Ernst Nolte, "Vergangenheit, die nicht vergehen will" [Historikerstreit], 6. Juni 1986

Einleitung

Am selben Tag, an dem die Frankfurter Römerberggespräche, ein bedeutendes intellektuelles Diskussionsforum, unter dem Motto "Politische Kultur – heute?" eröffnet wurden, veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 6. Juni 1986 eine "Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte". So untertitelte der Berliner Zeithistoriker und Faschismusexperte Ernst Nolte einen Essay, der ursprünglich als Vortrag für die Römerberggespräche konzipiert worden war. Der Konservative Nolte hatte seine Teilnahme an den Gesprächen abgesagt, nachdem die Veranstalter ihm überraschend mitgeteilt hatten, dass sein vorgesehenes Vortragsthema "Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Auseinandersetzung oder Schlußstrich?" nun kurzfristig an Wolfgang Mommsen, einen linksliberalen Sozialhistoriker, vergeben werden sollte. Wie der Untertitel andeutet, interpretierte Nolte diesen Vorgang als Akt der Zensur im Sinne jener "Frageverbote", gegen die er bereits Ende der 1970er Jahre in der FAZ polemisiert hatte.

Die Frage, die Nolte im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik tabuisiert sah, betraf die historischen Ursachen des nationalsozialistischen Genozids an den europäischen Juden. In seinem FAZ-Artikel vom Juni 1986 legte er der breiten Öffentlichkeit dazu seine Überlegungen dar, die einen Sturm der Empörung auslösen sollten. Die Fragen – oder besser: Thesen – die Nolte als "zulässig, ja unvermeidbar" erschienen und auf die seine späteren Kritiker mit entschiedenster Ablehnung reagierten, formulierte er wie folgt:

"Vollbrachten die Nationalsozialisten eine ‚asiatische‘ Tat [in Anspielung auf eine dt. Quelle über den Völkermord an den Armeniern, MK] vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?"

Dieser Abschnitt enthält zugespitzt und in nuce eine Argumentation, deren Grundlagen Nolte bereits 1963 in seiner klassischen Faschismusanalyse "Der Faschismus in seiner Epoche" gelegt hatte und die in seinen Büchern von 1974 ("Deutschland und der Kalte Krieg") und 1983 ("Marxismus und Industrielle Revolution") ausgearbeitet worden war. Er unternahm den hochgradig spekulativen Versuch, den Genozid der Nationalsozialisten aus deren eigenen Wahrnehmungen und Motivationen heraus zu erklären. Maßgebliche Kausalursache der Shoah war nach Nolte ein überschießender antibolschewistischer Angstreflex: Auf die vom Bolschewismus ausgehende Vernichtungsdrohung (den "Klassenmord") reagierten Hitler und das deutsche Bürgertum mit einer fast spiegelbildlich konstruierten Gegenreaktion (dem "Rassenmord"), die der eigenen Vernichtung durch den Gegner zuvorkommen sollte. In diesem Sinne konstatierte Nolte, daß "all dasjenige, was die Nationalsozialisten taten, mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung, in einer umfangreichen Literatur der zwanziger Jahre [also während des "Roten Terrors" und der frühen Herrschaftszeit Stalins, MK] bereits beschrieben war: Massendeportationen und -erschießungen, Folterungen, Todeslager, Ausrottungen ganzer Gruppen nach bloß objektiven Kriterien, öffentliche Forderungen nach Vernichtung von Millionen schuldloser, aber als 'feindlich' erachteter Menschen."

Auch unabhängig von Noltes Intentionen enthielten diese Thesen apologetisches und geschichtsrevisionistisches Potential. Nicht nur erscheint die Shoah in dieser Argumentation "als eine Art von putativer Notwehr" (U. Herbert) gegen die bolschewistische Bedrohung. Auch übernimmt sie implizit, in methodisch konsequenter Einfühlung in die Akteure, die Gleichsetzung zwischen Juden und Bolschewisten, die zum Kernbestand nationalsozialistischer Legitimationsmythen zählte. Angesichts dessen konnte drastische Kritik nicht ausbleiben. Mit seinem Artikel "Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung" in der ZEIT vom 11. Juli 1986 und mit massiven Angriffen gegen Nolte eröffnete der linksliberale Sozialphilosoph Jürgen Habermas die publizistische Auseinandersetzung, die als "Historikerstreit" in die Zeitgeschichte der Bundesrepublik eingehen sollte.

