Rede von Helke Sander (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen) auf der 23. Delegiertenkonferenz des "Sozialistischen Deutschen Studentenbundes" (SDS) am 13. September 1968 in Frankfurt/Main

Einführung

Die Entstehung der sog. Neuen Frauenbewegung am Ende der 1960er Jahre vollzog sich in der Bundesrepublik unter gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, die Frauen nur begrenzte Emanzipationsmöglichkeiten boten. Noch bis weit in die 1970er Jahre war das erste Ausbildungsziel für Mädchen ihre Vorbereitung auf den "Beruf" der Mutter und Hausfrau. Zwar fand seit den 1960er Jahren ein allmählicher Wandel statt. So erkannte man in der Öffentlichkeit zunehmend, welchen Belastungen Frauen und Mütter in Studium und Beruf ausgesetzt waren, da auf ihren Schultern zusätzlich die alleinige Zuständigkeit für die Kindererziehung und die Führung des Haushalts lag. Doch erschöpften sich konkrete Lösungsvorschläge für diese weiterhin als selbstverständlich angesehene "Doppelaufgabe der Frau" lediglich darin, Frauen vorzuschlagen, sie sollten zwischen Schwangerschaft und Einschulung der Kinder ihre berufliche Tätigkeit unterbrechen (sog. "Drei-Phasen-Modell" von Myrdal/Klein).

Den Charakter einer Umbruchszeit trugen die 1960er Jahre auch dort, wo Themen der privaten Beziehungen zwischen den Geschlechtern erstmals kontrovers öffentlich verhandelt wurden und Berichte über höhere Scheidungsraten und Diskussionen um die Berufstätigkeit von verheirateten Frauen erste Risse im traditionellen Bild der geschlechtspezifischen Arbeitsteilung zeigten. Ebenso markieren die 1960er Jahre auch erste Ansätze eines Gleichheitsanspruchs in sozialen und politischen Fragen, wenn es um die Umsetzung der im DokumentGrundgesetz (Art. 3,2) und im Bürgerlichen Gesetzbuch bereits festgeschriebenen Gleichstellung von Frauen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens ging.

Daneben führten erste Erfolge bei Ausbau und Öffnung des deutschen Bildungssystems im Zeichen der Demokratisierung von Schulen und Universitäten zu Ansprüchen an höhere Qualifikationen, die nun auch Mädchen allmählich neue Möglichkeiten einer gymnasialen und universitären Ausbildung eröffneten. Studentinnen entwickelten zwar durch diese Bildungsrevolution und die durch die Glossar68er-Studentenbewegung hervorgerufene Politisierung einen gestiegenen Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation und individuelle Selbstbestimmung. Sie fanden sich aber letztlich mit einer kollektiven Unterordnung und Fremdbestimmung konfrontiert, die ihren Lebensalltag und ihr politisches Handeln in den studentischen Gruppen prägten.

Nicht zufällig lagen deshalb die Anfänge der Neuen Frauenbewegung in Erfahrungen begründet, die politisierte Frauen und Mütter mit dem nicht eingelösten Anspruch auf Gleichberechtigung innerhalb der sich als antiautoritär verstehenden Studentenorganisationen machten. Die als Diskriminierung erfahrenen Widersprüche in der sozio-ökonomischen Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft nahmen engagierte Frauen im Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (GlossarSDS), eine der Wort führenden Organisationen der Außerparlamentarischen Opposition (GlossarAPO), zum Anlass, sich kritisch mit den Fragen von Kindererbetreuung, der Doppelbelastung von Frauen in Familie, Studium und Beruf und des ungleichen Lohns für gleiche Arbeit auseinander zu setzen. Doch während vornehmlich die männlichen Mitglieder des SDS, durch ihre spektakulären Aktionen gegen die Strukturen der Ordinarienuniversitäten, die Verabschiedung der Dokument Notstandsgesetze mißachtende und die GlossarSpringer-Presse auf sich aufmerksam gemacht hatten, verblieben die in der Protestbewegung engagierten Frauen zunächst im Hintergrund. Nur vereinzelt traten Frauen in Erscheinung; eine aktive, Einfluss nehmende Teilnahme war ihnen unter den weiterhin männlich dominierten Strukturen kaum möglich, obgleich sie in den Gremien, bei den Treffen und Kongressen des SDS beteiligt waren. Somit schrieb auch die Studentenbewegung die traditionelle geschlechtsspezifische Rollenverteilung fort.

