Dekret über den Grund und Boden

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Dekret über den Grund und Boden
26. Oktober 1917 JL

Das „Dekret Über den Grund und Boden“ war das erste Gesetz der Sowjetmacht. Es wurde unmittelbar nach der Oktoberrevolution verkündet. Einzigartig war dabei der populäre Ursprung. Es machte die von den Bauern selbst formulierten Forderungen zur Sozialisierung des Bodens unmittelbar zum Gesetz, indem es den „bäuerlichen Wählerauftrag“ wörtlich übernahm, den das Exekutivkomitee des Allrussländischen Sowjets der Bauerndeputierten im August 1917 aus lokalen Resolutionen der Bauern verfasst hatte. Damit belegt das Dekret anschaulich das Geschick der Bolschewiki, sich nach der Oktoberrevolution durch Anpassungsbereitschaft an Stimmungen der Bevölkerung im Lande durchzusetzen. Zugleich markiert es mit der Ablehnung des Privateigentums an Grund und Boden eine bis heute fortbestehende Besonderheit in der Einstellung der russischen Bevölkerung.


von: Stephan Merl, 2011 (aktualisiert 2024)


Das Dekret „Über den Grund und Boden“ stand im Einklang mit dem Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre, bedeutete aber einen radikalen Schwenk in den Losungen der Bolschewiki, weil es nicht nur die entschädigungslose Enteignung des Gutsbesitzes sowie der Ländereien von Klöstern und Kirchen sanktionierte, sondern zugleich die Aufteilung des enteigneten Bodens unter den Bauern vorsah. Noch im Agrarprogramm vom Frühjahr 1917 hatte Lenin die Überführung des Gutsbesitzes in staatliche Mustergroßbetriebe gefordert und die Aufteilung des Bodens als bürgerlich abgelehnt. Jedes Privateigentum an Boden, Bodenschätzen, Gewässern, Wäldern und Naturkräften wurde nun für immer aufgehoben. Der Boden sollte weder verkauft noch gekauft, verpachtet, verpfändet oder in irgendeiner Weise veräußert werden dürfen.

Das Dekret sanktionierte die von den Bauern eigenmächtig begonnenen und bis dahin rechtswidrigen Handlungen. Die Februarrevolution 1917 hatte auch die Bauern aufgerüttelt. Sie weckte ihre Erwartungen auf eine baldige Erfüllung ihrer beharrlich vorgebrachten Forderungen nach Land und Freiheit und einer „schwarzen Umverteilung“ des Gutslandes. Als sich zeigte, dass die Provisorische Regierung über die Prinzipien der Agrarreform keine Einigkeit erzielen konnte und die Lösung der Agrarfrage hinausschob, begannen die Bauern im Frühjahr zunächst vereinzelt, später immer verbreiteter ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. So eigneten sie sich brachliegendes Gutsland an. Es kam zu Zerstörungen von Gebäuden und Raub von Eigentum. Mancherorts bemächtigten sich die Bauern des Bodens der Adligen, vertrieben diese von ihrem Besitz und brannten die Herrenhäuser nieder.

