundparametern: Die Inflationsrate sprang von 2,1 Prozent im Jahr 1969 auf 7 Prozent im Jahr 1973, das Wirtschaftswachstum sank 1974 auf null Prozent und erreichte 1975 sogar ein Minuswachstum von 1,3 Prozent. Darüber hinaus stieg die Arbeitslosigkeit von 179 000 Beschäftigungslosen im Jahr 1973 auf zunächst 582 000 Menschen ohne Arbeit im Jahr 1974 und überschritt 1975 sogar die Millionengrenze. Insgesamt stellte sich damit eine völlig neuartige gesamtwirtschaftliche Konstellation ein, die mit dem Begriff der "Stagflation", einem Kurzwort aus "Stagnation" und "Inflation", umschrieben wurde. Erstmals traten stagnierendes und sinkendes Wirtschaftswachstum gleichzeitig mit einer hohen Geldentwertung auf.

Welche Strategie bot sich nun zur Überwindung der "Stagflation" an? Seit Verabschiedung des "Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" im Juni 1967 wurde in der Bundesrepublik eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik verfolgt. Ihren konkreten Ausdruck fand sie im Konzept der Globalsteuerung, das maßgeblich unter der Federführung von Karl Schiller (SPD), dem Bundesfinanzminister der Großen Koalition, entstanden war. Die Globalsteuerung fußte theoretisch auf der Lehre des britischen Ökonomen und Mathematikers John Maynard Keynes. Dieser war in seinem Werk "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" von 1936, das er als Versuch einer Antwort auf die Weltwirtschaftskrise verfaßt hatte, zu dem Schluß gelangt, daß in wirtschaftlichen Krisenzeiten, in denen Produzenten wie Konsumenten nur bedingt als Nachfrager auftreten können, der Staat diese Rolle zeitweise übernehmen müsse. Keynes’ Ansatz wurde nachfolgend von seinen Anhängern zu einer Theorie der Makroökonomie (Keynesianismus) weiterentwickelt, in der der Wirtschaftslenkung durch den Staat unabhängig von der konjunkturellen Lage in einer Volkswirtschaft grundsätzlich eine Schlüsselrolle zufiel. Das "Stabilitäts- und Wachstumsgesetz" war das erste Gesetz keynesianischer Prägung in der Geschichte der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik. Ganz im Sinne der Überzeugung, daß die öffentliche Hand mittels Investitionen im Rahmen einer Feinabstimmung von Geld-, Fiskal- und Steuerpolitik je nach Konjunkturlage Herr über marktwirtschaftliche Konjunkturschwankungen sein könne, erklärte es das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zur politischen Aufgabe von Bund und Ländern.

Angesichts der "Stagflation" der Jahre 1973 bis 1975 offenbarten sich allerdings rasch und deutlich die Grenzen der Globalsteuerung Schillerscher Provenienz. Die sozialliberale Bundesregierung unter Helmut Schmidt blieb ihrem wirtschaftspolitischen Kurs zunächst treu und verhielt sich strikt keynesianisch. Im Dezember 1974 beschloß sie ein umfassendes "Programm zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum bei Stabilität" mit einem Gesamtvolumen von fast zehn Milliarden D-Mark, das u. a. Lohnkostenzuschüsse und Mobilitätszulagen für Arbeitnehmer enthielt. Daneben verdoppelte sie den Bezug von Kurarbeitergeld auf zwei Jahre und verabschiedete eine Investitionszulage von 7,5 Prozent für Ausrüstungsgüter und Gebäude. Trotz weiterer Maßnahmen zur Stimulierung der Konjunktur kehrte die Volkswirtschaft allerdings nicht auf ihren Wachstumskurs zurück.

