Kurt Georg Kiesinger, Rede beim Staatsakt der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit im Bundestag, 17. Juni 1967
Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Wir begehen den Tag der deutschen Einheit 14 Jahre nach jenem gescheiterten Versuch, die Spaltung unseres Volkes durch einen verzweifelten Aufstand einfacher Menschen zu überwinden. Für Millionen junger Deutscher ist, was damals geschah, Geschichte, die sie nur vom Hörensagen kennen, nichts anderes, als wenn sie von den beiden Weltkriegen, den Hitlerjahren, der Weimarer Republik und der versunkenen Zeit davor erfahren.
Aber es gibt einen Tatbestand, den wir alle, jung und alt, vor Augen haben: daß jenseits der Elbe deutsche Menschen unter einem ihnen aufgenötigten politischen System in einer ihnen aufgezwungenen Trennung von ihren Landsleuten im Westen Deutschlands leben müssen. Sollte auch dieser sichtbare Tatbestand für viele von uns kein Stachel mehr im Herzen sein? Es gibt eine Art von Resignation, die an Zynismus, eine Art von Gleichgültigkeit, die an Gewissenlosigkeit, und eine Art von Naivität, die an Torheit grenzt. Es gibt aber auch glatt eingespielte Denkgewöhnungen und einen bequemen Formelkult, der das tönende Wort an die Stelle mühevollen politischen Denkens und Handelns setzt. Und keine Gelegenheit verführt die dafür Anfälligen zu dieser Torheit eher als die jährliche Wiederkehr dieses Gedenktages.
Ich habe nicht die Absicht, bei dieser zur Tradition gewordenen Gedenkstunde im Haus des Deutschen Bundestages in diesen Fehler zu verfallen. Dem 17. Juni 1953 und den Opfern, die er kostete, werden wir am ehesten gerecht, wenn wir uns mit Ernst und Redlichkeit der großen Sache zuwenden, um die es den Menschen im anderen Teil Deutschlands in jenen Tagen ging: um die Freiheit und Einheit unseres Volkes.
Mit Ernst und Redlichkeit! Das heißt, daß wir zwar nicht, wie man uns von drüben und von Moskau rät, die angeblichen Realitäten anzuerkennen, indem wir sie politisch und völkerrechtlich bestätigen. Aber es heißt: daß wir ohne Scheuklappen sehen, was ist, auch das, was in den vergangenen 14 Jahren geworden ist.
Ich widerstehe der Versuchung eines geschichtlichen Rückblicks, denn ein solcher dürfte sich ja nicht auf die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands beschränken. Er müßte den Gang der Weltpolitik in diesen langen Jahren ins Auge fassen, in die das deutsche Problem eingeflochten ist, von Anbeginn bis zu dieser Stunde.
Wir wissen, daß keine Art von Gewalt, weder von innen noch von außen, die deutsche Frage lösen kann. Gewalt als ultima ratio der Politik wird in einer Welt, in der von jedem Punkte des Planeten aus der ganze Friede gefährdet werden kann, ohnehin zu einem immer bedenklicheren Phänomen. Darum hat unser Angebot des Austausches von Gewaltverzichtserklärungen eine prinzipielle, die deutsche Frage zwar einschließende, aber sich nicht auf sie beschränkende Bedeutung.
Da wir also den Frieden wollen, erstreben wir auch die Lösung der deutschen Frage mit den Mitteln des Friedens. Uns wird vom Osten vorgeworfen, wir wollten uns den anderen Teil Deutschlands "einverleiben". Wir wollen nichts dergleichen. Die Machthaber im anderen Teil Deutschlands verkünden unverblümt, daß sie als Voraussetzung einer etwaigen Wiedervereinigung die Angleichung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung in der Bundesrepublik an ihr System fordern, gleichviel, ob die Menschen hier dies wünschen oder ablehnen. Wir aber sagen mit aller Deutlichkeit, daß wir unsere Landsleute drüben nicht bevormunden, sie zu nichts zwingen wollen, was nicht ihrem Wunsch und Willen entspricht. Nur solange sie selbst nicht frei entscheiden können, was sie wollen, sprechen wir für sie und werden wir nicht aufhören, für sie zu sprechen.