So waren es gerade diese von den Frauen selbst erfahrenen Widersprüche, die den eigenständigen Protest der Frauen provozierten. Neben der Kritik an den autoritären Strukturen der theoretischen Debatten waren es die pseudoradikale Sexualitätsdiskussion der "68er" und das ungelöste Problem der Kinderbetreuung, die zu ersten Zusammenschlüssen der Frauen führten, wie dem von GlossarHelke Sander und sechs weiteren Frauen im Januar 1968 gegründeten "Aktionsrat zur Befreiung der Frauen". Aus seiner Beschäftigung mit der offenkundigen sozialen und finanziellen Ungleichheit von Frauen gründete der Aktionsrat in den folgenden Wochen als alternative antiautoritäre Formen der Kinderbetreuung die "GlossarKinderlaeden".

Mit ihrer Rede auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS versuchte Sander, eine größere Öffentlichkeit für die Projekte und Anliegen der studentischen Frauengruppe zu gewinnen. In dieser Rede, die im Nachhinein als eine der beiden Initialzündungen der Neuen Frauenbewegung gewertet wurde, kritisierte sie die alleinige Zuständigkeit der Frauen für Kindererziehung und Haushalt, die Frauen daran hinderte, bei der politischen Arbeit eine gleichberechtigte Rolle einzunehmen. Ihre Kritik mündete in der Forderung, Kindererziehung nicht mehr als private Aufgabe der Mütter, sondern als gesellschaftliche Frage zu betrachten. Damit richtete sie sich grundlegend gegen ein auch im SDS verbreitetes Politikverständnis, demzufolge das Private lediglich als Teil des un- oder vorpolitischen Raums betrachtet wurde. Unter dem Slogan "Das Private ist politisch! " forderten die Frauen die Erweiterung des herkömmlichen Politikmodells, das in der Folge die Diskussionen um bislang von der Privatsphäre verdeckt gehaltene Probleme bestimmen sollte.

Doch die Forderung Helke Sanders verhallte zunächst ungehört auf der SDS-Konferenz. Die männlichen SDS-Delegierten weigerten sich schlicht, ihren Redebeitrag zu diskutieren. Dass sich die Gemüter dann doch noch erhitzten, lag in der "Aktion", die die SDS-Delegierte Sigrid Rüger daraufhin vornahm. Diese warf mehrere Tomaten auf die männlichen Vorsitzenden des SDS und erregte damit sowohl die nötige innerverbandliche Empörung als auch das öffentliche Interesse.

Nach diesem Eklat veröffentlichte der Aktionsrat ein Selbstverständigungspapier, in der die Frauen aufgefordert wurden, von nun an autonom für ihre Rechte einzutreten. Die Weigerung der männlichen SDS-Delegierten, Sanders Redebeitrag zu diskutieren, gab vielen Frauen im Verband den letzten Anstoß, die eigenen Konflikt- und Widerspruchserfahrungen der als privat definierten und der politischen Diskussion entzogenen gesellschaftlichen Geschlechterordnung in Frauengruppen erstmals in den Mittelpunkt ihres politischen Handels zu stellen und Veränderungsstrategien zu entwickeln. Zudem erteilten die Vertreterinnen der neuen Frauenbewegung den korporativen, formalisierten und hierarchisierten Strukturen der traditionellen Verbände eine eindeutige Absage zugunsten autonomer Organisationsweisen. "Autonomie" wurde für sie zum Schlüsselbegriff für Selbstbestimmung und die Befreiung aus patriarchalischer Bevormundung und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

In der Folge dieses Ereignisses gründeten sich in vielen Städten nach dem Berliner Beispiel "Weiberräte", die – ausgehend von der Analyse Sanders – für eine Erweiterung des herrschenden Politikverständnisses um die bisher ausgeklammerte Sphäre des Privaten stritten. So entstand in Frankfurt der erste "Weiberrat" (Sozialistische Frauen Frankfurts), der mit einer spektakulären Flugblattaktion auf dem 24. Delegiertenkongress des SDS in Hannover am 20. November 1968 die Vormacht der Männer im SDS mit der Parole attackierte: "Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen". Den Frauen in den sich neu gründenden Frauengruppen ging es nun nicht mehr um eine bloße Gleichberechtigung. Sie waren vielmehr davon überzeugt, dass der patriarchalischen Gesellschaft mit ihren spezifischen Arbeits- und Familienstrukturen nur dadurch langfristig ein Ende zu setzen und die Gesellschaft auf eine andere Funktionsgrundlage zu stellen sei, dass man die Geringschätzung der von Frauen geleisteten unsichtbaren Arbeit offen kritisierte.

