Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, 12. September 1990

Einführung

Plötzlich und unerwartet setzten die Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenzen am 9. November und der Zusammenbruch der DDR am Ende des Jahres 1989 die deutsche Frage wieder auf die internationale Tagesordnung.

Nach der alliierten Besetzung Deutschlands 1945 und der Gründung zweier deutscher Staaten 1949 hatte sich in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, daß eine deutsche Wiedervereinigung auf absehbare Zeit nicht zu erwarten sein würde. Die Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition zu Beginn der siebziger Jahre zielte darauf, einen Modus vivendi mit der DDR und ihrer Führung (die ganz auf die Zweistaatlichkeit setzte) zu finden und auf ihre innere Liberalisierung zu hoffen, anstatt auf ihre Destabilisierung zu bauen. Die Regierung GlossarKohl setzte diese Politik in den achtziger Jahren grundsätzlich fort, und in diesen Jahren hatte sich in der Bundesrepublik ein allgemeiner Konsens ausgebreitet, sich mit Teilung und Zweistaatlichkeit Deutschlands abzufinden.

Als GlossarGorbačevs Reformpolitik dahin kam, die GlossarBrežnev-Doktrin – die Verpflichtung der Staaten des Ostblocks auf den sowjetischen Sozialismus nach innen und nach außen bei Strafe der militärischen Intervention – abzuschaffen und als die Staaten, zunächst Polen und Ungarn, am Ende der achtziger Jahre im Innern und dann auch nach außen vom Sowjetkommunismus abzufallen begannen, griff diese Bewegung auch auf die DDR über. In ihrem Falle stand aber nicht nur das innere System des SED-Staates auf dem Spiel, sondern die gesamte staatliche Existenz. Für die Staatenwelt bedeutete dies, daß die Landkarte Europas, die über vier Jahrzehnte hinweg die Stabilität zwischen den Blöcken getragen hatte, substantiell verändert werden würde. Für die Staaten Europas bedeutete dies, daß ein wiedervereinigtes Deutschland größer als Frankreich, Großbritannien und Italien werden würde und die Kräfteverhältnisse in Europa verschob. Und für die Sowjetunion bedeutete eine deutsche Wiedervereinigung nicht nur den Verlust der DDR als westlicher Vorposten des GlossarWarschauer Paktes, sondern auch – vor allem, wenn sie zu westlichen Bedingungen stattfand – die Revision der Ergebnisse von 1945 zu ihren Ungunsten.

So kamen die erheblichen Widerstände der Regierungen in Moskau, Paris und London nicht von ungefähr, als Helmut Kohl am 28. November 1989 überraschend ein "Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas" im Deutschen Bundestag vortrug (Kaiser). Die Bundesregierung hatte einen Kurswechsel vollzogen: von der Stabilisierung, wenigstens der Anerkennung der Stabilität der DDR hin zu einer deutschen Vereinigung, für die Kohl allerdings zunächst viele Jahre veranschlagte.

Auf einem EG-Gipfel in Straßburg am 8./9. Dezember 1989 mußte Kohl in "eisiger Atmosphäre" eine "fast tribunalartige Befragung" über sich ergehen lassen (Kohl).Und drei Tage zuvor hatte Außenminister GlossarGenscher in Moskau seine "unerfreulichste Begegnung" mit GlossarGeneralsekretär des CK der KPSS Gorbačev erlebt, der dem Bundeskanzler vorwarf, durch "ultimative Forderungen" die Stabilität in Europa zu gefährden (Genscher/Gorbačev). Im Dezember 1989 türmten sich solche Widerstände gegen die Bonner Vereinigungspolitik auf, daß Kohl kurzfristig mit dem Gedanken spielte, den Regierungen der alliierten Siegermächte ein Wiedervereinigungsmoratorium anzubieten (Teltschik).

Zwei Umstände kamen der Bundesregierung jedoch zugute. Zum einen war es die innere Entwicklung in der DDR: der administrative Zusammenbruch des Staates, ein anschwellender Strom von Übersiedlern in die Bundesrepublik und das seit der Öffnung der innerdeutschen Grenzen zunehmende und unübersehbare Verlangen der Bevölkerung der DDR nach einer Vereinigung mit der Bundesrepublik, das sich schließlich in den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 manifestierte. Eine schnelle Wiedervereinigung konnte sich somit auf das schwer angreifbare Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bevölkerung berufen.

Das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bevölkerung zählte auch zu den Bedingungen der US-Regierung für eine Unterstützung der Wiedervereinigung, die zum zweiten wesentlichen Faktor für die Überwindung der Widerstände wurde. Bereits am Tag nach Kohls Zehn-Punkte-Plan hatte Außenminister GlossarJames Baker öffentlich "vier Prinzipien" zur Frage der Wiedervereinigung formuliert: die Verwirklichung der Selbstbestimmung, einen friedlichen und schrittweisen Prozeß, die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und – vor allem – die fortdauernde Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO (Kaiser). Ende Februar 1990 reiste Bundeskanzler Kohl in die USA und stimmte sich in Camp David mit Präsident GlossarGeorge H. Bushab. Fortan übernahm die US-Regierung die Führung im Vereinigungsprozeß auf internationaler und sicherheitspolitischer Ebene, während die Bonner Regierung sich vorrangig um die nationale und ökonomische Ebene kümmerte.