Dies ist der Kern unserer Wiedervereinigungspolitik, dies ist darum auch das Kernstück unserer Auseinandersetzungen mit den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands, aber auch mit allen, die jene Verantwortlichen stützen oder lenken. Das ist keine Anmaßung, wie man uns vorwirft, das ist unsere Gewissenspflicht.
Wenn dem so ist, wenn die politischen Positionen sich so hart gegenüberstehen, so müssen wir uns ehrlich fragen, ob Bemühungen um eine friedliche Lösung überhaupt einen Sinn haben, ob wir nicht, statt trügerische Hoffnungen zu wecken, warten müssen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, und uns bis dahin darauf beschränken, das zu bewahren, was uns geblieben ist: unsere eigene Freiheit und die Verweigerung der Anerkennung eines zweiten deutschen Staates durch die freie Welt. Eine solche rein defensive Politik würde – das ist meine feste Überzeugung und die Überzeugung der Regierung der Großen Koalition – von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen. Sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärts bringen, sie könnte uns auch das gar nicht bewahren, was sie bewahren will, denn die Zeit wirkt nicht für uns.
Darum hat sich diese Regierung zu einer neuen, beweglicheren Politik gegenüber dem Osten entschlossen: sowohl gegenüber unseren östlichen Nachbarn, wie im innerdeutschen Verhältnis gegenüber den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands. Beides sind Aspekte einer politischen Konzeption, welche auf der Prämisse beruht, daß Europa nicht darauf verzichten kann, eine seine politische Spaltung überwindende zukünftige Friedensordnung zu entwerfen, in welcher auch die deutsche Frage ihre gerechte Lösung finden kann. Wer das utopisch findet, der sollte bedenken, was es bedeuten würde, auf einen solchen Entwurf zu verzichten. In der Politik darf gewiß das Wort aus dem "Faust" nicht gelten: "Den lieb ich, der Unmögliches begehrt" – aber dem Kurzsichtigen oder Kleinmütigen wird oft etwas unmöglich scheinen, was sich dem kühnen Zugriff als möglich erweist.
Das rechte Augenmaß für das Mögliche zu haben, heißt aber nicht nur, daß man aussichtslose Abenteuer vermeidet, es bedeutet auch, daß man, wo der Blick der anderen stumpf ist, das wirklich Mögliche doch noch erspäht. Keine große Politik hat anders als so begonnen.
Der Weg zu dieser europäischen Friedensordnung mag, ja wird lang und mühselig sein; vielleicht wird er uns auch nicht ans ersehnte Ziel führen. Diese Möglichkeit des Scheiterns können wir nicht ausschließen, aber es ist der einzige Weg, der uns die Chance des Erfolgs verspricht.
Ich habe nicht erwartet, daß unsere Politik, unsere neue Politik im Osten offene Ohren finden werde. Solange man drüben mit unserer Kapitulation rechnet, wird man sich unzugänglich zeigen und unsere Politik als ein arglistiges Manöver darstellen, welches die Solidarität der sozialistischen Länder aufbrechen, einen Keil zwischen die Sowjetunion und ihre Verbündeten treiben und Ulbricht und sein Regime isolieren wolle.
Wir werden uns dadurch nicht beirren lassen. Sollte man da oder dort im Osten glauben, man brauche dieses absurde Zerrbild eines revanchelüsternen Deutschlands, um die gefährdete Solidarität zu bekräftigen, so haben wir etwas Besseres anzubieten: den Beweis eines um Vertrauen ringenden Volkes, dem es darum geht, in Osteuropa und zusammen mit den Ländern Osteuropas ein neues politisches Klima der Verständigung und, wo immer möglich, der Zusammenarbeit anzubahnen.
Die Taktik, als Voraussetzung für die Zusammenarbeit, ja auch nur für ein Gespräch, die völlige Unterwerfung des anderen unter den eigenen Standpunkt zu verlangen, muß den Eindruck erwecken, daß sie eben deshalb angewendet wird, weil man Gespräche und Zusammenarbeit verhindern möchte.