Warum lösten Noltes Thesen, die er seit über zwei Jahrzehnte sukzessive entwickelte, zuspitzte und auch öffentlich diskutierte, erst in den Jahren 1986/87 eine breite, von der Öffentlichkeit wahrgenommene Kontroverse aus? Obwohl vom Fach registriert und durchaus kritisiert galten Noltes krude Theorien bis über die 1980er Jahre hinaus als wenig mehr als die "spekulative Marotte eines geschichtsphilosophischen Außenseiters" (K. Große Kracht). Wodurch erhielten sie 1986 ihr öffentlichkeitswirksames Konfliktpotential?

Einen Anhaltspunkt dazu liefert der erste Abschnitt von Noltes FAZ-Essay, der sich mit dem Titel und ursprünglichen Vortragsthema "Vergangenheit, die nicht vergehen will" auseinandersetzte. Der Nationalsozialismus, so Nolte, entziehe sich in der Bundesrepublik dem natürlichen historischen Vergehen, er sei immer noch präsent "als Schreckbild, als eine Vergangenheit, die sich gradezu als Gegenwart etabliert oder wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist". Dieses vermeintliche Wiedergängertum des Dritten Reiches führte Nolte nicht allein auf die "Ungeheuerlichkeit der fabrikmäßigen Vernichtung von mehreren Millionen Menschen" zurück, die er durchaus nicht ausblendete. Er sah darüber hinaus auch die "Interessen einer neuen Generation" und "der Verfolgten und ihrer Nachfahren" im Spiel, nebst der Haltung aller Pazifisten und Feministinnen, für die der Nationalsozialismus ein bequemes und eindeutiges, jederzeit aktualisierbares Feindbild darstelle. Suggestiv fragte er, "ob es wirklich nur die Verstocktheit [...] der Stammtische [war], die diesem Nichtvergehen der Vergangenheit widerstrebte und einen ‚Schlußstrich‘ gezogen wissen wollte, damit die deutsche Vergangenheit sich nicht mehr grundsätzlich von anderen Vergangenheiten unterscheide? Steckt nicht in vielen der Argumente und Fragen ein Kern des Richtigen, die gleichsam eine Mauer gegen das Verlangen nach immer fortgehender ‚Auseinandersetzung‘ mit dem Nationalsozialismus aufrichten?".

Auch wenn Nolte festhielt, daß die in seinen Augen verfehlte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus "von einem ‚Schlußstrich‘ ebenso weit entfernt war wie von der immer wieder beschworenen ‚Bewältigung‘", mußten seine Überlegungen zum Nicht-Vergehen der Vergangenheit in der politischen Landschaft Mitte der 1980er Jahre hellhörig machen. Der Regierungswechsel von 1982, der eine CDU/CSU/FDP-Koalition unter Führung des promovierten Historikers Helmut Kohl an die Macht brachte, hatte das sozialliberale Jahrzehnt der 1970er Jahre beendet. Begleitet war der Amtswechsel, der sich durch eine große inhaltliche Kontinuität zur Regierung Schmidt auszeichnete, von einer rhetorischen Offensive, die unter dem Stichwort "geistig-moralische Wende" den Christdemokraten die Hegemonie über den öffentlichen Diskurs zurückerobern sollte. Kernstück der konservativen Wenderhetorik war eine in hohem Maße symbolträchtige Geschichtspolitik.

Die Geschichtspolitik der Regierung Kohl folgte zwei Leitlinien: erstens der Deaktualisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch Gesten des symbolischen Abschlusses und der Versöhnung und zweitens der Festigung einer national-bundesdeutschen Identität durch Etablierung eines zustimmungsfähigen Geschichtsbildes. Beide Bestrebungen lösten unter linken und SPD-nahen Intellektuellen massiven Widerstand und lautstarken Protest aus. Dieser Hegemoniekampf um Geschichte, Erinnerung und Identität stellte den Kontext dar, in dessen Rahmen Noltes Thesen erst als öffentlichkeitswirksamer Zündstoff fungieren konnten.

Am 25. Januar 1984 hatte Kohl seine Rede vor der israelischen Knesset mit einem Hinweis auf die "Gnade der späten Geburt" begonnen, die seiner Generation (Jahrgang 1930) zuteil geworden sei. Die Formulierung wurde von Kommentatoren in Deutschland und Israel kritisch aufgenommen und als Versuch gedeutet, eine definitive Grenze zwischen der Tätergeneration und den nachfolgenden, unbelasteten Generationen zu ziehen.

