Erlass zur Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst [Radikalenerlass], 28. Januar 1972

Einleitung

Am 28. Januar 1972 beschlossen die Regierungschefs der Länder gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt "Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen". Die Verwaltungsvorschrift schuf kein neues Recht, sondern erinnerte Behörden, Gerichte und potentiell Betroffene lediglich daran, dass "in das Beamtenverhältnis nur berufen werden darf, wer die Gewähr dafür bietet", dass er oder sie "jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt" – eine Formel, die sich seit den fünfziger Jahren in allen Beamtengesetzen des Bundes und der Länder wieder findet. "Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt", heißt es in dem Beschluss weiter, "wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung."

Bei der Entscheidungsfindung unterstützt wurden die Einstellungsbehörden von den Ämtern für Verfassungsschutz, an die im Zuge eines jeden Bewerbungsverfahrens eine "Regelanfrage" gerichtet wurde. Lagen "Erkenntnisse" über "verfassungsfeindliche Aktivitäten" vor, so teilte der Inlandsgeheimdienst diese der einstellenden Behörde mit. Anhörungskommissionen sollten Bewerberinnen und Bewerbern die Möglichkeit bieten, etwaige Zweifel an ihrer Verfassungstreue auszuräumen, wurden von den Betroffenen jedoch meist als "Gesinnungsprüfungen" wahrgenommen, die im Ergebnis eher einschüchterten als ein faires Verfahren garantierten, da die "Anhörer" in der Regel darauf aus gewesen seien, die "Zweifel an der Verfassungstreue" zu erhärten. Als besonders "inquisitorisch" wurde empfunden, dass in den Anhörungen wie vor den Verwaltungsgerichten entlastende Momente, etwa die Versicherung von Kollegen, der oder die Betreffende habe niemals "indoktriniert", als irrelevant angesehen wurden. Den Ausschlag gab vielmehr die Tätigkeit in einer von den Innenbehörden als "verfassungsfeindlich" eingestuften Partei oder Vereinigung.

Obwohl sich der Beschluss offiziell auch gegen Neonazis richtete, waren fast ausschließlich Linke von ihm betroffen. Von einigen wenigen skandalträchtigen Ausnahmen abgesehen spielen erstere weder in der öffentlichen Debatte noch in den internen Beratungen der Innenministerkonferenz, die zum Radikalenbeschluss führten, eine Rolle, obwohl die Zahl der Neonazis im öffentlichen Dienst noch 1971 höher war als die linker "Verfassungsfeinde". In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre waren hunderte von Mitgliedern der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in den öffentlichen Dienst gelangt, vor allem bei den Länderpolizeien, beim Bundesgrenzschutz und der Bundeswehr, aber auch im Schuldienst. Damals hatten sich die Innenminister des Bundes und der Länder ausdrücklich gegen einen Radikalenbeschluss gewandt, da sie mehrheitlich davon ausgingen, dass diese rechten "Verfassungsfeinde" im öffentlichen Dienst durch das so genannte Parteienprivileg geschützt seien, solange die NPD nicht verboten sei.

Unter den gut 1.000 namentlich bekannt gewordenen Ablehnungs- oder Entlassungsfällen befinden sich gerade einmal sieben NPD-Mitglieder. Rund 80 Prozent betreffen den Schuldienst, zehn Prozent die Hochschulen, fünf Prozent die Justiz. Aber es traf auch Lokomotivführer, Briefträger, Bademeister, Friedhofsgärtner, Ingenieure, Sekretärinnen, Verwaltungsangestellte, Offiziere, Sozialpädagogen, wissenschaftliche und studentische Hilfskräfte, Bibliothekare, Krankenschwestern, Pfleger, Ärzte, Schweißtechniker, Kältemonteure und Laboranten. 90 Prozent waren Landesbedienstete, nur ein kleiner Teil war in Kommunen oder beim Bund beschäftigt, wo vor allem Post- und Bahnbedienstete betroffen waren. Das durchschnittliche Verfahren dauerte etwas mehr als zwei Jahre. Kam es zu Gerichtsverfahren, dauerte es bis zur Entscheidung stets mehr als drei Jahre.

