Kurt Georg Kiesinger, Rede beim Staatsakt der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit im Bundestag

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Kurt Georg Kiesinger, Rede beim Staatsakt der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit im BundestagКурт Георг Кизингер, речь по случаю Дня немецкого единства в Бундестаге
17. Juni 1967
июнь 17, 1967
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Mit der Regierung der ersten Großen Koalition (1966-1969) trat die Neue Ostpolitik in eine erste, aber nur sehr kurze operative Phase, bevor dann ab 1969 die entscheidenden Durchbrüche von der sozialliberalen Koalition erzielt werden konnten. Dennoch stellt Kiesingers Rede einen Markstein auf dem Weg zur völkerrechtlich nie komplett vollzogenen Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit dar. Zugleich lassen sich an der Rede die Schwierigkeiten ablesen, welche sich in den späten 1960er Jahren einer ostpolitischen Auflockerung in den Weg stellten. Kiesingers Formel von „der kritischen Größe Deutschlands“ umschrieb wirkmächtig das zentrale geopolitische Problem der Deutschen. Gedanklich wurde der entscheidende ostpolitische Strategiewechsel mit der Ankündigung vollzogen, das „Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands […] eingebettet in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konflikts in Europa“ zu sehen. Seither wurde die Wiedervereinigung nicht länger als Voraussetzung der Entspannung betrachtet, sondern umgekehrt als eine Folge.



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von: Philipp Gassert, 2011


Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der seit Dezember 1966 als Chef einer Großen Koalition von CDU/CSU und SPD amtierte, hielt diese Rede am 17. Juni 1967, dem bis 1990 gültigen westdeutschen Nationalfeiertag, der an den Aufstand in der DDR im Jahr 1953 erinnerte. Kiesinger erläuterte die ostpolitischen Ziele der Großen Koalition. Zugleich nahm er „aber auch zur weltpolitischen Situation“ Stellung, wie er in einer Edition seiner Reden anmerkte. Kiesinger hielt diese Rede für „das Beste“, was er während seiner Regierungszeit zur deutschen Frage ausgeführt habe. Die Rede wurde von dem sozialdemokratischen Politiker Herbert Wehner nach 1969 häufiger zitiert, weil sie den ostpolitischen Minimalkonsens der im Bundestag vertretenen Parteien repräsentierte.

In der ersten Jahreshälfte 1967 schienen ostpolitische Durchbrüche in greifbare Nähe gerückt. Am 13. Dezember 1966 hatte Kiesinger im außenpolitischen Teil seiner ersten Regierungserklärung die Beziehungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion besonders hervorgehoben und die „Friedensnote“ seines Vorgängers Ludwig Erhard vom 25. März 1966 dahingehend erweitert, dass er in Aussicht stellte, „auch das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot einzubeziehen“. Ebenso erkannte er den Wunsch Polens an, „endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben“. Ein erster konkreter Schritt war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien im Januar 1967. Im Januar 1968 sollte dann mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien die Hallstein-Doktrin durchbrochen werden. Doch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu anderen Staaten des Warschauer Paktes scheiterte an der starren Haltung der DDR und der Sowjetunion, die derartige Schritte an für die Bundesrepublik unerfüllbare Bedingungen knüpften. Kiesinger suchte mit dieser, mit Vizekanzler Willy Brandt (SPD) abgestimmten, Rede, den ostpolitischen Prozess wieder in Gang zu bringen.

