Deklaration der Rechte der Völker Russlands

Die „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ war eines der ersten Dokumente, das die Bolschewiki nach ihrer Machtübernahme im Oktober 1917 verabschiedeten. Sie proklamierte die Souveränität der Völker und Ethnien des ehemaligen Russländischen Reiches und ihr Recht auf Selbstbestimmung, hob alle Formen nationaler und religiöser Diskriminierung auf und betonte den freiwilligen Charakter des Zusammenschlusses der Völker im neuen Sowjetstaat. Die Deklaration brachte die programmatischen Forderungen der Bolschewiki in der nationalen Frage zum Ausdruck. Sie hatte richtungsweisenden Charakter für ihre Nationalitäten- und Außenpolitik auf dem Territorium des ehemaligen Russländischen Reiches. Ihre strategische Bedeutung für die Bolschewiki bestand zugleich darin, die Kontrolle des bolschewistisch dominierten Zentrums über die nationale Peripherie des ehemaligen Reiches aufrechtzuerhalten und die antiimperialistischen und nationalen Bewegungen innerhalb und außerhalb des Landes als Verbündete zu gewinnen. Den Widerstand jener antibolschewistischen Kräfte im Innern, die für die nationale Autonomie und Unabhängigkeit ihrer Regionen eintraten, durch Zugeständnisse an die politischen, religiösen und kulturellen Interessen der Nationen zu „neutralisieren“, sie für die Bolschewiki und ihre Revolution zu gewinnen, wurde zur Grundmaxime der leninistischen Nationalitätenpolitik. Ihre flexible Handhabung konnte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Lenins Sicht die „nationalen Interessen“ den „revolutionären“ eindeutig untergeordnet waren.
Seit dem 19. Jahrhundert war die Nationalitätenfrage Gegenstand heftiger Diskussionen und Auseinandersetzungen in der russischen Gesellschaft. Obwohl die Mehrheit der Sozialdemokratie das Russische Reich als „Gefängnis der Völker“ betrachtete, waren die Meinungen über das Schicksal der Nationalitäten im Sozialismus geteilt. Während die einen in der Aufhebung der Unterscheidungen zwischen Nationen eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Integrationsprozesse und damit für den Aufbau des Sozialismus sahen und nationale Befreiungskämpfe für „reaktionär“ erklärten, plädierten die anderen gerade umgekehrt für die Selbstbestimmung der Völker im sozialistischen Staat und für die Unterstützung nationaler Emanzipationsbewegungen, die aus ihrer Sicht ein unbestreitbares Befreiungspotential besaßen. Lenins eigene Position in dieser Frage gewann ihr Profil in den Jahren 1913 bis 1916 im Zuge der Auseinandersetzungen, die er gleichzeitig an zwei Fronten führte – auf der einen Seite gegen R. Luxemburg und G. Pjatakov, auf der anderen Seite gegen die Vertreter der nach dem ethnischen Prinzip organisierten Gruppen in der Sozialdemokratie. Er war bereit, das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten einschließlich ihres Austrittsrechts aus dem russischen Staatsverband zu unterstützen, betonte aber, dass er einen Austritt unter den gegebenen Umständen nicht für sinnvoll halte. Diese Haltung ermöglichte den Bolschewiki eine flexible Politik in der Nationalitätenfrage. Auf der einen Seite konnten sie sich die Unterstützung der Nationalbewegungen sichern, auf der anderen Seite waren sie bestrebt, die formal unabhängigen Völker möglichst eng miteinander zu verbinden.
Zum Zeitpunkt der bolschewistischen Machtergreifung existierten auf dem Territorium des ehemaligen Reiches bereits starke nationale Befreiungsbewegungen, die in Finnland, im Transkaukasus und in der Ukraine besonders ausgeprägt waren. Polen sowie große Teile des heutigen Belarus und des Baltikums standen unter deutscher Besatzung. Die Bolschewiki waren zunächst weit davon entfernt, ganz Russland unter ihrer Kontrolle zu haben. Zudem war ihre Macht im Zentrum noch labil und wurde nur als provisorisch angesehen. Lenin und seine engsten Vertrauten führten einen erbitterten Kampf gegen das „Versöhnlertum“ im eigenen CK und gegen die Pläne einer sozialistischen Koalitionsregierung, die an die Stelle des bolschewistischen Rates der Volkskommissare (SNK) treten sollte. Es lag daher in ihrem unmittelbaren Interesse, die nationalen Befreiungsbewegungen umgehend als Verbündete zu gewinnen. Diese Aufgabe sollte die „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ lösen.