Ein entschiedener Versuch, die Revolution auf dem Lande unter Kontrolle zu bringen, unterblieb. So folgten dem Dekret nicht umgehend Ausführungsbestimmungen. Die schließlich getroffenen Regelungen blieben vage. Die im Dekret als zuständig für die Durchführung der Enteignung benannten Organe, die Volost'-Bodenkomitees, bestanden in den meisten Gebieten noch gar nicht. Statt alle Gutsländereien in ihre Verfügung zu bringen und dabei den gutsherrlichen Besitz zu registrieren und unter Wahrung der Ordnung zu schützen, wurden die Komitees meist erst nach der Enteignung des Privatlandes gebildet. Für die Unterlassung der Lenkung gab es Gründe. Das Dekret selbst war bei den Bolschewiki umstritten, eine Einigung mit dem Koalitionspartner, den Linken Sozialrevolutionären (LSR), über die konkreten Prinzipien der Bodenaufteilung erschien unmöglich. Den LSR schwebte eine „ausgleichende Landnutzung“ auf Basis von Verbrauchs- und Arbeitsnormen vor. Die Aufteilungen sollten sich nach dem Subsistenzprinzip richten. Die Bolschewiki hingegen waren überzeugt, dass die bäuerliche Kleinproduktion permanent den Kapitalismus reproduziere, und lehnten diese Form der Landnutzung aus ideologischen Gründen ab. Selbst eine zeitweilige Aufteilung des Bodens galt ihnen als rückwärtsgewandte Maßnahme. Die Bolschewiki blockierten deshalb geradezu eine Klärung der komplizierten und strittigen Detailfragen, und nahmen in Kauf, dass die Bauern dadurch weitgehend autonom handeln konnten. Trotz aller theoretischer Bedenken war die „schwarze Umverteilung“ für sie politisch opportun, weil sie Adel, Kirche und wohlhabendere Bauern schwächte und damit zugleich die ökonomische Basis für die Gegner der neuen Regierung zerstörte.

Die Regelungen des Dekrets verstanden sich bis zu einem Beschluss der Konstituierenden Versammlung (Konstituante) als vorläufig. Sie schränkten dennoch die freie Entscheidung der Konstituante ein, weil diese kaum hinter den geschaffenen Fakten zurückbleiben konnte. Die Bauern waren angesichts der Sanktionierung ihres Tuns durch das Dekret vor allem daran interessiert, vollendete Tatsachen zu schaffen und durch die Zerstörung des Gutshofs eine Rückkehr des Gutsherren unmöglich zu machen. Den neu erhaltenen Boden bestellten sie zunächst nur zögerlich und erste Umverteilungen beschränkten sich häufig auf das zugewonnene Land. Gerade weil in den Dörfern Unsicherheit über die Dauerhaftigkeit der Regelungen herrschte, kam es zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Bauern in den Bolschewiki die Garanten der Bodenaufteilung erblickten, so dass sie ihnen im Bürgerkrieg im Konflikt mit den Weißen – trotz aller gravierenden Meinungsverschiedenheiten – ihre Unterstützung nicht versagten.

Die Agrarrevolution war in der Praxis eine Angelegenheit auf Ebene der Dörfer, bestenfalls der Amtsbezirke, die vor allem die Rechtsansichten der lokalen Bauernschaft spiegelte. Die Bauern betrachteten ihr Handeln durch die formale Übereinstimmung mit der Regierung für legitimiert und strebten keine überregionale Interessenvertretung an. Die gedankliche Urheberschaft der Sozialrevolutionäre an dem Dekret war unter diesen Umständen weitgehend belanglos. Ihr Programm berücksichtigte viele bäuerliche Anschauungen, die weitergehenden ideologischen Festlegungen waren den Bauern jedoch fremd. Die Agrarrevolution entzieht sich deshalb einer einfachen generalisierenden Beschreibung. Regional ergibt sich ein erstaunlich uneinheitliches Bild sowohl hinsichtlich der Enteignungen als auch hinsichtlich von Umfang und Prinzipien der Neuverteilung des Bodens.

Dabei zeigt sich ein West-Ost-Gefälle hinsichtlich der Akzeptanz fortschrittlicherer Formen der Bodennutzung durch die Separation von Betrieben aus der Gemeinde. Gemeinsam war dem Handeln der Bauern in der Regel die Ausrichtung gegen den Gutsbesitz und das Bestreben, die Ergebnisse der Stolypinschen Agrarreform in Bezug auf die Verleihung von Bodeneigentum rückgängig zu machen. Vielerorts schloss die entschädigungslose Enteignung auch Land in bäuerlichem Privatbesitz ein. Betroffen waren Bauern, die zuvor gegen den Willen der Gemeinde ihren Boden in konsolidierter Form als „otrub“ vom Gemeindeland abgetrennt hatten. Nur in den westlichen Landesteilen blieben die durch Aussiedlung gebildeten Einzelhöfe teilweise erhalten. Nachdem anfangs häufig nur die enteigneten Flächen aufgeteilt worden waren, kam es nachfolgend zu weiteren Umverteilungen, die zunehmend das gesamte Gemeindeland einbezogen und auch Rückkehrern aus den Städten Boden zuwiesen. Dabei wurden unterschiedliche Verteilungskriterien angewandt. Während Gutsland sofort enteignet wurde, blieben die Ländereien der Klöster häufig zunächst verschont und wurden vielfach erst auf Druck der Behörden 1919 und 1920 enteignet. Nur wenige Güter blieben entsprechend den Vorstellungen der Bolschewiki von der Aufteilung verschont. Im Ergebnis wurde die mit der Stolypinschen Agrarreform begonnene Übergabe des Bodens in bäuerliches Privateigentum im Zuge der Agrarrevolution rückgängig gemacht. Fast der gesamte Boden fiel wieder an die Bodenumverteilungsgemeinden.