Wesentliche Überlegungen, die Kiesingers Denken mitbestimmten und direkt in seine Reden einflossen, stammen von Günther Diehl, der als Chef des Planungsstabes im Auswärtigen Amt unter Brandt ein „Außenpolitisches Aktionsprogramm“ formulierte, das er dem Außenminister im März 1967 vorlegte. In der Deutschlandpolitik sah der optimistisch nach vorne zielende Diehl den „eigentlichen Prüfstein der Großen Koalition“, obgleich die westdeutschen Einwirkungsmöglichkeiten hier stärker begrenzt waren. Wenn die übrige Außenpolitik freier würde und die Regierung gleichzeitig an der Wiedervereinigung festhalte, würde sich auch in der Deutschlandpolitik „Bewegung auslösen“ lassen. „Voraussetzung wäre, daß man Alleinvertretung und Alleinpräsenz trennt und dem Regime in der SBZ eine gewisse Geschäftsfähigkeit zubilligt.“ Das war bis in die Formulierungen hinein das, was auch Brandt und sein außenpolitischer Berater Egon Bahr anstrebten und was sie nach 1969 tatsächlich umsetzten, dann allerdings ohne die CDU/CSU, die mit ihrem Wahlverlust 1969 zu einer Politik der ostpolitischen Konfrontation überging.

Unmittelbar vorausgegangen war, wie Kiesinger gegen Ende seiner Rede erwähnte, die Erklärung der Bundesregierung vom 12. April, in der 16 konkrete Punkte zur Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen vorgeschlagen worden waren. Kurz vor dem 17. Juni hatte Kiesinger einen Brief des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph beantwortet. Schon die Annahme dieses Briefes war ein Politikum, waren solche Schreiben doch bisher ungeöffnet nach Ostberlin zurückgeschickt worden. Wie auf diesen Brief zu reagieren war, war innerhalb der CDU/CSU höchst umstritten. In seinem Schreiben an Stoph hatte Kiesinger noch einmal den Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik („Alleinvertretung“) bekräftigt und dem DDR-Ministerpräsidenten vorgeworfen, eine Politik des „Alles oder Nichts“ zu betreiben. Andererseits hatte er Stoph an die gemeinsame Verantwortung der beiden deutschen Staaten für den Frieden erinnert und Gespräche über praktische Fragen der deutsch-deutschen Zusammenarbeit durch „zu bestimmende Beauftragte und ohne Vorbedingungen“ vorgeschlagen. In der Rede zum 17. Juni 1967 erläuterte Kiesinger, was die Große Koalition zu diesem präzedenzlosen Schritt bewogen hatte.

Einleitend ging Kiesinger auf den ritualisierten Charakter des 17. Juni ein und sprach mit dem Auseinanderleben der Menschen beiderseits der innerdeutschen Grenze das Kardinalproblem der deutsch-deutschen Beziehungen an. Kiesinger positionierte sich zwischen jenen, die das Projekt der Wiedervereinigung aufgegeben hatten bzw. an einer wie auch immer gearteten Annäherung aus unterschiedlichen Motiven nicht interessiert waren, und jenen, in der SPD und der von Kiesinger später so genannten „Anerkennungspartei“, denen eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR vorzuschweben schien. Die Rede ist als Teil einer terminologischen Suchbewegung zu sehen, die DDR nicht mehr mit dem Vokabular des Kalten Krieges zu bezeichnen (wie z. B. „Pankow“), wenn er dazu aufforderte, „ohne Scheuklappen [zu] sehen, was ist, auch das, was in den vergangenen 14 Jahren geworden ist“, und im Zusammenhang mit der DDR den Begriff eines „zweiten deutschen Staates“ verwendete.

Im Hauptteil bekräftigte Kiesinger zunächst den westdeutschen Rechtsstandpunkt und skizzierte praktische Möglichkeiten einer Ostpolitik, stellte die deutsche Frage in ihren internationalen Kontext und setzte sich schließlich mit dem Problem der Vereinbarkeit von Wiedervereinigung und Zugehörigkeit eines vereinigten Deutschland zur westlichen Allianz auseinander. Er erkannte an, dass die starre Haltung der Bundesrepublik seit dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 den Weststaat gegenüber den eigenen Verbündeten isoliert und auch gegenüber den Staaten des Warschauer Paktes ins Hintertreffen gebracht hatte. Eine Politik des Immobilismus, so konzedierte Kiesinger, würde „von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen“. Die Zeit arbeite gegen die Bundesrepublik. Zugleich klang noch einmal die Konzeption Adenauers an, dass eine „weitschauende Entspannungspolitik nur [...] auf der Grundlage der eigenen Freiheit und Sicherheit“, d. h. aus einer Position der Stärke heraus betrieben werden müsse. Andererseits betonte Kiesinger, dass die deutsche Einheit nur im Kontext einer Überwindung des Ost-West-Konflikts insgesamt zu erreichen sei. Die Prioritäten von Wiedervereinigung und Entspannungspolitik wurden umgekehrt. Gedanklich wurde von der Großen Koalition der entscheidende Schritt vollzogen, die Anerkennung des Status quo sei die Voraussetzung zu dessen Überwindung.

