Kurt Georg Kiesinger, Rede beim Staatsakt der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit im Bundestag, 17. Juni 1967

Einleitung

Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der seit Dezember 1966 als Chef einer Großen Koalition von CDU/CSU und SPD amtierte, hielt diese Rede am 17. Juni 1967, dem westdeutschen Nationalfeiertag bis 1990, mit dem an den Aufstand in der DDR im Jahr 1953 erinnert wurde. Kiesinger erläuterte die ostpolitischen Ziele der Großen Koalition. Zugleich nahm er "aber auch zur weltpolitischen Situation" Stellung, wie er in einer Edition seiner Reden anmerkte. Kiesinger hielt diese Rede für "das Beste", was er während seiner Regierungszeit zur deutschen Frage ausgeführt habe. Die Rede wurde von dem sozialdemokratischen Politiker Herbert Wehner nach 1969 häufiger zitiert, weil sie den ostpolitischen Minimalkonsens der im Bundestag vertretenen Parteien repräsentierte.

In der ersten Jahreshälfte 1967 schienen ostpolitische Durchbrüche in greifbare Nähe gerückt. Am 13. Dezember 1966 hatte Kiesinger im außenpolitischen Teil seiner ersten Regierungserklärung die Beziehungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion besonders hervorgehoben und die "Friedensnote" seines Vorgängers Ludwig Erhard vom 25. März 1966 dahingehend erweitert, daß er in Aussicht stellte, "auch das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot einzubeziehen". Ebenso anerkannte er den Wunsch Polens, "endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben". Ein erster konkreter Schritt war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien im Januar 1967. Im Januar 1968 sollte dann mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien die Hallstein-Doktrin durchbrochen werden. Doch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu anderen Staaten des Warschauer Paktes scheiterte an der starren Haltung der DDR und der Sowjetunion, die derartige Schritte an für die Bundesrepublik unerfüllbare Bedingungen knüpften. Kiesinger suchte mit dieser, mit Vizekanzler Willy Brandt (SPD) abgestimmten, Rede, den ostpolitischen Prozeß wieder flott zu machen.

Wesentliche Überlegungen, die Kiesingers Denken mitbestimmten und direkt in seine Reden einflossen, stammen von Günther Diehl, der als Chef des Planungsstabes im Auswärtigen Amt unter Brandt ein "Außenpolitisches Aktionsprogramm" formulierte, das er dem Außenminister im März 1967 vorlegte. In der Deutschlandpolitik sah der optimistisch nach vorne zielende Diehl den "eigentlichen Prüfstein der Großen Koalition", obgleich die westdeutschen Einwirkungsmöglichkeiten hier stärker begrenzt waren. Wenn die übrige Außenpolitik freier würde und die Regierung gleichzeitig an der Wiedervereinigung festhalte, würde sich auch in der Deutschlandpolitik "Bewegung auslösen" lassen. "Voraussetzung wäre, daß man Alleinvertretung und Alleinpräsenz trennt und dem Regime in der SBZ eine gewisse Geschäftsfähigkeit zubilligt." Das war bis in die Formulierungen hinein, worauf auch Brandt und sein außenpolitischer Berater Egon Bahr abzielten und was sie nach 1969 tatsächlich umsetzten, jedoch dann ohne die CDU/CSU, die mit ihrem Wahlverlust 1969 zu einer Politik der ostpolitischen Konfrontation überging.

Unmittelbar der Rede vorausgegangen war, wie Kiesinger gegen Ende erwähnte, die Erklärung der Bundesregierung vom 12. April, in der 16 konkrete Punkte zur Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen vorgeschlagen worden waren. Kurz vor dem 17. Juni hatte Kiesinger einen Brief des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph beantwortet. Schon die Annahme dieses Briefes war ein Politikum, waren solche Schreiben doch bisher ungeöffnet nach Ostberlin zurückgeschickt worden. Wie auf diesen Brief zu reagieren war, war innerhalb der CDU/CSU höchst umstritten. In seinem Schreiben an Stoph hatte Kiesinger noch einmal den Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik ("Alleinvertretung") bekräftigt und dem DDR-Ministerpräsidenten vorgeworfen, eine Politik des "Alles oder Nichts" zu betreiben. Andererseits hatte er Stoph an die gemeinsame Verantwortung der beiden deutschen Staaten für den Frieden erinnert und Gespräche über praktische Fragen der deutsch-deutschen Zusammenarbeit durch "zu bestimmende Beauftragte und ohne Vorbedingungen" vorgeschlagen. In der Rede zum 17. Juni 1967 erläuterte Kiesinger, was die Große Koalition zu diesem präzedenzlosen Schritt bewogen hatte.