Zu dieser Zeit hatte die sowjetische Regierung begonnen, sich an den Gedanken einer Vereinigung Deutschlands zu gewöhnen. "Nunmehr ist klar", so habe Gorbačevs auf einer Beratung am 26. Januar 1990 gesagt, berichtet sein Berater GlossarŠachnazarov, "daß die Vereinigung unausweichlich ist, und wir haben kein moralisches Recht, uns ihr zu widersetzen. Unter diesen Bedingungen kommt es darauf an, die Interessen unseres Landes maximal zu wahren." Konkret bedeutete dies eine Entmilitarisierung ganz Deutschlands und den "Austritt der Bundesrepublik aus der NATO" (Šachnazarov).

Die Frage der Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschlands wurde somit zur entscheidenden internationalen Streitfrage im Wiedervereinigungsprozeß. Die Entscheidungen fielen dabei auf der Ebene 2+1, im Dreieck Washington-Bonn-Moskau. Der 2+4-Prozeß hingegen vermochte nie gestaltenden Einfluß auf die Entwicklung zu gewinnen.

Der 2+4-Prozeß wurde am 13. Februar 1990 am Rande einer internationalen Konferenz im kanadischen Ottawa auf der Ebene der Außenminister der Bundesrepublik, der DDR, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, der UdSSR und der USA etabliert. Er diente, so die amerikanische Vorstellung, der Kanalisierung der mäandrierenden internationalen Entwicklung um die Wiedervereinigung und der Einbindung der Sowjetunion in den internationalen Prozeß.

Die Entscheidung über die Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands fiel unterdessen Ende Mai 1990 auf einem amerikanisch-sowjetischen Gipfel in Washington, als Gorbačev – völlig überraschend selbst für seine engste Umgebung – dem amerikanischen Präsidenten zugestand, die Deutschen sollten das Bündnis, dem sie angehören wollten, frei wählen können, was de facto nichts anderes bedeutete, als daß er einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft zustimmte. Die NATO ihrerseits half nach, indem sie in politischen Grundsatzerklärungen der Sowjetunion entgegenkam und den Ost-West-Konflikt für überwunden erklärte.

Und die Bonner Regierung kam der Sowjetunion entgegen, indem sie Moskauer Kreditwünsche nutzte, um Vorleistungen zu erbringen. Im Rahmen eines sowjetisch-deutschen Gipfels in Moskau und im Kaukasus vom 14. bis 16. Juli 1990 nahmen beide Seiten die Feinabstimmung über den Abzug sowjetischer Truppen aus Deutschland und deutsche wirtschaftliche Unterstützung für die Sowjetunion sowie die künftige Höchststärke der Bundeswehr vor. Zwar setzte Gorbačevs im September 1990 noch einmal Nachverhandlungen über die ökonomischen Leistungen der Bundesrepublik auf die Tagesordnung (nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums hat die Bundesrepublik Zahlungen in Höhe von insgesamt ca. 57,3 Mrd. DM an die Sowjetunion geleistet). Die Abmachung jedoch, daß mit dem Tag der Wiedervereinigung, der auf den 3. Oktober angesetzt war, die Rechte der Vier Mächte über Deutschland erlöschen, wurde letztlich nicht mehr gefährdet.

Die konkrete Ausarbeitung dieser internationalen Regelung über die Fragen der deutschen Vereinigung hatte wiederum den Gremien des 2+4-Prozesses oblegen. Am 12. September 1990 unterschrieben die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Hans-Dietrich Genscher und GlossarLothar de Maizière, sowie Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, der UdSSR und der USA, GlossarRoland Dumas, GlossarDouglas Hurd, GlossarEduard Ševardnadze und James Baker, in Moskau den Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, mit dem die aus der Kapitulation des Deutschen Reiches vom 8. Mai 1945 resultierenden Rechte der alliierten Siegermächte über Deutschland vollständig erloschen.

Der Vertrag bekräftigte die Grenzen des vereinigten Deutschlands als "endgültig" (Art. 1), schrieb den deutschen "Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen" sowie eine Höchstgrenze der deutschen Streitkräfte von 370.000 Mann fest (Art. 3), verpflichtete Deutschland und die Sowjetunion zum Abschluß eines Vertrages über die Modalitäten des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland bis Ende 1994 (Art. 4) samt Übergangslösungen (Art. 5), betonte das "Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören" (Art. 6) und beendete die "Rechte und Verantwortlichkeiten" der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges "in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes", so daß das vereinte Deutschland "volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten" gewann.

Nachdem die Vier Mächte ihre Rechte durch eine Erklärung schon zum 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Wiedervereinigung, ausgesetzt hatten, trat der Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland nach der Ratifikation durch die Parlamente aller beteiligten Staaten, zuletzt von sowjetischer Seite, am 15. März 1991 in Kraft (Kaiser).

Der Vertrag und sein konkretes Zustandekommen sind in der Forschung nicht umstritten, wie es beispielsweise beim GlossarVertrag von Rapallo, dem GlossarHitler-Stalin-Pakt oder den GlossarStalin-Noten der Fall ist. Lediglich im größeren Rahmen des Vertrags bestehen Unterschiede in der Schwerpunktsetzung auf der nationalen bzw. internationalen Dimension der deutschen Wiedervereinigung. Während in der deutschen Geschichtsschreibung die Tendenz vorherrscht, die Geschichte der Vereinigung auf die Bürgerbewegung, den Zusammenbruch der DDR und auf das Handeln der Bundesregierung zu konzentrieren, legt die internationale Forschung – wie auch hier vorgetragen – das Schwergewicht auf die internationale Entwicklung: den Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die Richtungsentscheidung der US-Regierung, den Kalten Krieg zu westlichen Bedingungen zu beenden, sowie den weltpolitischen Rahmen des Vereinigungsgeschehens, in dem die genuin deutschen Vorgänge erst möglich und wirksam wurden.

Andreas Rödder