In der Formel von der „kritischen Größe“ wird die doppelte zeitgeschichtliche Dimension von Kiesingers außenpolitischem Denken deutlich. Dieses Wort zielte in zweifacher Weise auf eine Überwindung des Status quo: den europäischen Antagonismus und die deutsche Teilung, deren Beendigung Kiesinger allein durch eine gesamteuropäische Integrationspolitik für möglich hielt. Während Brandt schon im Sommer 1967 die Entspannungspolitik nicht mehr „von Fortschritten in der Deutschland-Frage“ abhängig machen wollte, hielt Kiesinger noch am Ziel der Entspannung als Hilfsinstrument der deutschen Einheit fest: „Ohne das unzerstörbare Recht unserer Nation, in einem Staate zu leben, preiszugeben, versuchen wir, eine europäische Friedensordnung anzubahnen, die auch die Teilung Deutschlands überwinden soll.“

Indem Kiesinger den Zusammenhang zwischen der deutschen und der europäischen Frage, zwischen Wiedervereinigung und Entspannung, hervorhob, vollzog er als erster Kanzler den fundamentalen Wechsel zu einer Politik der „Wiedervereinigung durch Entspannung“. Andererseits werden auch die Grenzen der Neuen Ostpolitik in der Großen Koalition klar deutlich. So konnte Kiesinger angesichts weltpolitisch ungünstiger Bedingungen (die Sowjetunion wurde just 1967/68 durch den „Prager Frühling“ in ihrem eigenen Herrschaftsbereich vehement herausgefordert) aus seinen Einsichten keine Konsequenzen für eine operative Politik gegenüber der DDR ziehen. Wie die spätere sozialliberale Ostpolitik empfahl Kiesinger die Taktik des „Ausklammerns“, um menschliche Erleichterungen zu erreichen. Indes tat er sich (auch aus innerparteilichen Rücksichten) sichtbar schwer mit Zugeständnissen an Ostberlin, etwa in der Frage der Bezeichnung des anderen deutschen Staates. Kritiker sahen darin einen wesentlichen Grund für Kiesingers Scheitern. Dies, die mangelnde Bereitschaft der CDU/CSU, ihrem Kanzler in Fragen der Ostpolitik zu folgen, und die Intransigenz des Warschauer Paktes 1967/68 verhinderten echte ostpolitische Durchbrüche noch seitens der Großen Koalition.


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Kurt Georg Kiesinger, Rede beim Staatsakt der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit im Bundestag, 17. Juni 1967[ ]

Exzellenzen, meine Damen und Herren!

Wir begehen den Tag der deutschen Einheit 14 Jahre nach jenem gescheiterten Versuch, die Spaltung unseres Volkes durch einen verzweifelten Aufstand einfacher Menschen zu überwinden. Für Millionen junger Deutscher ist, was damals geschah, Geschichte, die sie nur vom Hörensagen kennen, nichts anderes, als wenn sie von den beiden Weltkriegen, den Hitlerjahren, der Weimarer Republik und der versunkenen Zeit davor erfahren.