Wir dagegen halten es für eine bewährte Methode, zunächst Gelände zu suchen, das man gemeinsam betreten kann, um die großen Streitfragen vorerst auszuklammern. Dieses Verfahren, das ein wichtiges Instrument in einer Politik der Entspannung darstellt, hat seine Probe im Verkehr zwischen Staaten bestanden.
Wir werden zu dieser Politik auch durch den Blick auf die Entspannungsbemühungen anderer Völker im Verhältnis des Westens zum Osten ermutigt. Entspannung darf nicht auf eine resignierende Hinnahme oder gar auf eine Besiegelung des Status quo hinauslaufen. Wo immer in der Welt eine Politik des Status quo bei widerstreitenden Lebensinteressen der betroffenen Völker als dauerhafte Befriedung mißverstanden wird, schafft man einen Krankheitsherd, der jeden Augenblick epidemisch werden kann. Darum müssen wir nach Methoden der Entspannung suchen, die den Herd der Krankheit durch eine geduldige Therapie eingrenzen und schließlich beseitigen.
Wir werden daher unseren therapeutischen Bemühungen um gesündere Beziehungen mit den Ländern und Völkern des europäischen Ostens fortfahren. Wir werden für diese Bemühungen um wirkliche Entspannung, um allmähliche Überwindung der Gegensätze, um einen dauerhaften Frieden in Europa beharrlich um Verständnis und Unterstützung werben – im Westen, wie im Osten, wie unter den jungen Völkern.
Da es, wie ich eingangs sagte, darum geht, das deutsche Problem mit Ernst und Redlichkeit zu bedenken, dürfen wir der Frage nicht ausweichen, wie sich diese unsere Politik der Entspannung als Voraussetzung der Überwindung der Spaltung unseres Volkes vereinbaren läßt mit unserem westlichen Bündnis und mit unserem Bemühen um die Einigung Europas. Schließt das eine das andere nicht aus? Liegt hier nicht ein tragischer Widerspruch des Denkens und Empfindens unserer gesamten Politik vor?
Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutschland, hat eine kritische Größenordnung. Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich herum selbst im Gleichgewicht zu halten. Es ist daher in der Tat nur schwer vorstellbar, daß sich ganz Deutschland bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struktur in Europa der einen oder der anderen Seite ohne weiteres zugesellen könnte. Eben darum kann man das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konfliktes in Europa.
Die Bundesrepublik Deutschland kann ebenso wie ihre Verbündeten eine weitschauende Entspannungspolitik nur führen auf der Grundlage der eigenen Freiheit und Sicherheit. Die atlantischen und europäischen Mitglieder des Bündnisses sind deshalb heute wie früher aufeinander angewiesen. Aber unsere Bündnisse und unsere Gemeinschaften haben keine aggressiven Ziele. Sie würden ihren Sinn verfehlen, wenn es ihnen zwar gelänge, in einer machtpolitisch kritischen Region eine lange Waffenruhe zu sichern, wenn aber zugleich die Spannungen akkumuliert und die schließliche Entladung um so verheerender sein würde. Deshalb müßte die Entwicklung folgerichtig zu einem Interessenausgleich zwischen den Bündnissen im Westen und im Osten und schließlich zu einer Zusammenarbeit führen – einer unentbehrlichen Zusammenarbeit, angesichts der Krisenherde in allen Regionen unserer Welt, der rapiden Veränderungen überall, die lebensgefährlich werden müssen, wenn sie wie ungebändigte Sturmfluten alles und alle mit sich reißen.
Angesichts dieser Veränderungen unserer Welt erscheinen viele alte Gegensätze und Frontstellungen heute schon sinnlos. Morgen könnten sie sich als selbstmörderisch erweisen, denn es zeichnen sich mögliche Konflikte ab, denen gegenüber sich unsere heutigen fast harmlos ausnehmen. Wir müssen hoffen, daß diese Einsicht zunehmend das politischen Denken und Handeln im Osten und im Westen beeinflussen wird.