Durch den Zerfall der APO und des SDS nach 1969 traten zunächst auch die sozialistischen Frauengruppen in ihren Aktionen zurück. Dennoch gab es bereits Verbindungen zu Personen und Netzwerken außerhalb des studentischen Milieus. Vor allem die zu Beginn des Jahres 1970 in Frankfurt gegründete "Aktion 70" hatte mittlerweile Frauen aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen und politischen Parteien zusammengeführt. Unter der Parole "Mein Bauch gehört mir" organisierten sie am 8. März 1970, dem Internationalen Tag der Frau, Demonstrationen, für eine umfassende sexuelle Aufklärung, den freien Zugang zu Verhütungsmitteln, die Übernahme der Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen sowie insbesondere für die ersatzlose Streichung des § 218 Strafgesetzbuch, der die Abtreibung unter Strafe stellte. Den Höhepunkt erreichte die Kampagne am 6. Juni 1971 mit einer Selbstbezichtigung von 374 vorwiegend prominenten Frauen, die in der Illustrierten "GlossarStern" öffentlich erklärten: "Ich habe abgetrieben". Importiert aus Frankreich nach dem Vorbild des französischen "GlossarMouvement pour la Liberation des Femmes" und initiiert von der damals in Paris lebenden Journalistin und späteren Herausgeberin der Frauenzeitschrift EMMA, GlossarAlice Schwarzer, erreichte diese Aktion nicht nur ein mediales Aufsehen, sondern führte zu weiteren Gründungen von Frauengruppen, die durch öffentlichkeitswirksame Unterschriftenaktionen die Aufmerksamkeit für dieses Thema auf eine breite Basis stellten.

Seit 1969 gehörte die Liberalisierung des aus dem Jahre 1927 stammenden Abtreibungsgesetzes, das Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren vorsah, zum Reform-Paket der neu gebildeten sozialliberalen Regierungskoalition unter GlossarWilly Brandt. Ein konkreter Erfolg der Bemühungen um die Abschaffung des § 218 zeigte sich am 26. April 1974: An diesem Tag verabschiedete der GlossarBundestag mit knapper Mehrheit die "Drei-Monats- Fristenlösung", die Abtreibungen bis zum dritten Schwangerschaftsmonat legitimierte. Dieses Gesetz wurde jedoch bereits wenige Monate später vom GlossarBundesverfassungsgericht wieder außer Kraft gesetzt und durch das vom Bundestag am 12. Februar 1976 beschlossene erweiterte Indikationsmodell ersetzt, nach dem eine Abtreibung in den ersten 12 bzw. 22 Wochen dann straffrei war, wenn sie auf einer eugenischen, kriminologischen oder sozialen Indikation beruhte, und eine entsprechende Vorberatung stattgefunden hatte.

Obwohl die Frauenbewegung damit ihr eigentliches Ziel nicht erreicht hatte, waren die vorangegangenen Aktionen für sie dennoch sehr erfolgreich. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hatten sich Frauen verschiedener Alters-, Sozial- und Berufsgruppen zu einer kollektiven Bewegung zusammengefunden und ihre gemeinsame Interessensidentität demonstriert, wodurch diese Aktion für die Öffentlichkeit zum Beginn der Neuen Frauenbewegung wurde. Neben den selbst organisierten Einrichtungen und Initiativen zur Schwangerschaftsberatung und Verhütung, Abtreibung und Gesundheitspolitik war die Veränderung von Werten und Normen wesentlich, die die Bedeutung des Privaten radikalisierte und zur Herausbildung einer politisch-kulturellen Gegenkultur führte.

Spätestens seit 1975, von den GlossarVereinten Nationen zum Jahr der Frau deklariert, gelang es der Neuen Frauenbewegung auch in anderen tabuisierten Bereichen zu zeigen, wie politisch das Private war. Dabei war die Thematisierung von Sexualität und Gewalt gegen Frauen und Mädchen besonders einflussreich. Es entstanden zahlreiche Selbsterfahrungs- und Selbsthilfegruppen, aus denen in den folgenden Jahren Frauenprojekte mit medizinischen und sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen Zielsetzungen entstanden.

In den 1980er Jahren wurde Frauenemanzipation als "Marktlücke" entdeckt und erschlossen. Gleichzeitig führte die Präsenz des Themas in der öffentlichen Diskussion wie in der staatlichen Politik zur Etablierung feministischer Theorien und zur Gründung von Frauenforschungsprofessuren im akademischen Bereich sowie zur Einrichtung von Frauenministerien und Gleichstellungsstellen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Damit wurden – obwohl die Frauenbewegung am Prinzip der Autonomie fest hielt – viele ihrer politischen Forderungen von Vertreterinnen aus Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und etablierten Frauenverbänden aufgenommen.

Mit dieser Form der Politisierung des Alltags konnte die Neue Frauenbewegung die traditionelle Trennlinie zwischen Privatem und Öffentlichkeit verschieben und die Herausbildung eines neuen Politikbegriffs wie den Wandel von Werten und Normen entscheidend beeinflussen.

Julia Paulus