Aber es gibt einen Tatbestand, den wir alle, jung und alt, vor Augen haben: daß jenseits der Elbe deutsche Menschen unter einem ihnen aufgenötigten politischen System in einer ihnen aufgezwungenen Trennung von ihren Landsleuten im Westen Deutschlands leben müssen. Sollte auch dieser sichtbare Tatbestand für viele von uns kein Stachel mehr im Herzen sein? Es gibt eine Art von Resignation, die an Zynismus, eine Art von Gleichgültigkeit, die an Gewissenlosigkeit, und eine Art von Naivität, die an Torheit grenzt. Es gibt aber auch glatt eingespielte Denkgewöhnungen und einen bequemen Formelkult, der das tönende Wort an die Stelle mühevollen politischen Denkens und Handelns setzt. Und keine Gelegenheit verführt die dafür Anfälligen zu dieser Torheit eher als die jährliche Wiederkehr dieses Gedenktages.

Ich habe nicht die Absicht, bei dieser zur Tradition gewordenen Gedenkstunde im Haus des Deutschen Bundestages in diesen Fehler zu verfallen. Dem 17. Juni 1953 und den Opfern, die er kostete, werden wir am ehesten gerecht, wenn wir uns mit Ernst und Redlichkeit der großen Sache zuwenden, um die es den Menschen im anderen Teil Deutschlands in jenen Tagen ging: um die Freiheit und Einheit unseres Volkes.

Mit Ernst und Redlichkeit! Das heißt, daß wir zwar nicht, wie man uns von drüben und von Moskau rät, die angeblichen Realitäten anzuerkennen, indem wir sie politisch und völkerrechtlich bestätigen. Aber es heißt: daß wir ohne Scheuklappen sehen, was ist, auch das, was in den vergangenen 14 Jahren geworden ist.

Ich widerstehe der Versuchung eines geschichtlichen Rückblicks, denn ein solcher dürfte sich ja nicht auf die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands beschränken. Er müßte den Gang der Weltpolitik in diesen langen Jahren ins Auge fassen, in die das deutsche Problem eingeflochten ist, von Anbeginn bis zu dieser Stunde.

Wir wissen, daß keine Art von Gewalt, weder von innen noch von außen, die deutsche Frage lösen kann. Gewalt als ultima ratio der Politik wird in einer Welt, in der von jedem Punkte des Planeten aus der ganze Friede gefährdet werden kann, ohnehin zu einem immer bedenklicheren Phänomen. Darum hat unser Angebot des Austausches von Gewaltverzichtserklärungen eine prinzipielle, die deutsche Frage zwar einschließende, aber sich nicht auf sie beschränkende Bedeutung.

Da wir also den Frieden wollen, erstreben wir auch die Lösung der deutschen Frage mit den Mitteln des Friedens. Uns wird vom Osten vorgeworfen, wir wollten uns den anderen Teil Deutschlands "einverleiben". Wir wollen nichts dergleichen. Die Machthaber im anderen Teil Deutschlands verkünden unverblümt, daß sie als Voraussetzung einer etwaigen Wiedervereinigung die Angleichung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung in der Bundesrepublik an ihr System fordern, gleichviel, ob die Menschen hier dies wünschen oder ablehnen. Wir aber sagen mit aller Deutlichkeit, daß wir unsere Landsleute drüben nicht bevormunden, sie zu nichts zwingen wollen, was nicht ihrem Wunsch und Willen entspricht. Nur solange sie selbst nicht frei entscheiden können, was sie wollen, sprechen wir für sie und werden wir nicht aufhören, für sie zu sprechen.

Dies ist der Kern unserer Wiedervereinigungspolitik, dies ist darum auch das Kernstück unserer Auseinandersetzungen mit den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands, aber auch mit allen, die jene Verantwortlichen stützen oder lenken. Das ist keine Anmaßung, wie man uns vorwirft, das ist unsere Gewissenspflicht.

Wenn dem so ist, wenn die politischen Positionen sich so hart gegenüberstehen, so müssen wir uns ehrlich fragen, ob Bemühungen um eine friedliche Lösung überhaupt einen Sinn haben, ob wir nicht, statt trügerische Hoffnungen zu wecken, warten müssen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, und uns bis dahin darauf beschränken, das zu bewahren, was uns geblieben ist: unsere eigene Freiheit und die Verweigerung der Anerkennung eines zweiten deutschen Staates durch die freie Welt. Eine solche rein defensive Politik würde – das ist meine feste Überzeugung und die Überzeugung der Regierung der Großen Koalition – von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen. Sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärts bringen, sie könnte uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit wirkt nicht für uns.