Bis heute ist unklar, wie viel Land die Bauern durch die Konfiskation der privaten Ländereien dazugewannen. Die von den Bauern als Anteilland genutzte landwirtschaftliche Nutzfläche (Acker, Gartenland, Wiesen und Weiden) betrug 1917 240 Mio. ha, 1927 315 Mio. ha. Der hier ausgewiesene Zugewinn um 75 Mio. ha oder 30 % überzeichnet allerdings den tatsächlichen Landgewinn, da er auch Flächen einschließt, die zuvor als Privateigentum in den Händen der Bauern war. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Bauern etwa die Hälfte des Gutslandes bereits vorher in Form von Landpacht genutzt hatten. Einen besseren Anhaltspunkt für den Zugewinn der Bauern vermitteln die Zahlen der landwirtschaftlichen Erhebung von 1916. Zu diesem Zeitpunkt besaßen die Güter auf dem Gebiet der späteren Sowjetunion nur 4 % der Pferde und bestellten 8,2 % der Ackerfläche. Diese Zahlen untertreiben den Anteil der Güter in der Vorkriegszeit etwas, da die Gutsbetriebe unter dem kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften auf dem Lande am schärfsten litten. Der wirkliche Zugewinn dürfte deshalb kaum mehr als 10 % des vor der Revolution von den Bauern genutzten Landes betragen haben.

Von der Aufteilung des Gutslandes profitierte also nur ein Teil der Bauern. Dort, wo es zuvor praktisch keine Güter gegeben hatte – in Nordrussland, im Ural und in den asiatischen Landesteilen –, gewannen die Bauern auch keinen Boden dazu. Nur in der Ukraine (einschließlich der Krim), Weißrussland und im Zentralen Schwarzerdegebiet war der Zugewinn etwas bedeutender. Auch hier verzeichneten in der Regel nur die Gemeinden, die an Gutsland angrenzten, einen Zuwachs an Boden, weil ein Landausgleich zwischen den Gemeinden praktisch nicht stattfand. Ein erheblicher Teil der russischen Bauern, vermutlich die Mehrheit, ging also bei der Agrarrevolution leer aus. In den übervölkerten zentralen Gebieten stillte der Bodentransfer den „Landhunger“ der Bauern keineswegs. Durch das Zurückfluten der Bevölkerung aus den großen Städten und verbreitete Abtrennungen aus dem väterlichen Haushalt verringerte sich die durchschnittliche Fläche je Haushalt bei den zunächst häufigen Bodenumverteilungen sogar. Die vielbeschworene Nivellierung der Betriebe bezog sich zudem nur auf den Boden, nicht aber auf die Verteilung der Produktionsmittel, die somit noch stärker als vor 1917 zur Grundlage der sozialen Differenzierung wurde. Über Land verfügte nach der Agrarrevolution praktisch jeder dörfliche Haushalt. Dagegen war etwa ein Drittel der Betriebe darauf angewiesen, Inventar von anderen Bauern zu mieten, weil ihnen selbst die elementarsten Produktionsmittel wie Pferd und Pflug zur Bestellung des Bodens fehlten.