Der Entwurf der „Deklaration“ wurde vom ersten Volkskommissar für nationale Angelegenheiten, Iosif Stalin, unter persönlicher Mitwirkung Lenins ausgearbeitet. Sie setzte der Nationalitätenpolitik der Provisorischen Regierung das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Ethnien entgegen. Zugleich hob die bolschewistische Regierung alle nationalen und religiösen Privilegien auf, soweit sie den Untergang des Russländischen Reiches überdauert hatten. Als zukünftige Form des nationalen Staatsaufbaus proklamierte die „Deklaration“ den freiwilligen Zusammenschluss der Völker Russlands.
Wie alle frühen Dekrete der Sowjetmacht zielte auch die „Deklaration“ in erster Linie auf eine agitatorische Wirkung. Indem Lenin und Stalin die Souveränität der Völker und die Wahrung ihres nationalen Kulturerbes nach außen verteidigten, hofften sie, die Kontrolle des russländischen Zentrums nicht nur über das Territorium des einstigen Russländischen Reiches, sondern auch über die antiimperialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen anderer Länder aufrechterhalten zu können. Gleichzeitig schuf die „Deklaration“ eine neue Ausgangsbasis für den politischen Machtkampf, indem sie dem Widerstand eines Teils der antibolschewistischen Kräfte, die für die nationale Autonomie und Unabhängigkeit ihrer Territorien kämpften, den Wind aus den Segeln nahm.
Die „Deklaration“ sah die Verabschiedung einer Reihe von Dekreten zur Umsetzung ihrer Grundsätze vor. Ihre Bestimmungen bildeten die Grundlage für die Nationalitäten- und Außenpolitik Sowjetrusslands sowie für seine Verfassungsstruktur. Unter Bezugnahme darauf hatte der Rat der Volkskommissare am 16. (29.) Dezember 1917 das Recht des ukrainischen Volkes auf die Gründung einer eigenen Ukrainischen Republik anerkannt. Noch am 7. (20.) November proklamierte die Zentralrada, das regionale Vertretungsorgan, in Kiew die Ukrainische Volksrepublik (UNR) als autonomen Teil Russlands. Die Bolschewiki erkannten zwar das Recht der Ukraine auf Unabhängigkeit an, nicht aber den Machtanspruch der „bürgerlichen“ Zentralrada, die ihrerseits die Unabhängigkeit noch nicht beanspruchte. Die ukrainischen Boschewiki begannen einen Kampf für den Sturz der Zentralrada und die Gründung „ihrer“ UNR, die am 12. (25.) Dezember in Char’kov konstituiert wurde. Am 25. Dezember 1917 (7. Januar 1918) begannen sowjetische Truppen, darunter auch russische Einheiten, ihren Vormarsch auf Kiew.
Ähnlich war die Situation in Finnland. Am 31. Dezember (13. Januar) wurde seine Unabhängigkeit vom Rat der Volkskommissare in Russland anerkannt. Danach brach jedoch in dem nun unabhängigen Land ein Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der „proletarischen Revolution“ und ihren Gegnern aus.
Die „Deklaration“ und die Bereitschaft der sowjetischen Regierung, die Autonomie der Ukraine, Finnlands, Polens, des Baltikums und Transkaukasiens anzuerkennen, schufen eine neue außenpolitische Situation. Die deutschen Diplomaten, die im Dezember 1917 Friedensverhandlungen mit Sowjetrussland aufnahmen, konnten nun von ihrem Verhandlungspartner Nichteinmischung in die Angelegenheiten der unabhängigen Nachbarstaaten verlangen. Vertreter der deutschen und österreichisch-ungarischen Diplomatie nahmen auch Verhandlungen mit der Zentralrada auf, die Trockij als gleichberechtigten Verhandlungspartner anerkennen musste. Am 24. Januar (6. Februar) 1918 erklärte die Zentralrada vor dem Hintergrund der sowjetischen Offensive die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland. Am 9. (22.) Februar schlossen ukrainische Vertreter mit den Deutschen einen Friedensvertrag ab, in dem sich die Ukraine verpflichtete, Deutschland und Österreich-Ungarn Lebensmittel zu liefern und ihr Territorium für die Truppen der beiden Länder zur Verfügung zu stellen. Damit war das Schicksal der Ukraine einschließlich der Gebiete, die nie von der Zentralrada regiert worden waren, besiegelt.