Darum hat sich diese Regierung zu einer neuen, beweglicheren Politik gegenüber dem Osten entschlossen: sowohl gegenüber unseren östlichen Nachbarn, wie im innerdeutschen Verhältnis gegenüber den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands. Beides sind Aspekte einer politischen Konzeption, welche auf der Prämisse beruht, daß Europa nicht darauf verzichten kann, eine seine politische Spaltung überwindende zukünftige Friedensordnung zu entwerfen, in welcher auch die deutsche Frage ihre gerechte Lösung finden kann. Wer das utopisch findet, der sollte bedenken, was es bedeuten würde, auf einen solchen Entwurf zu verzichten. In der Politik darf gewiß das Wort aus dem "Faust" nicht gelten: "Den lieb ich, der Unmögliches begehrt" – aber dem Kurzsichtigen oder Kleinmütigen wird oft etwas unmöglich scheinen, was sich dem kühnen Zugriff als möglich erweist.

Das rechte Augenmaß für das Mögliche zu haben, heißt aber nicht nur, daß man aussichtslose Abenteuer vermeidet, es bedeutet auch, daß man, wo der Blick der anderen stumpf ist, das wirklich Mögliche doch noch erspäht. Keine große Politik hat anders als so begonnen.

Der Weg zu dieser europäischen Friedensordnung mag, ja wird lang und mühselig sein; vielleicht wird er uns auch nicht ans ersehnte Ziel führen. Diese Möglichkeit des Scheiterns können wir nicht ausschließen, aber es ist der einzige Weg, der uns die Chance des Erfolgs verspricht.

Ich habe nicht erwartet, daß unsere Politik, unsere neue Politik im Osten offene Ohren finden werde. Solange man drüben mit unserer Kapitulation rechnet, wird man sich unzugänglich zeigen und unsere Politik als ein arglistiges Manöver darstellen, welches die Solidarität der sozialistischen Länder aufbrechen, einen Keil zwischen die Sowjetunion und ihre Verbündeten treiben und Ulbricht und sein Regime isolieren wolle.

Wir werden uns dadurch nicht beirren lassen. Sollte man da oder dort im Osten glauben, man brauche dieses absurde Zerrbild eines revanchelüsternen Deutschlands, um die gefährdete Solidarität zu bekräftigen, so haben wir etwas Besseres anzubieten: den Beweis eines um Vertrauen ringenden Volkes, dem es darum geht, in Osteuropa und zusammen mit den Ländern Osteuropas ein neues politisches Klima der Verständigung und, wo immer möglich, der Zusammenarbeit anzubahnen.

Die Taktik, als Voraussetzung für die Zusammenarbeit, ja auch nur für ein Gespräch, die völlige Unterwerfung des anderen unter den eigenen Standpunkt zu verlangen, muß den Eindruck erwecken, daß sie eben deshalb angewendet wird, weil man Gespräche und Zusammenarbeit verhindern möchte.

Wir dagegen halten es für eine bewährte Methode, zunächst Gelände zu suchen, das man gemeinsam betreten kann, um die großen Streitfragen vorerst auszuklammern. Dieses Verfahren, das ein wichtiges Instrument in einer Politik der Entspannung darstellt, hat seine Probe im Verkehr zwischen Staaten bestanden.

Wir werden zu dieser Politik auch durch den Blick auf die Entspannungsbemühungen anderer Völker im Verhältnis des Westens zum Osten ermutigt. Entspannung darf nicht auf eine resignierende Hinnahme oder gar auf eine Besiegelung des Status quo hinauslaufen. Wo immer in der Welt eine Politik des Status quo bei widerstreitenden Lebensinteressen der betroffenen Völker als dauerhafte Befriedung mißverstanden wird, schafft man einen Krankheitsherd, der jeden Augenblick epidemisch werden kann. Darum müssen wir nach Methoden der Entspannung suchen, die den Herd der Krankheit durch eine geduldige Therapie eingrenzen und schließlich beseitigen.