Auf der unterschiedlichen Beurteilung der Ergebnisse der Agrarrevolution basierten Missverständnisse zwischen Bauern und Bolschewiki. Die Bauern sahen sich – nicht ganz unberechtigt – als eigentliche Akteure der Agrarrevolution. Mit dem Land der Gutsbesitzer nahmen sie sich nur, was ihnen nach ihrem eigenen Rechtsbewusstsein schon immer zustand. Dafür fühlten sie sich niemandem verpflichtet. Die Kommunisten beanspruchten dagegen für sich, den Bauern den Boden gegeben und damit deren soziale Lage wesentlich verbessert zu haben, und verlangten dafür Gegenleistungen.

Die Agrarrevolution verschärfte durch den Verzicht auf regulierende Eingriffe die Abkapselung des Dorfes von der übrigen Gesellschaft. Politisch wurde damit die bäuerliche Selbstverwaltung im Rahmen der Gemeinden aufgewertet, die mit der Stolypinschen Agrarreform abgeschafft werden sollte. Ökonomisch gefährdete die Ausrichtung auf bäuerliche Subsistenzwirtschaften mit der nivellierenden Verteilung des Bodens akut die Erzeugung von Überschüssen für den Markt. Channon betont, dass die Duldung der Bodenaufteilung im lokalen Rahmen somit direkt in den künftigen Konflikt mit den Bauern um den Erhalt von Getreide zur Versorgung des Landes und der Armee führte, der gewaltsame Formen annahm und schließlich in den Bauernaufständen kulminierte. Lenins Politik war also keineswegs konsistent. Das Entgegenkommen in der Bodenfrage gefährdete die Lebensmittelversorgung. Den Widerspruch, dass die Bodenaufteilung die wohlhabenderen Bauern schwächte, von denen man anschließend wieder Marktüberschüsse verlangte, lösen die Bolschewiki in der Praxis nicht auf.

In einer längerfristiger Perspektive ist festzuhalten, dass das Dekret „Über den Grund und Boden“ die sozialistische Agrarpolitik mit einem gravierenden Widerspruch belastete und sie dem Vorwurf aussetzte, mit den ersten Maßnahmen die Bevölkerung bewusst über die eigentlichen Zielsetzungen getäuscht zu haben. Warum schrieb sich eine Partei, die den Zusammenschluss der Bauern zu Agrargroßbetrieben auf kollektiver Grundlage anstrebte, eine Bodenreform mit der Landvergabe an landlose Bauern auf die Fahnen? Obwohl die weitere Entwicklung in der Sowjetunion zeigte, dass der Zusammenschluss der Bauern zu Kollektiven später nur mit Zwang vollzogen werden konnte, wurde der faktische Ablauf in der Sowjetunion in drei Stufen (Bodenreform, Anfachen des „Klassenkampfes“, Kollektivierung) dogmatisiert und zum Muster der richtigen Agrarpolitik in der sozialistischen Revolution erklärt. In allen osteuropäischen Staaten versuchten die Kommunisten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Bevölkerung und insbesondere die Bauernschaft auf ihre Seite zu ziehen, indem sie eine umfangreiche Bodenreform mit nivellierender Wirkung (Landzuteilung an Flüchtlinge und Neubauern, Landaufstockung für Landarbeiter und landarme Bauern) durchsetzten. Wie nach 1917 entstanden dabei bäuerliche Subsistenzwirtschaften, denen häufig hinreichende Produktionsmittel zur Feldbestellung fehlten. Die Zerschlagung marktfähiger Betriebe wirkte sich in der Folge negativ auf die Marktleistung der Bauern aus und verschärfte die Versorgungsschwierigkeiten. Auch hier wehrten sich die Bauern gegen die folgenden Maßnahmen, so dass wiederum Zwang zum Einsatz kam.