Vor dem Hintergrund einer beunruhigend hohen Inflationsquote setzte sich die Bundesbank 1974 als erste Einrichtung vom Kurs der Globalsteuerung ab. Indem sie ihre Geldmengenentwicklung streng nach einem bestimmten "Zielkorridor" auszurichten begann, erteilte sie den Koordinationsabsichten von Fiskal-, Steuer- und Geldpolitik eine klare Absage. Ihr Ziel war nun nicht mehr das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Sinne des "Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes", sondern eine von politischen Vorgaben unabhängige Preisentwicklung, die primär Inflationserscheinungen vermeiden und erst in einem zweiten Schritt Wirtschaftswachstum begünstigen wollte. Mit dieser regelgeleiteten Geldpolitik folgte sie in Grundzügen der monetaristischen Lehre nach dem amerikanischen Ökonomen Milton Friedman, die die keynesianische Makrotheorie von Grund auf auf den Kopf stellte. Der innovative Kern in der Lehre des Monetarismus lag in der Bedeutung, die Friedman der Geldmenge und ihrer Steuerung in einer Volkswirtschaft zuwies. Bislang hatten Ökonomen wie Politiker gemäß dem Ausspruch von Keynes "Money doesn’t matter" den monetären Faktoren keine Bedeutung für das Auf und Ab einer Volkswirtschaft geschenkt. Für Friedman legten allerdings die Ergebnisse seiner Studie "Die Geschichte der Geldpolitik der Vereinigten Staaten" von 1962 den gegenteiligen Schluß nahe. Zusammen mit seiner langjährigen Kollegin Anna Schwartz wies er für die Vereinigten Staaten nach, daß im Zeitraum von 1867 bis 1960 Rezessionen immer Geldmengenveränderungen vorausgegangen waren. Insofern gelangte Friedman zu der Überzeugung, daß die Geldmenge und nicht wie bei Keynes die Güternachfrage der wichtigste Faktor zur Steuerung des Wirtschaftsverlaufs sei. Für die Wirtschaftspolitik kam Friedman ebenso zu einer der keynesianischen Theorie entgegenstehenden Grundaussage: Vorrangige Aufgabe des Staates war es in seinen Augen nicht, mittels einer wohl austarierten Koordination von Geld-, Fiskal- und Steuerpolitik für ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht zu sorgen; sein Verantwortungsbereich war es allein, sich auf eine möglichst exakte Steuerung der Geldmenge in Orientierung am Wirtschaftswachstum zu fokussieren und von allen anderen Aktivitäten in der Wirtschaft abzusehen, um keine Störungen des Konjunkturverlaufs zu provozieren.

Nach der Bundesbank entfernte sich auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung von der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik der Globalsteuerung und wandte sich in mehreren Schritten der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik zu. Ihre Vordenker waren die Vertreter der "Supply-Side-Ökonomie", einer weiteren wirtschaftstheoretischen Strömung in den Vereinigten Staaten, die während der Siebzigerjahre wie die Chicagoer Schule Friedmans das keynesianische Theoriegebäude ins Wanken brachten. 1976 verwandte schließlich der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten mit dem programmatischen Titel "Zeit zum Investieren" erstmals den Begriff der "angebotsorientierten Wirtschaftspolitik". Diese sollte aus Sicht des Sachverständigenrates für die bundesrepublikanische Volkswirtschaft drei Ziele vor Augen haben: erstens die Wiederherstellung und Sicherung der Geldwertstabilität, zweitens die Generierung von Wirtschaftswachstum mittels der Schaffung günstiger Investitionsbedingungen für Unternehmen und drittens die Revision der Staatstätigkeit.

In der Regierungskoalition aus SPD und FDP entbrannte zwischenzeitlich der Streit über die Ursachen der anhaltenden wirtschaftlichen Talfahrt und damit auch über die Art und Weise, wie diese beendet werden sollte. Höhepunkt der Auseinandersetzung bildete ein Positionspapier des damaligen Bundeswirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff (FDP), das im Zusammenhang mit den Beratungen für den Bundeshaushalt 1983 entstand. Ins Zentrum des Papiers stellte Graf Lambsdorff seine Überzeugung, daß die ökonomische Krise nur auf Grundlage eines neuen Wachstumsprozesses erfolgreich bekämpft werden könnte und daß dafür die private und nicht die staatliche Investitionstätigkeit massiv erhöht werden müßte. Graf Lambsdorff trat damit in deutliche Distanz zum wirtschaftspolitischen Kurs der sozialliberalen Regierung und ebnete gleichzeitig seiner Partei den Weg zu einem Koalitionswechsel mit der CDU/CSU, wie er sich schließlich im Oktober 1982 vollzog. Als Helmut Kohl (CDU) in seiner Regierungserklärung im März 1983 das Bild einer zukünftigen Wirtschaftsordnung zeichnete, die um so erfolgreicher sein werde, je mehr sich der Staat zurückhalte und dem einzelnen seine Freiheit lasse, erschien die neue Regierung voll im neuen Meinungstrend der damaligen Ökonomie, der sich im Gutachten des Sachverständigenrates von 1976 erstmals offenbart hatte.

Iris Karabelas