Wir werden daher unseren therapeutischen Bemühungen um gesündere Beziehungen mit den Ländern und Völkern des europäischen Ostens fortfahren. Wir werden für diese Bemühungen um wirkliche Entspannung, um allmähliche Überwindung der Gegensätze, um einen dauerhaften Frieden in Europa beharrlich um Verständnis und Unterstützung werben – im Westen, wie im Osten, wie unter den jungen Völkern.

Da es, wie ich eingangs sagte, darum geht, das deutsche Problem mit Ernst und Redlichkeit zu bedenken, dürfen wir der Frage nicht ausweichen, wie sich diese unsere Politik der Entspannung als Voraussetzung der Überwindung der Spaltung unseres Volkes vereinbaren läßt mit unserem westlichen Bündnis und mit unserem Bemühen um die Einigung Europas. Schließt das eine das andere nicht aus? Liegt hier nicht ein tragischer Widerspruch des Denkens und Empfindens unserer gesamten Politik vor?

Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutschland, hat eine kritische Größenordnung. Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich herum selbst im Gleichgewicht zu halten. Es ist daher in der Tat nur schwer vorstellbar, daß sich ganz Deutschland bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struktur in Europa der einen oder der anderen Seite ohne weiteres zugesellen könnte. Eben darum kann man das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konfliktes in Europa.

Die Bundesrepublik Deutschland kann ebenso wie ihre Verbündeten eine weitschauende Entspannungspolitik nur führen auf der Grundlage der eigenen Freiheit und Sicherheit. Die atlantischen und europäischen Mitglieder des Bündnisses sind deshalb heute wie früher aufeinander angewiesen. Aber unsere Bündnisse und unsere Gemeinschaften haben keine aggressiven Ziele. Sie würden ihren Sinn verfehlen, wenn es ihnen zwar gelänge, in einer machtpolitisch kritischen Region eine lange Waffenruhe zu sichern, wenn aber zugleich die Spannungen akkumuliert und die schließliche Entladung um so verheerender sein würde. Deshalb müßte die Entwicklung folgerichtig zu einem Interessenausgleich zwischen den Bündnissen im Westen und im Osten und schließlich zu einer Zusammenarbeit führen – einer unentbehrlichen Zusammenarbeit, angesichts der Krisenherde in allen Regionen unserer Welt, der rapiden Veränderungen überall, die lebensgefährlich werden müssen, wenn sie wie ungebändigte Sturmfluten alles und alle mit sich reißen.

Angesichts dieser Veränderungen unserer Welt erscheinen viele alte Gegensätze und Frontstellungen heute schon sinnlos. Morgen könnten sie sich als selbstmörderisch erweisen, denn es zeichnen sich mögliche Konflikte ab, denen gegenüber sich unsere heutigen fast harmlos ausnehmen. Wir müssen hoffen, daß diese Einsicht zunehmend das politischen Denken und Handeln im Osten und im Westen beeinflussen wird.

In diesem Zusammenhang findet auch die Lösung der deutschen Frage ihren Ort, und unser Verhältnis zum anderen Teil Deutschlands muß im Rahmen solcher Überlegungen bedacht werden. Die Einigung unseres Volkes kann, so wie die Dinge liegen, gegenwärtig nicht durch Gespräche zwischen Vertretern der Bundesrepublik und den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands herbeigeführt werden – ganz gewiß schon darum nicht, weil von uns die politische und rechtliche Anerkennung eines zweiten deutschen Staates, also die Besiegelung der Teilung Deutschlands, in solchen Gesprächen verlangt wird. Aber auch die weltpolitische Problematik, in die das deutsche Problem eingeflochten ist, macht Gespräche mit der Macht notwendig, welche das Regime im anderen Teil Deutschlands lenkt und stützt und gegen deren Willen – der 17. Juni 1953 hat es bitter bewiesen – eine Einigung Deutschlands nicht gelingen wird.