Die Interessenlage der Bauern prägte die Einstellung der russischen Bevölkerung nachhaltig. Für sie war es 1917 wichtiger, dem Adel das Eigentumsrechts streitig zu machen, als selbst ein Eigentumsrecht zu erlangen. Der Sozialisierung des Bodens widersetzten sich selbst die bäuerlichen Bodeneigentümer nicht nennenswert, obwohl sie einen erheblichen Teil des Bodens mit dem Eigentumstitel in ihren Händen hielten. In der Folgezeit blieb der Begriff des Privateigentums in der Sowjetunion negativ besetzt und wurde mit allen Schattenseiten des Kapitalismus in Verbindung gebracht. Obwohl seit Anfang der 1990er Jahre mehrere Gesetze Privateigentum an Grund und Boden vorsahen (u.a. das Gesetz über die Bauernwirtschaften von 1990, das Zivilgesetzbuch von 1994), weigerte sich die Duma über Jahre, die entsprechenden Paragraphen in Kraft zu setzen. Selbst die auf den städtischen Boden beschränkte Verleihung des Eigentumsrechts führte 2001 noch zu Tumulten in der Duma. Damit war eine Voraussetzung für die notwendige Modernisierung der russischen Landwirtschaft, nämlich die Beleihbarkeit des Bodens, über lange Zeit nicht gegeben.


Text: CC BY-SA 4.0


Gesetz über Grund und Boden des Sowjetkongresses der Arbeiter- und Bauerndeputierten. (Angenommen in der Sitzung vom 26. Oktober um 2 Uhr nachts)[ ]

  1. Das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden wird unverzüglich ohne Entschädigungszahlungen aufgehoben.
  2. Die Güter der Gutsbesitzer sowie alle Domänen-, Kloster- und Kirchenländereien mit ihrem gesamten lebenden und toten Inventar, ihren Wirtschaftsgebäuden und allem Zubehör gehen bis zur Konstituierenden Versammlung in die Zuständigkeit der Volost'-Bodenkomitees sowie der Uezdsowjets der Bauerndeputierten über.
  3. Jegliche Beschädigung des konfiszierten Besitzes, der von nun an dem ganzen Volk gehört, wird als schweres Verbrechen betrachtet und vom Revolutionsgericht geahndet. Die Uezdsowjets der Bauerndeputierten ergreifen alle notwendigen Maßnahmen zur Wahrung der strengsten Ordnung bei der Konfiskation der Güter der Gutsbesitzer, zur Festlegung, welche Grundstücke und Grundstücke welchen Umfangs der Konfiskation unterliegen, zur Aufstellung eines genauen Verzeichnisses des gesamten der Konfiskation unterliegenden Besitzes und zum strengsten revolutionären Schutz aller in das Eigentum des Volkes übergehenden Wirtschaften mit allen Gebäuden, Geräten, Vieh, Vorräten an Produkten usw.
  4. Als Richtschnur für die Durchführung der großen Bodenreform muss überall bis zu deren endgültiger Entscheidung durch die Konstituierende Versammlung folgender bäuerlicher Wählerauftrag dienen, der auf der Basis von 242 örtlichen Wähleraufträgen der Bauern von der Redaktion der „Izvestija Vserossijskogo Soveta Krest'janskich Deputatov“ zusammengestellt und in Nummer 88 dieser „Izvestija“ (Petrograd, Nr. 88, 19. August 1917) veröffentlicht wurde.

Über Grund und Boden.

Die Bodenfrage kann in ihrem gesamten Umfang nur durch die Konstituierende Versammlung des gesamten Volkes gelöst werden.

Die gerechteste Lösung der Bodenfrage wäre die folgende:

