Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, 6. (19.) Januar 1918
Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung.
Die Russische Revolution hat von ihrem Anbeginn an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten als Massenorganisation aller werktätigen und ausgebeuteten Klassen geschaffen, als die Organisation, die allein imstande ist, den Kampf dieser Klassen für ihre völlige politische und wirtschaftliche Befreiung zu leiten.
Im Laufe der ganzen ersten Periode der Russischen Revolution mehrten sich die Sowjets, wuchsen und erstarkten, überwanden auf Grund der eigenen Erfahrungen die Illusionen des Paktierens mit der Bourgeoisie, erkannten, daß die Formen des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus trügerisch sind, und zogen praktisch die Schlußfolgerung, daß die Befreiung der unterdrückten Klassen unmöglich ist ohne den Bruch mit diesen Formen und mit allen Kompromissen. Ein solcher Bruch war die Oktoberrevolution, die die ganze Macht in die Hände der Sowjets legte.
Die Konstituierende Versammlung, gewählt auf Grund von Kandidatenlisten, die vor der Oktoberrevolution aufgestellt worden waren, brachte das alte politische Kräfteverhältnis zum Ausdruck, aus einer Zeit, als die Kompromißler und die Kadetten an der Macht waren.
Das Volk konnte damals, als es für die Kandidaten der Partei der Sozialrevolutionäre stimmte, nicht zwischen den Rechten Sozialrevolutionären, den Anhängern der Bourgeoisie, und den Linken Sozialrevolutionären, den Anhängern des Sozialismus, seine Wahl treffen. So kam es, daß diese Konstituierende Versammlung, die die Krönung der bürgerlichen parlamentarischen Republik sein sollte, sich der Oktoberrevolution und der Sowjetmacht unvermeidlich in den Weg stellen mußte. Die Oktoberrevolution rief dadurch, daß sie den Sowjets und durch die Sowjets den werktätigen und ausgebeuteten Klassen die Macht gab, den verzweifelten Widerstand der Ausbeuter hervor und erwies sich bei der Unterdrückung dieses Widerstandes vollauf als Beginn der sozialistischen Revolution.
Die werktätigen Klassen mußten sich auf Grund der eigenen Erfahrung davon überzeugen, daß sich der alte bürgerliche Parlamentarismus überlebt hat, daß er mit den Aufgaben der Verwirklichung des Sozialismus absolut unvereinbar ist, daß nicht gesamtnationale, sondern nur Klasseninstitutionen (wie es die Sowjets sind) imstande sind, den Widerstand der besitzenden Klassen zu brechen und das Fundament der sozialistischen Gesellschaft zu legen.
Jeder Verzicht auf die uneingeschränkte Macht der Sowjets, auf die vom Volke eroberte Sowjetrepublik zugunsten des bürgerlichen Parlamentarismus und der Konstituierenden Versammlung wäre jetzt ein Schritt rückwärts, würde den Zusammenbruch der ganzen Oktoberrevolution der Arbeiter und Bauern bedeuten.
Die am 5. Januar zusammengetretene Konstituierende Versammlung brachte aus den obenerwähnten Gründen der Partei der Rechten Sozialrevolutionäre, der Partei Kerenskijs, Avksent'evs und Černovs, die Mehrheit. Natürlich hat diese Partei es abgelehnt, den absolut genauen, klaren, jedes Drumherumreden ausschließenden Antrag des Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets, des obersten Organs der Sowjetmacht, zu beraten, der forderte, das Programm der Sowjetmacht, die Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, die Oktoberrevolution und die Sowjetmacht anzuerkennen. Damit hat die Konstituierende Versammlung alle Bande zwischen sich und der Sowjetrepublik Rußland zerrissen. Es war daher unvermeidlich, daß die Fraktion der Bolschewiki und die der Linken Sozialrevolutionäre, die jetzt offenkundig die ungeheure Mehrheit in den Sowjets bilden und das Vertrauen der Arbeiter und der Mehrheit der Bauern genießen, diese Konstituierende Versammlung verließen.
Und außerhalb der Konstituierenden Versammlung führen die Parteien, die die Mehrheit in der Konstituante bilden, die Rechten Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, den offenen Kampf gegen die Sowjetmacht, fordern in eigenen Presseorganen zu ihrem Sturz auf, und unterstützen dadurch objektiv den Widerstand der Ausbeuter gegen die Übergabe des Bodens und der Fabriken in die Hände der Werktätigen.
Es ist klar, daß der übriggebliebene Teil der Konstituierenden Versammlung infolgedessen nur die Rolle einer Kulisse spielen könnte, hinter der der Kampf der Konterrevolutionäre für den Sturz der Sowjetmacht vor sich gehen würde.
Deshalb beschließt das Zentrale Exekutivkomitee:
Die Konstituierende Versammlung wird aufgelöst.
Rev. Übersetzung hier nach: Altrichter, H. (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, München 1985, S. 29-31.