Statut der Allunions- Kommunistischen Partei der Sowjetunion (der Bolschewiki) (VKP(b)), Februar 1934

Einleitung

Als der XVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion [eigentlich: Allunionistische Partei der Sowjetunion – VKP(b), so umbenannt auf dem XIV. Parteitag 1925] im Februar 1934 ein neues Statut verabschiedete, hatte sich die Situation gegenüber 1919, als auf dem VIII. Parteitag der RKP(b) ihr erstes Statut seit der Revolution angenommen wurde, erheblich verändert. In der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP, 1921-1928) war es gelungen, die Wirtschaft zu konsolidieren und die Grundlage für einen beschleunigten industriellen Ausbau zu legen. 1928/29 lancierte die Parteiführung eine forcierte Industrialisierung, die mit einer gewaltsam durchgesetzten Verstaatung der Landwirtschaft verbunden wurde. Die Einführung von Planwirtschaft im 1. Fünfjahrplans, der beschleunigte, teilweise chaotische Aufbau maschineller Großindustrie, die Vernichtung landwirtschaftlicher Kapazitäten, die verschärften Repressionen, die sich zunächst vor allem gegen bürgerliche Fachleute und die bäuerliche Bevölkerung richteten, schufen ein politisches Klima, in dem sich Unterdrückung und Massenmobilisierung in einer eigenartigen Weise verbanden. Innerhalb der VKP(b) hatte der Generalsekretär seine Herrschaft endgültig konsolidiert. Seine politischen Konkurrenten waren ausgeschaltet, seit Ende der zwanziger Jahre schuf man um Stalin einen regelrechten Kult, der dem "vožd'" (Führer) einen geradezu mythischen Status verlieh.

Die Partei selbst war in den Jahren seit 1919 rasch gewachsen. Gegenüber den ca. 528.000 Parteiangehörigen zu Beginn der NÖP (78% Mitglieder und 22% Kandidaten) gab es 1933 3,5 Mio. (62% Mitglieder und 38% Kandidaten). Seit Beginn des 1. Fünfjahrplans 1928 waren über 2,2 Mio. Personen in die VKP(b) neu eingetreten. Die Parteiorganisation konnte diesen Zustrom nur mühsam fassen, zugleich tat sie sich schwer, den raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel wirksam zu kontrollieren. Insofern galt es, die Instrumente zur Parteiaufnahme und der Mitgliederregulierung neu zu gestalten und die Binnenorganisation der Partei auf die neuen Aufgaben auszurichten.

Die neuen Aufgaben wurden bereits im Abschnitt über die Pflichten des Parteimitglieds deutlich: Neben Parteidisziplin und Bekenntnis zur marxistisch-leninistischen Ideologie wurde nun auch verlangt, daß das Parteimitglied ein "Vorbild der Wahrung der Arbeits- und Staatsdisziplin" sein müsse, daß er "die Technik seines Fachs zu meistern und seine berufliche, fachliche Qualifikation ständig zu steigern" habe. Hier wird deutlich, wie stark Industrialisierung und Wirtschaftslenkung nunmehr das politische Denken beherrschten. Produktionserfolge wurden zum Maßstab des politischen Erfolges. Die Notwendigkeit, einen komplexen sozialen und ökonomischen Prozeß zu steuern, machte aber die rasche Ausweitung der Partei erforderlich, die alle Schlüsselstellungen mit vertrauenswürdigen Mitgliedern besetzen wollte. Deren Zuverlässigkeit maß man an der sozialen Herkunft – von Proletariern erwartet man erhöhte Loyalität. Das schlug sich in den Aufnahmeregelungen nieder: Industriearbeiter mit langer Produktionserfahrung wurden leichter aufgenommen und mußten nur ein Jahr im Kandidatenstatus verbleiben, während für alle anderen Kategorien der Zugang erschwert wurde und der Kandidatenstatus zwei Jahre dauerte.

Eine Neuerung war die Institutionalisierung der Parteisäuberungen. Säuberungen waren schon früher immer wieder durchgeführt worden: etwa im Jahre 1921 beim Übergang vom Kriegskommunismus zur NÖP in der Gesamtpartei oder 1924/25 in den Sowjet- und Hochschulzellen, um oppositionelle Strömungen zu bekämpfen. 1929 hatte man eine Überprüfung aller Mitglieder in Angriff genommen, der 1933/34 eine weitere folgte. Das Statut von 1934 legte nun fest, daß das CK periodisch eine systematische Säuberung anordnen könne, und benannte die Vergehen, die eine Entfernung aus der Partei erforderlich machten. Kategorien wie "klassenfremde und feindliche Elementen", "Doppelzüngler", "Entartete" und "Karrieristen" boten den Säuberungskommissionen reichlich Handhabe, gegen unliebsame und kritische Parteimitglieder vorzugehen.

Im Parteiaufbau gab es insofern Neuerungen, als nun neben dem Territorialprinzip auch das Produktionsprinzip eingeführt wurde, d.h., daß die Parteiorganisation einerseits an die staatliche Verwaltungsstruktur angepaßt war, andererseits aber auch an die Struktur volkswirtschaftlicher Sektoren. Organisatorisch fand das seinen Niederschlag in der Umgliederung der Parteiapparate auf allen Ebenen, der nun nicht mehr funktional gegliedert wurde (Organisation, Kaderverteilung, Agitation und Propaganda etc.), sondern dem Produktionszweigprinzip folgte. Es gab nun Departments für Landwirtschaft, Industrie und Verkehr, Verwaltung und Handel, Kultur und Propaganda des Leninismus und für leitende Parteiorgane. Jede dieser Abteilungen war in ihrem Produktionszweig für alle Aufgaben zuständig: für die Organisationsarbeit, die Verteilung und Ausbildung der Kader, die Agitations- und Massenarbeit und die Überwachung der Durchführung der Parteibeschlüsse. Auch in dieser Umgliederung zeigte sich die Ausrichtung der Partei auf den Produktionserfolg. Mit dieser Produktionsorientierung stand auch eine weitere Neuerung im Zusammenhang, die "Politischen Abteilungen", die das CK in Bereichen schaffen konnte, die ökonomisch oder politisch "zurückgeblieben" waren, und die direkt dem CK unterstanden. Solche Politabteilungen wurden im Agrarbereich und im Verkehrswesen geschaffen und verliehen der Zentrale die Möglichkeit, direkt in Prozesse an der Basis einzugreifen.

Hans-Henning Schröder