Einleitend ging Kiesinger auf den ritualisierten Charakter des 17. Juni ein und sprach mit dem Auseinanderleben der Menschen beiderseits der innerdeutschen Grenze das Kardinalproblem der deutsch-deutschen Beziehungen an. Kiesinger positionierte sich zwischen jenen, die das Projekt der Wiedervereinigung aufgegeben hatten bzw. an einer wie auch immer gearteten Annäherung aus unterschiedlichen Motiven nicht interessiert waren, und jenen, in der SPD und der von Kiesinger später so genannten "Anerkennungspartei", denen eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR vorzuschweben schien. Die Rede ist als Teil einer terminologischen Suchbewegung zu sehen, die DDR nicht mehr mit dem Vokabular des Kalten Krieges zu bezeichnen (wie z. B. "Pankow"), wenn er dazu aufforderte, "ohne Scheuklappen [zu] sehen, was ist, auch das, was in den vergangenen 14 Jahren geworden ist", und im Zusammenhang mit der DDR den Begriff eines "zweiten deutschen Staates" verwendete.

Im Hauptteil bekräftigte Kiesinger zunächst den westdeutschen Rechtsstandpunkt und skizzierte praktische Möglichkeiten einer Ostpolitik, stellte die deutsche Frage in ihren internationalen Kontext und setzte sich schließlich mit dem Problem der Vereinbarkeit von Wiedervereinigung und Zugehörigkeit eines vereinigten Deutschland zur westlichen Allianz auseinander. Er erkannte an, daß die starre Haltung der Bundesrepublik seit dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 den Weststaat gegenüber den eigenen Verbündeten isoliert und auch gegenüber den Staaten des Warschauer Paktes ins Hintertreffen gebracht hatte. Eine Politik des Immobilismus, so konzedierte Kiesinger, würde "von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen". Die Zeit arbeite gegen die Bundesrepublik. Zugleich klang noch einmal die Konzeption Adenauers an, daß eine "weitschauende Entspannungspolitik nur [...] auf der Grundlage der eigenen Freiheit und Sicherheit", d. h. aus einer Position der Stärke heraus geführt werden müsse. Andererseits betonte Kiesinger, daß die deutsche Einheit nur im Kontext einer Überwindung des Ost-West-Konflikts insgesamt zu erreichen sei. Die Prioritäten von Wiedervereinigung und Entspannungspolitik wurden umgekehrt. Gedanklich wurde von der Großen Koalition der entscheidende Schritt vollzogen, die Anerkenntnis des Status quo sei die Voraussetzung zu dessen Überwindung.

In der Formel von der "kritischen Größe" wird die doppelte zeitgeschichtliche Dimension von Kiesingers außenpolitischem Denken deutlich. Dieses Wort zielte in zweifacher Weise auf eine Überwindung des Status quo: den europäischen Antagonismus und die deutsche Teilung, deren Beendigung Kiesinger allein durch eine gesamteuropäische Integrationspolitik für möglich hielt. Während Brandt schon im Sommer 1967 die Entspannungspolitik nicht mehr "von Fortschritten in der Deutschland-Frage" abhängig machen wollte, hielt Kiesinger noch am Ziel der Entspannung als Hilfsinstrument der deutschen Einheit fest: "Ohne das unzerstörbare Recht unserer Nation, in einem Staate zu leben, preiszugeben, versuchen wir, eine europäische Friedensordnung anzubahnen, die auch die Teilung Deutschlands überwinden soll."

Indem Kiesinger den Zusammenhang zwischen der deutschen und der europäischen Frage, zwischen Wiedervereinigung und Entspannung, hervorhob, vollzog er als erster Kanzler den fundamentalen Wechsel zu einer Politik der "Wiedervereinigung durch Entspannung". Andererseits werden auch die Grenzen der Neuen Ostpolitik in der Großen Koalition klar deutlich. So konnte Kiesinger angesichts weltpolitisch ungünstiger Bedingungen (die Sowjetunion wurde just 1967/68 durch den "Prager Frühling" in ihrem eigenen Herrschaftsbereich vehement herausgefordert) aus seinen Einsichten keine Konsequenzen für eine operative Politik gegenüber der DDR ziehen. Wie die spätere sozialliberale Ostpolitik empfahl Kiesinger die Taktik des "Ausklammerns", um menschliche Erleichterungen zu erreichen. Indes tat er sich (auch aus innerparteilichen Rücksichten) sichtbar schwer mit Zugeständnissen an Ostberlin, etwa in der Frage der Bezeichnung des anderen deutschen Staates. Kritiker sahen darin einen wesentlichen Grund für Kiesingers Scheitern. Dies, die mangelnde Bereitschaft der CDU/CSU, ihrem Kanzler in Fragen der Ostpolitik zu folgen, und die Intransigenz des Warschauer Paktes 1967/68 verhinderten echte ostpolitische Durchbrüche noch seitens der Großen Koalition.

Philipp Gassert