Bei mindestens zwei Drittel der bekannt gewordenen Fälle handelte es sich um angehende Lehrerinnen und Lehrer, die Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) oder einer ihrer Vorfeldvereinigungen waren, so zum Beispiel der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), des Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB), der Vereinigung Demokratischer Juristen (VdJ) und des Bundes demokratischer Wissenschaftler (BdWi). Aus Sicht des Verfassungsschutzes handelte es sich dabei um "Tarnorganisationen", in denen "nützliche Idioten", bewusst oder unbewusst, Wasser auf die Mühlen des SED-Regimes gossen. Aus Sicht der derart inkriminierten Nichtkommunisten stellte ihre Aktivität eine Möglichkeit dar, die "etablierten Parteien", namentlich die SPD, stärker nach links auszurichten.

Finanziert und politisch "angeleitet" wurden die DKP und ihr Umfeld von der DDR aus. Umstritten bleibt bis heute, ob die totale Abhängigkeit der DKP von der SED, die von der Partei stets bestritten wurde, auch ihre Mitglieder automatisch zu "Verfassungsfeinden" macht. Von Kritikerinnen und Kritikern des Beschlusses ist in diesem Zusammenhang oft auf andere westeuropäische Länder verwiesen worden, vor allem auf Frankreich und Italien, wo die siebziger Jahre zwar auch ein "rotes Jahrzehnt" waren, politische Disziplinierungen im öffentlichen Dienst in aller Regel jedoch nicht die orthodoxen Kommunistischen Parteien betrafen, sondern linksradikale Gruppen, die offen antidemokratisch auftraten. Die DKP dagegen bekannte sich nicht nur zum Führungsanspruch der Sowjetunion, sondern auch zum Grundgesetz. Diesen Widerspruch findet man bei ihren westeuropäischen Bruderparteien auch. Doch nur in der Bundesrepublik wurde er systematisch zuungunsten der Kommunisten ausgelegt, was sich zum einen aus dem deutsch-deutschen Systemkonflikt erklärt, zum anderen auf antikommunistische Kontinuitäten aus der Zeit des "Dritten Reiches" zurückzuführen ist, die in der Auslegung der Beamtengesetze durch die Justiz, den Verfassungsschutz und die Staatsrechtslehre besonders manifest werden. In anderen Ländern gab es antikommunistische Traditionen zwar auch, doch konnten die Kommunistischen Parteien dort trotz des Kalten Krieges von der herausragenden Rolle profitieren, die sie beim Widerstand gegen die deutsche Besatzung gespielt hatten.

Für ein innenpolitisches Thema ungewöhnlich lautstark war dann auch die Kritik, die im westlichen Ausland am Radikalenbeschluss geübt wurde. Der französische Politologe Alfred Grosser etwa, der 1933 als Jude aus Deutschland hatte flüchten müssen, erinnerte im Oktober 1975 daran, dass die Bundesrepublik fast das gesamte Beamten-, Professoren- und Richterpersonal des "Dritten Reichs" reinkorporiert hatte, darunter auch extrem belastete Bedienstete, die 1945 zunächst mit Berufsverbot belegt worden waren: Hatte es sich das Land nach 1949 nicht auch leisten können, "Männern wichtige staatliche Positionen anzuvertrauen", die wenige Jahre zuvor "als Verteidiger des Rechtsstaats völlig versagt hatten"? Die Kriterien, "die nun verbieten sollen, Zollbeamter oder Dorfschullehrer zu werden, scheinen mir wahrlich strenger zu sein. Warum ist das so? Weil die 1945 Hochgekommenen trotz ihrer Vergangenheit mit Sicherheit diese freiheitlich-demokratische Grundordnung im Notfall nun verteidigen würden?" Das hätte damals ja wohl niemand ernsthaft garantieren können. Gleichwohl hatte der Vorläufer des Radikalenbeschlusses, der so genannte Adenauererlass, im September 1950 richtungweisend festgelegt, dass nur "ewiggestrige" Neonazis, Kommunisten und Fellowtraveller als Risikofaktoren aus dem Staatsdienst ausgeschlossen werden sollten, nicht jedoch NS-belastete Bedienstete, obwohl sich die Westalliierten, die KPD sowie Teile der SPD und des Zentrums eine entsprechende Klausel gewünscht hätten.