Was aber zwischen uns und den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands möglich ist, das sind Gespräche und Vereinbarungen, welche die durch die erzwungene Spaltung geschaffene Not lindern und die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen zwischen den Deutschen bessern sollen, welche verhindern sollen, daß das deutsche Volk sich von Jahr zu Jahr auseinanderlebt. Diese innere Entkrampfung oder Entgiftung entspräche unserem großen Entwurf einer künftigen europäischen Friedensordnung; sie könnte ihr hilfreich dienen.

Diesem Willen entsprach auch die Erklärung der Bundesregierung vom 12. April dieses Jahres; ihn drückte erneut meine Antwort auf den Brief aus, den mir Herr Stoph nach unserer Erklärung vom 12. April übersandt hat. Leider enthielt der Brief aus Ostberlin wieder die Forderung der Anerkennung der Teilung unseres Vaterlandes, während unser Vorschlag übergangen wurde, über jene Fragen zu sprechen, über die gegenwärtig allein mit Aussicht auf Erfolg verhandelt werden kann.

Ich wiederhole daher, daß wir uns auf Scheinverhandlungen nicht einlassen werden, die nur der bisher von der freien Welt verweigerten internationalen Anerkennung Ostberlins dienen sollen. Wir sind aber zu ernsthaften Gesprächen über ernsthafte Möglichkeiten innerdeutscher Regelungen, die den von mir genannten Zielen dienen, jederzeit bereit. Möge man drüben, möge auch die Sowjetunion, mögen unsere anderen östlichen Nachbarn erkennen, daß unsere Vorschläge einen ehrlichen und wichtigen Beitrag zur Anbahnung eines europäischen Friedens darstellen, den alle Völker ersehnen.

Wir alle – im Osten wie im Westen – stehen vor einer weltpolitischen Situation, für die es kein Vorbild, keine Präzedenzfälle gibt. Wenn je das Wort "historia vitae magistra" einmal gelten konnte – heute läßt uns die Geschichte als Lehrmeisterin im Stich; ja es könnte sein, daß sie uns gar den Blick auf die Zukunft verstellt, die ganz neue Gedanken, neue Entwürfe, neuen unbefangenen Wagemut von allen Beteiligten fordert.

Alfred Webers Wort über den "Abschied von der bisherigen Geschichte" muß ernst genommen und tiefer begriffen werden, als er selbst es vor zwanzig Jahren verstand, von uns und von den anderen. Hüben wie drüben wird man sich aus eingefahrenen Denk- und Willensbahnen lösen müssen, wenn wir alle die künftige Geschichte nicht als wehrlose Opfer, sondern allen Zwängen der Entwicklung zum Trotz, als ihre Gestalter erfahren wollen.

Hier nach: „Mit Ernst und Redlichkeit der Freiheit und Einheit unseres Volkes dienen“, Rede des Bundeskanzlers Dr. h.c. Kurt Georg Kiesinger anläßlich des Staatsaktes der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit, 17. Juni 1967, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 64, 20. Juni 1967, S. 541-543.


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„Mit Ernst und Redlichkeit der Freiheit und Einheit unseres Volkes dienen“, Rede des Bundeskanzlers Dr. h.c. Kurt Georg Kiesinger anläßlich des Staatsaktes der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit, 17. Juni 1967, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 64, 20. Juni 1967, S. 541-543. Quelle: BArch B 136/4935, Bl. 82-83, Online.

„Mit Ernst und Redlichkeit der Freiheit und Einheit unseres Volkes dienen“, Rede des Bundeskanzlers Dr. h.c. Kurt Georg Kiesinger anläßlich des Staatsaktes der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit, 17. Juni 1967 [«Серьезное и честное служение свободе и единству нашего народа», речь Федерального канцлера д-ра h.c. Курта Георга Кизингера по случаю Государственного акта Федерального правительства в День немецкого единства, 17 июня 1967 г.] // Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 64, 20. Juni 1967, S. 541-543, BArch B 136/4935, Bl. 82-83, онлайн.

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