In diesem Zusammenhang findet auch die Lösung der deutschen Frage ihren Ort, und unser Verhältnis zum anderen Teil Deutschlands muß im Rahmen solcher Überlegungen bedacht werden. Die Einigung unseres Volkes kann, so wie die Dinge liegen, gegenwärtig nicht durch Gespräche zwischen Vertretern der Bundesrepublik und den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands herbeigeführt werden – ganz gewiß schon darum nicht, weil von uns die politische und rechtliche Anerkennung eines zweiten deutschen Staates, also die Besiegelung der Teilung Deutschlands, in solchen Gesprächen verlangt wird. Aber auch die weltpolitische Problematik, in die das deutsche Problem eingeflochten ist, macht Gespräche mit der Macht notwendig, welche das Regime im anderen Teil Deutschlands lenkt und stützt und gegen deren Willen – der 17. Juni 1953 hat es bitter bewiesen – eine Einigung Deutschlands nicht gelingen wird.
Was aber zwischen uns und den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands möglich ist, das sind Gespräche und Vereinbarungen, welche die durch die erzwungene Spaltung geschaffene Not lindern und die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen zwischen den Deutschen bessern sollen, welche verhindern sollen, daß das deutsche Volk sich von Jahr zu Jahr auseinanderlebt. Diese innere Entkrampfung oder Entgiftung entspräche unserem großen Entwurf einer künftigen europäischen Friedensordnung; sie könnte ihr hilfreich dienen.
Diesem Willen entsprach auch die Erklärung der Bundesregierung vom 12. April dieses Jahres; ihn drückte erneut meine Antwort auf den Brief aus, den mir Herr Stoph nach unserer Erklärung vom 12. April übersandt hat. Leider enthielt der Brief aus Ostberlin wieder die Forderung der Anerkennung der Teilung unseres Vaterlandes, während unser Vorschlag übergangen wurde, über jene Fragen zu sprechen, über die gegenwärtig allein mit Aussicht auf Erfolg verhandelt werden kann.
Ich wiederhole daher, daß wir uns auf Scheinverhandlungen nicht einlassen werden, die nur der bisher von der freien Welt verweigerten internationalen Anerkennung Ostberlins dienen sollen. Wir sind aber zu ernsthaften Gesprächen über ernsthafte Möglichkeiten innerdeutscher Regelungen, die den von mir genannten Zielen dienen, jederzeit bereit. Möge man drüben, möge auch die Sowjetunion, mögen unsere anderen östlichen Nachbarn erkennen, daß unsere Vorschläge einen ehrlichen und wichtigen Beitrag zur Anbahnung eines europäischen Friedens darstellen, den alle Völker ersehnen.
Wir alle – im Osten wie im Westen – stehen vor einer weltpolitischen Situation, für die es kein Vorbild, keine Präzedenzfälle gibt. Wenn je das Wort "historia vitae magistra" einmal gelten konnte – heute läßt uns die Geschichte als Lehrmeisterin im Stich; ja es könnte sein, daß sie uns gar den Blick auf die Zukunft verstellt, die ganz neue Gedanken, neue Entwürfe, neuen unbefangenen Wagemut von allen Beteiligten fordert.
Alfred Webers Wort über den "Abschied von der bisherigen Geschichte" muß ernst genommen und tiefer begriffen werden, als er selbst es vor zwanzig Jahren verstand, von uns und von den anderen. Hüben wie drüben wird man sich aus eingefahrenen Denk- und Willensbahnen lösen müssen, wenn wir alle die künftige Geschichte nicht als wehrlose Opfer, sondern allen Zwängen der Entwicklung zum Trotz, als ihre Gestalter erfahren wollen.
Hier nach: „Mit Ernst und Redlichkeit der Freiheit und Einheit unseres Volkes dienen“, Rede des Bundeskanzlers Dr. h.c. Kurt Georg Kiesinger anläßlich des Staatsaktes der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit, 17. Juni 1967, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 64, 20. Juni 1967, S. 541-543.