Im Gegensatz dazu waren vom Radikalenbeschluss nicht nur Personen betroffen, denen eine aktuelle "verfassungsfeindliche Tätigkeit" nachgewiesen werden konnte. Viele wurden auch wegen politischer Aktivitäten in der Vergangenheit, vor allem während des Studiums, abgelehnt. Erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bemühten sich die Behörden, derlei "Jugendsünden", zu denen die einstmalige Mitgliedschaft im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gehören konnte, nicht mehr zu berücksichtigen.

Genaue Zahlenangaben darüber, wie viele Personen nicht zugelassen oder entlassen wurden, liegen nicht vor. Schätzungen gehen von 2.000 bis 3.000 direkt vom Radikalenbeschluss Betroffenen aus. Zu ihnen gehören nur jene Bediensteten, Bewerberinnen und Bewerber, bei denen Regelanfrage oder laufende Überprüfung wirklich ein Verfahren mit dem Ziel der Nichteinstellung oder Entlassung nach sich zogen. Die große Dunkelziffer ergibt sich aus der Lückenhaftigkeit der amtlichen Statistiken sowie aus dem Umstand, dass viele Betroffene von vornherein darauf verzichteten, mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen. Umgekehrt gelang es vielen "Verfassungsfeinden", durch die Maschen des Verfassungsschutzes zu schlüpfen – sei es unerkannt, sei es, weil die Behörden von sich aus auf eine Ablehnung/Entlassung verzichteten, da sie die vorliegenden "Erkenntnisse" als zu dürftig erachteten oder V-Leute schützen wollten. Den Verfassungsschutzberichten der Jahre 1972-1988 zufolge befanden sich zwischen 1.307 und 2.454 linke "Verfassungsfeinde" im öffentlichen Dienst des Bundes und der Länder.

Für die Wirkungsgeschichte des Beschlusses ist ohnehin weniger die genaue Zahl der nachweisbar von ihm Betroffenen entscheidend als die ganz ohne Zweifel in die Zehntausende gehende Anzahl derer, die sich betroffen fühlten. Diese Personengruppe reichte weit über die Mitgliedschaft "verfassungsfeindlicher" Vereinigungen hinaus und beschränkte sich auch nicht auf diejenigen unter ihnen, die eine Stelle im öffentlichen Dienst anstrebten. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die "Erkenntnisse", die den Bewerberinnen und Bewerbern im Ablehnungsschreiben genannt oder in den Anhörungen vorgelegt wurden, nicht nur Angaben über Mitgliedschaften umfassten, sondern auch und vor allem politische Aktivitäten, die für junge Linke vollkommen alltäglich waren: das Verfassen oder Unterschreiben einer Petition, die Teilnahme an einer Podiumsdiskussion oder einer Demonstration, der Verkauf eines Studentenblattes, die Kandidatur auf einer linken Liste bei Universitätswahlen usw. Als besonders bedrohlich wurde von diesem Personenkreis empfunden, dass auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu Anhörungen geladen wurden. Diese Vorladungen basierten entweder auf von zum Teil Jahre zurückliegenden "Jugendsünden" oder auf Aktivitäten in einer DKP-Vorfeldorganisation. Dass nur sehr wenige Sozialdemokraten tatsächlich abgelehnt wurden (was ausschließlich in unionsregierten Ländern vorkam), war aus Sicht der Beschluss-Kritiker vergleichsweise unerheblich. Entscheidend war, dass die umfassende "Schnüffelpraxis" zu allgemeinem "Duckmäusertum" führe. Der Beschluss spreche von "Verfassungsfeinden", ziele in Wirklichkeit aber auf die Einschüchterung aller "fortschrittlichen Demokraten" ab. Im Laufe der Jahre kamen immer mehr Liberale zu ähnlichen Schlüssen. Im November 1978 schrieb Gunter Hofmann in der Zeit, im Januar 1972 sei ein "Misstrauensbeschluss" gegenüber einer "ganzen Protestgeneration" gefasst worden.