Gemäß den Bedingungen des am 3. (16.) März 1918 unterzeichneten Brester Friedensvertrages verzichtete Sowjetrussland auf jegliche Einmischung in die Angelegenheiten der baltischen Staaten, der Ukraine und des Transkaukasus, die damals unter deutscher, österreichisch-ungarischer bzw. osmanischer Besatzung standen. Nach der Niederlage der Mittelmächte und der Annullierung des Brester Friedensvertrages wurden diese Gebiete jedoch zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen zwischen lokalen Nationalitätenbewegungen, sowjetischen und sowjettreuen Kräften, Interventionsarmeen der Entente und weißen Truppen. Schließlich gelang es Sowjetrussland, das als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorging, die Kontrolle über alle Länder zu errichten, die einst zum Russischen Reich gehört hatten, mit Ausnahme seines westlichsten Teils, zu erlangen. Innerhalb weniger Jahre gelang es, dort bolschewistische Parteien an die Macht zu bringen, die eng mit der VKP(b) verbunden waren. Nur Finnland und die drei baltischen Staaten konnten ihre Souveränität behaupten. Moldawien fiel an Rumänien, die westlichen Teile der Ukraine und Weißrusslands an Polen. Drei Jahrzehnte später wurden diese Länder mit Ausnahme Finnlands der UdSSR einverleibt.
Deklaration der Rechte der Völker Rußlands
Die Oktoberrevolution begann unter dem allgemeinen Banner der Befreiung aus der Knechtschaft.
Die Bauern wurden von der Gewalt der Gutsbesitzer befreit, denn die Gutsbesitzer haben kein Grundeigentum mehr – es ist abgeschafft. Soldaten und Matrosen werden von der Gewalt der autokratischen Generäle befreit, denn die Generäle werden von nun an wählbar und absetzbar sein. Die Arbeiter werden von den Launen und der Willkür der Kapitalisten befreit, denn von jetzt an übernehmen die Arbeiter die Kontrolle über die Werke und Fabriken. Alles, was lebt und lebensfähig ist, wird aus den verhaßten Fesseln befreit.
Es bleiben nur noch die Völker Rußlands, welche Unterdrückung und Mutwilligkeit erduldet haben und noch erdulden, und deren Entsklavung umgehendst beginnen, deren Befreiung durchgeführt werden muß, entschieden und unwiderruflich.
In der Epoche des Zarismus wurden die Völker systematisch gegeneinander gehetzt. Die Ergebnisse einer solchen Politik sind bekannt: Gemetzel und Pogrome einerseits und Knechtschaft der Völker andererseits.
Solch eine schädliche Politik der Hetze wird und darf nicht mehr wiederkehren. An ihre Stelle muß die Politik eines freiwilligen und ehrlichen Bundes der Völker Rußlands treten.
In der Zeitspanne des Imperialismus, nach der Februarrevolution, als die Macht in die Hände der konstitutionell-demokratischen Bourgeoisen überwechselte, wurde die unverhohlene Hetzpolitik abgelöst durch eine Politik des ängstlichen Mißtrauens gegenüber den Völkern Rußlands, einer Politik der Schikane und Provokation unter dem Deckmantel verbaler Erklärungen der „Freiheit“ und „Gleichheit“ der Völker. Die Auswirkungen einer solchen Politik sind bekannt. Vertiefung nationaler Feindschaft, Untergrabung des gegenseitigen Vertrauens.
Dieser unwürdigen Politik der Lügen und des Mißtrauens der Schikane und Provokation muß ein Ende gesetzt werden. Von jetzt an muß eine offene und ehrliche Politik, die zu einem vollen gegenseitigen Vertrauen der Völker Rußlands führt, an ihre Stelle treten.
Nur infolge eines solchen Vertrauens kann ein ehrlicher und fester Bund der Völker Rußlands geschlossen werden.
Nun durch einen solchen Bund können die Arbeiter und Bauern der Völker Rußlands zu einer revolutionären Kraft zusammengeschweißt werden, die fähig ist, den Angriffen der imperialistisch-annexionistischen Bourgeoisie standzuhalten.
Diesen Grundsätzen gemäß, verkündete der erste Sowjetkongreß im Juni dieses Jahres das Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstverwaltung.
Im Oktober dieses Jahres bekräftigte der zweite Sowjetkongreß dieses unveräußerliche Recht der Völker noch entschiedener und konkreter.
Dem Willen dieser Kongresse gemäß hat der Rat der Volkskommissare beschlossen, folgende Prinzipien zur Grundlage seiner Tätigkeit hinsichtlich der Nationalitäten Rußlands zu machen:
1. Gleichheit und Souveränität der Völker Rußlands.
2. Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung, bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbständigen Staates.
3. Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen.
4. Freie Entfaltung nationaler Minderheiten und ethnographischer Gruppen, die das Gebiet Rußlands bewohnen.
Die daraus resultierenden konkreten Dekrete werden unmittelbar nach der Bildung einer Kommission für Angelegenheiten der Nationalitäten ausgearbeitet.
Im Namen der Rußländischen Republik
Der Volkskommissar für nationale Angelegenheiten
Iosif Džugašvili-Stalin
Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare
V. Ul'janov (Lenin)
2. November 1917
Rev. Übersetzung hier nach: Altrichter, H. (Hrsg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, München 1985, S. 135ff.
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