  1. Das Recht auf Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben, der Boden darf weder verkauft noch gekauft, verpachtet, verpfändet oder auf irgendeine andere Weise veräußert werden. Der gesamte Boden: die Staats-, Domänen-, Kabinetts-, Kloster-, Kirchen-, Possessions-, Majorats- und Privatländereien, das Gemeinde- und Bauernland usw. wird entschädigungslos enteignet, zum Gemeineigentum des Volkes erklärt und zur Nutzung all denen übergeben, die ihn bearbeiten. Den durch die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse Geschädigten wird lediglich das Recht auf öffentliche Unterstützung für die Zeit zuerkannt, die zur Anpassung an die neuen Lebensbedingungen notwendig ist.
  2. Alle Bodenschätze: Erze, Erdöl, Kohle, Salz usw., ebenso Wälder und Gewässer, die eine gesamtstaatliche Bedeutung haben, gehen in die ausschließliche Nutzung des Staates über. Alle kleinen Flüsse, Seen, Wälder usw. gehen in die Nutzung der Gemeinden unter der Bedingung über, dass sie den örtlichen Organen der Selbstverwaltung unterstellt werden.
  3. Ländereien mit hochentwickelter Kulturwirtschaft: Gärten, Plantagen, Pflanz- und Baumschulen, Gewächshäuser usw., unterliegen nicht der Aufteilung, sondern werden in Musterwirtschaften umgewandelt und je nach ihrem Umfang und ihrer Bedeutung dem Staat oder den Gemeinden zur ausschließlichen Nutzung übergeben. Das städtische und dörfliche Hofland mit Haus- und Gemüsegärten bleibt in der Nutzung der jetzigen Besitzer, wobei der Umfang dieser Grundstücke und die Höhe der Steuern für deren Nutzung gesetzlich geregelt werden.
  4. Gestüte, staatliche und private Vieh- und Geflügelzüchtereien usw. werden konfisziert, zum Gemeineigentum des Volkes erklärt und gehen, je nach ihrer Größe und Bedeutung, in die ausschließliche Nutzung des Staates oder der Gemeinden über. Die Frage einer Entschädigung unterliegt einer Prüfung durch die Konstituierende Versammlung.
  5. Das gesamte lebende und tote Wirtschaftsinventar der konfiszierten Ländereien geht je nach ihrer Größe und Bedeutung ohne Entschädigung in die ausschließliche Nutzung des Staates oder der Dorfgemeinden über. Die Konfiskation des Inventars betrifft nicht Bauern mit geringem Landbesitz.
  6. Das Recht der Bodennutzung erhalten alle Bürger des russischen Staates (ohne Unterschied des Geschlechts), die den Boden selbst bearbeiten wollen, mit Hilfe ihrer Familie oder genossenschaftlich, und zwar nur so lange, wie sie imstande sind, ihn zu bearbeiten. Lohnarbeit ist nicht zulässig. Bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit eines Mitglieds der Dorfgemeinde bis zu zwei Jahren verpflichtet sich die Dorfgemeinde, ihm für diese Zeit bis zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit auf dem Wege gemeinschaftlicher Bodenbearbeitung Hilfe zu leisten. Ackerbautreibende, die infolge von Alter oder Invalidität die Möglichkeit verloren haben, selbst den Boden zu bearbeiten, verlieren das Recht auf seine Nutzung, doch erhalten sie statt dessen vom Staat eine Rente.
  7. Die Bodennutzung muss ausgleichend sein, d.h. der Boden wird unter den Werktätigen je nach den örtlichen Bedingungen nach der Arbeits- oder Verbrauchsnorm aufgeteilt. Die Formen der Bodennutzung müssen völlig frei sein: Einzelwirtschaften, Einzelhöfe, Dorfgemeinde und Artel, je nach Entscheidung der einzelnen Dörfer und Siedlungen.
  8. Der gesamte Boden geht nach seiner Enteignung in einen Bodenfonds über, der Eigentum des ganzen Volkes ist. Die Verteilung des Bodens unter die Werktätigen wird von den örtlichen und zentralen Selbstverwaltungsorganen geleitet, d.h. von den demokratisch organisierten, ständelosen dörflichen und städtischen Gemeinden bis hin zu den zentralen Gebietsbehörden. Der Bodenfonds wird periodisch neu aufgeteilt, in Abhängigkeit vom Bevölkerungswachstum sowie der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und der Bodenkultur. Bei einer Änderung der Grenzen der Anteile muss der ursprüngliche Kern des Anteils unangetastet bleiben. Der Boden ausscheidender Mitglieder fällt an den Bodenfonds zurück, wobei die nächsten Verwandten der ausscheidenden Mitglieder und die von ihnen bezeichneten Personen das Vorzugsrecht auf Zuweisung dieser Anteile erhalten. Die für die Düngung und Melioration (grundlegende Verbesserungen) des Bodens aufgewandten Kosten müssen bei Rückgabe des Anteils an den Bodenfonds erstattet werden, soweit sie nicht ausgenutzt worden sind. Wenn sich in einzelnen Orten der vorhandene Bodenfonds für eine Zufriedenstellung der gesamten örtlichen Bevölkerung als nicht ausreichend erweist, ist der Bevölkerungsüberschuss umzusiedeln. Die Organisierung der Umsiedlung wie auch die Kosten für die Umsiedlung und die Versorgung mit Inventar usw. hat der Staat zu übernehmen. Die Umsiedlung vollzieht sich in folgender Reihenfolge: zunächst die landlosen Bauern, die eine Umsiedlung wünschen; sodann die Mitglieder der Dorfgemeinde mit schlechtem Leumund, Deserteure und andere; und schließlich nach Entscheidung durch das Los oder nach Übereinkunft.