Diese Entwicklung war auch der Grund, weshalb die SPD Ende der 1970er Jahre von der durch den Radikalenbeschluss induzierten Praxis abrückte. Die Partei lief Gefahr, einen Gutteil ihrer jüngeren Wählerschaft zu verlieren. Weil diese Praxis 1975 vom Bundesverfassungsgericht gutgeheißen – ja als erforderlich erachtet – wurde, war es für die politisch Verantwortlichen allerdings schwer, eine Liberalisierung zu erreichen. Nachdem sich Versuche als untauglich erwiesen hatten, der für immer mehr Rechtsunsicherheit sorgenden Ablehnungspraxis durch politische Appelle und die Herausgabe immer neuer Verwaltungsrichtlinien Herr zu werden, stellten der Bund und die SPD-regierten Länder 1979-1982 die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ein. Zu einem Verfahren sollte es nur noch kommen, wenn die Behörden auf anderem Wege – während der Vorbereitungszeit etwa – von "verfassungsfeindlichen Aktivitäten" der Bewerber erfuhren. Die Regierung Kohl und unionsregierte Länder übernahmen diese "stille Lösung" de facto, ohne jemals offiziell vom Radikalenbeschluss abzurücken. Als letztes Bundesland schaffte zum 31. Dezember 1991 Bayern die Regelanfrage ab.

Seit der Wiedervereinigung werden nur noch sehr vereinzelt "Verfassungsfeinde" mit Verweis auf die Gewährbietungs-Formel nicht zum öffentlichen Dienst zugelassen. Systematisch überprüft wird nur noch die Stasi-Belastung. Unter dem Eindruck neonazistischer Gewaltakte in Ost- und Westdeutschland zu Beginn der neunziger Jahre wurde kurzzeitig eine Wiederbelebung des Radikalenbeschlusses in Erwägung gezogen. Seitdem melden die Zeitungen immer einmal wieder politische Disziplinierungen von Neonazis im öffentlichen Dienst, die allerdings nicht selten von den Verwaltungsgerichten kassiert wurden. Zuletzt wurde zu Beginn des Jahres 2004 der Realschullehrer Michael Csaszkóczy nicht zum Schuldienst zugelassen. Csaszkóczys Mitgliedschaft in der vom Landesamt für Verfassungsschutz als "verfassungsfeindlich" eingestuften Antifaschistischen Initiative Heidelberg begründe "Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird." Dass Csaszkóczy in seiner Vorbereitungszeit gute Leistungen erbracht habe, sei für die Entscheidungsfindung ebenso unerheblich wie der Umstand, dass die beim Verfassungsschutz vorliegenden "Erkenntnisse" nichts Strafbares umfassten. Nachdem die erste Instanz der Argumentation des Verfassungsschutzes gefolgt war, bekam der Realschullehrer in der zweiten Instanz Recht: Das Kultusministerium habe es versäumt, die "Verfassungsfeindlichkeit" der Initiative mit Csaszkóczys sonstigem Verhalten, als Bürger und Lehrer, abzuwägen – eine Argumentation, die in den siebziger Jahren von den Anwälten der Betroffenen meist umsonst eingefordert worden war.

Dass das baden-württembergische Kultusministerium daraufhin, anders als in den siebziger Jahren üblich, auf eine Ausschöpfung des Instanzenweges verzichtete und Csaszkóczy einstellte, veranschaulicht den Umdenkprozess, den Behörden und Gerichte seit 1972 durchlaufen haben. Auf der anderen Seite zeigen die Ablehnung selbst, die erstinstanzliche Entscheidung und das drei Jahre währende Verfahren gegen den auf Arbeitslosenhilfe angewiesenen Junglehrer wie wirkungsmächtig die in der "alten Bundesrepublik" etablierten Konzepte auch heute noch sind.

Dominik Rigoll