Verstärkt wurde der öffentliche Argwohn über eine vermeintliche Schlußstrich-Mentalität der neuen Bundesregierung im Mai des kommenden Jahres, als Kohl bei einem Staatsbesuch in einer symbolisch aufgeladenen Versöhnungsgeste, vierzig Jahre nach Kriegsende, gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg Kränze niederlegte. Der Friedhofsbesuch mit Reagan, der eine ähnliche Inszenierung Kohls mit Mitterand in Verdun 1984 aufgriff, erregte in beiden Staaten die Gemüter, als bekannt wurde, daß in Bitburg auch Angehörige der Waffen-SS bestattet waren.

Die Bitburg-Affäre wurde auch von Nolte in seinem Artikel vom 6. Juni 1986 angeführt, als ein Beleg des Nicht-Vergehens der Vergangenheit und unter Verweis auf die vermeintlich ubiquitären Frageverbote: "Zwar rief der Besuch des amerikanischen Präsidenten auf dem Soldatenfriedhof Bitburg eine sehr emotionale Diskussion hervor, aber die Furcht vor der Anklage der ‚Aufrechnung‘ und vor Vergleichen überhaupt ließ die einfache Frage nicht zu, was es bedeutet haben würde, wenn der damalige Bundeskanzler sich 1953 geweigert hätte, den Soldatenfriedhof von Arlington zu besuchen, und zwar mit der Begründung, dort seien auch Männer begraben, die an den Terrorangriffen gegen die deutsche Zivilbevölkerung teilgenommen hätten." Auch wenn Nolte gerade nicht zu den Hauptprotagonisten der ‚geistig-moralischen‘ Geschichtspolitik zählte, stellte diese Passage doch Bezüge her, die es Habermas und anderen Kritikern ohne großen Aufwand erlaubten, Nolte in die Reihen jener Historiker einzugliedern, welche die Bestrebungen der Regierung Kohl unterstützen.

Sinnbild der christdemokratischen Bemühungen um die Schaffung eines verbindlichen, zustimmungsfähigen und nationalen Geschichtsbildes waren die in der Mitte der 1980er Jahre entstanden Pläne für ein "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" in Bonn und für ein "Deutsches Historisches Museum" Berlin. Linksintellektuelle Kritiker, unter ihnen Hans Mommsen, und zahlreiche Abgeordnete der SPD sahen in diesen Projekten den volkspädagogischen Versuch, ein neo-konservatives, regierungsamtliches Geschichtsbild zu etablieren. Damit einher ging die Befürchtung, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus solle zunehmend zurückgedrängt werden, um wieder eine unkritisch-affirmative Identifikation mit der deutschen Nationalgeschichte zu ermöglichen.

Im Gegensatz zu Ernst Nolte waren viele der späteren Diskutanten des Historikerstreits, darunter vor allem der konservative Erlanger Historiker Michael Stürmer, massiv in die Debatten um die Museumspläne und die Geschichtspolitik der Bundesregierung involviert. Nicht zuletzt deshalb nahm die Kontroverse, die Noltes Thesen im Juni 1986 ausgelöst hatte, schon früh den Charakter eines Stellvertreterkrieges an. Auf dem Spiel stand nichts Geringeres als die öffentliche Deutungshoheit über die jüngere deutsche Geschichte. Fast emblematisch formulierte Michael Stürmer bereits im April 1986 "daß in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet". Noch ganz im Zeichen der klassischen Rechts-Links-Dichotomie und im Banne der alten Frontlinien aus Zeiten des Kalten Krieges wurde der Konflikt maßgeblich von Christ- und Sozialdemokraten ausgetragen – die junge Partei der Grünen oder Vertreter aus der Generation der Stundentenbewegungen nahmen kaum teil. Der Historikerstreit füllte für fast zwei Jahre die Leserbriefspalten der Intellektuellenpresse, bis er 1989 selbst von der Geschichte überholt wurde. Ernst Nolte beharrte im Verlauf der Auseinandersetzung auf seinen Thesen und spitzte sie weiterhin zu. Er fand letztlich selbst im konservativen Lager keine Unterstützung mehr. Heute gilt er in der Historikerzunft Deutschlands als fast vollständig isoliert.

Martin Kindtner