Der gesamte Inhalt dieses Wählerauftrags muss uneingeschränkt als Willen der überwältigenden Mehrheit der politisch denkenden Bürger ganz Russlands angesehen und zum provisorischen Gesetz erklärt werden, das bis zum Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung angewandt wird, nach Möglichkeit unverzüglich, in wichtigen Teilen aber – und notwendigerweise – allmählich, was im Einzelnen von den Uezdsowjets der Bauerndeputierten festzulegen ist.

Der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation.

Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare Vladimir Ul'janov (Lenin)

26. Oktober 1917

Hier nach GCMSIR, f. listovok, GIK Nr. 315/101a. Listovka. (Übersetzung von St. Merl)



GCMSIR, f. listovok, GIK Nr. 315/101a. Flugblatt. Gemeinfrei (amtliches Werk).

Helmut Altrichter, Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst. 2. Aufl., Schöningh, Paderborn 2017.

Dorothy Atkinson, The End of the Russian Land Commune, 1905–1930. Stanford Univ. Press, Stanford 1983, Online.

Bernd Bonwetsch, Die Russische Revolution 1917: Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991.

John Channon, The Bolsheviks and the Peasantry: The Land Question during the First Eight Months of Soviet Rule. In: The Slavonic and East European Review, 66:4 (1988), S. 593–624, Online.

Orlando Figes, Peasant Russia, Civil War: The Volga Countryside in Revolution, 1917–1921. Clarendon Press, Oxford 1989, Online.

Stephan Merl (Hrsg.), Sowjetmacht und Bauern: Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des „Kriegskommunismus“ und der neuen ökonomischen Politik (=Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen 191). Duncker & Humblot, Berlin 1993.

Stephan Merl, Einstellungen zum Privateigentum in Rußland und in der Sowjetunion. In: Hannes Siegrist, David Sugarman (Hrsg.), Eigentum im internationalen Vergleich: 18.–20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, S. 135–160.

Stephan Merl, Traditionalistische Widersetzlichkeit oder ideologische Programmatik? Russlands Bauern im Kräftefeld von Agrarreform und revolutionärer Mobilisierung (1856–1941). In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 65:2 (2017), S. 73–94.

Stephan Merl, Agricultural Reforms in Russia from 1856 to the Present: Successes and Failures in the International Comparative Perspective. In: Russian Peasant Studies, 5:2 (2020), S. 56–87, Online.

Christopher Read, From Tsar to Soviets: The Russian People and Their Revolution, 1917–21. Oxford Univ. Press, New York 1996.

Teodor Shanin, The Awkward Class: Political Sociology of Peasantry in a Developing Society. Russia 1910–1925. Clarendon Press, Oxford 1972.

Karl Eugen Wädekin, Sozialistische Agrarpolitik in Osteuropa. Bd. 1: Von Marx bis zur Vollkollektivierung (=Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 63). Duncker & Humblot, Berlin 1974.

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