Stalin, I.V., Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler. Referat und Schlußwort auf dem Plenum des CK der VKP(b), 3. und 5. März 1937

Einführung

Im unmittelbaren Vorfeld des GlossarCK-Plenums von 1937 erreichten die verdeckten Gegensätze in der GlossarVKP(b), die zum Terror führten, ihren Höhepunkt. GlossarStalin und die politische Führungsgruppe um ihn waren damit unzufrieden, daß die Parteistrukturen de facto durch bürokratische Clans der einzelnen Branchen und Regionen kontrolliert wurden; daß die alten GlossarBolschewiki über großen Einfluß in der Partei verfügten und bei Gelegenheit ihre Stimme auch gegen Stalin erheben konnten. Sogar die Meinung derjenigen unter ihnen, die wie GlossarBucharin und GlossarRykov als Mitglieder der Opposition offiziell bereits verurteilt worden waren, fand weiterhin erhebliche Beachtung.

Nachdem Stalin die Glossarlinke Opposition mit dem Mord an GlossarKirov belastet, GlossarZinov'ev, GlossarKamenev und eine Reihe angesehener GlossarTrotzkisten vernichtet und nach der Ablösung GlossarGenrich Jagodas durch GlossarNikolaj Ežov unmittelbare Kontrolle über das GlossarNKVD gewonnen hatte, bereitete er unter dem Vorwand, auf diese Weise die getarnten Trotzkisten und "Doppelzüngler" zu verfolgen, eine Offensive gegen die einflußreichen Parteiclans vor.

Anfang des Jahres 1937 entfaltete Stalin den Kampf gegen jene "Immunität" der höchsten Parteifunktionäre (und sogar des NKVD), über die der Historiker O. Chlevnjuk bemerkte: "Zu Beginn der 1930er Jahre hielt jedes Mitglied des GlossarPolitbüros sein Recht für unantastbar, seine Untergebenen zu bestrafen oder zu begnadigen, und reagierte äußerst empfindlich auf Versuche von Kontrolleuren und Inspektoren aller Art, in den eigenen Amtsbereich einzugreifen." Diese "Immunität" der Partei- und Wirtschaftsclans widersprach Stalins Vorstellung einer monolithisch aufgebauten Partei. In der Zeit der Fraktionskämpfe und des "Sturm und Dranges" des ersten GlossarFünfjahresplanes zog er es vor, sich auf die "Barone der Bürokratie" zu stützen und respektierte ihr Recht, über das Schicksal ihrer "Vasallen" zu entscheiden. Als Stalin seine "Antiterroraktion" startete, verletzte er dieses "feudale Immunitätsrecht". Gleichzeitig beruhigte er die Parteiclans und sicherte ihnen zu, ihre Interessen blieben vom Kampf gegen den Terror unbetroffen, die Restriktionen würden den gesetzten Rahmen der Verfolgungen von tatsächlichen Feinden nicht verlassen. Unter dem Druck des NKBD gestanden die verhafteten "Feinde des Volkes" jedoch immer weitere "terroristische Verbindungen" innerhalb der Bürokratie, so daß die Partei- und Wirtschaftsbosse gezwungen waren, ihre Mitarbeiter zur Bestrafung auszuliefern.

Aus der Sicht der "gemäßigten Kommunisten" war die Fortsetzung der Repressionen unzweckmäßig, da die Personen, die "terroristischer Absichten" überführt waren, inzwischen bereits vollständig isoliert oder erschossen waren. Für die politische Führungsgruppe um Stalin aber stellte das erneute "Aufrollen" des Falles der Ermordung Kirovs die einzige Möglichkeit dar, die bekannten und unbekannten Gegner zu vernichten. Jetzt wurden Mitarbeiter verhaftet, die nicht zur Opposition gehörten, doch größere Loyalität gegenüber ihrem "Suzeränen", ihrem unmittelbaren Vorgesetzten zeigten, als gegenüber Stalin.

Die Verteidigung der Untergebenen, die vom NKVD des Glossar"Trotzkismus" bezichtigt wurden, konnte einem Vorgesetzten teuer zu stehen kommen. In der ersten Jahreshälfte 1937 war Stalin zwar noch nicht soweit, mit dem Feldzug gegen Führungskader zu beginnen; doch er schlug bereits Breschen in die Clanfestungen, prüfte seine "Parteigeneräle" auf Loyalität und Widerstandshaltung. Am 2. Januar 1937 warf ein Beschluß des CK der VKP(b) dem Ersten Sekretär des Gaukomitees Azovo-Černomorskij GlossarŠeboldaev – in erster Linie wegen seiner "politischen Kurzsichtigkeit" hinsichtlich der "Schädlinge" – "unbefriedigende Führung des Kreiskomitees" vor. Am 13. Januar 1937 wurde der Erste Sekretär des Kiever Gebietskomitees GlossarPostyšev mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert. Offensichtlich ist, daß solche Maßnahmen Stalins auf Unmut stießen, der jeden Augenblick in Gegenmaßnahmen umschlagen konnte. Für einen Coup d'etat war das System der absoluten Macht ideal geeignet – es hätte ausgereicht, den Diktator und die schmale Führungsschicht um ihn herum abzusetzen, um den politischen Kurs des Staates zu verändern.

Als Führer der "Gemäßigten" fungierte 1936/1937 der GlossarVolkskommissar für die Schwerindustrie GlossarSergo Ordžonikidze, der hohe Autorität innerhalb der Parteielite genoß. Ordžonikidze gefährdete Stalins Pläne, da er ein schwaches Glied in seiner Politik fand. Der Volkskommissar, der sich für die Rehabilitierung der bereits verhafteten Betriebsdirektoren seiner Branche einsetzte, glaubte an eine massenhafte "Schädlingsarbeit" unter den Partei- und Wirtschaftsfunktionären nicht. "Welche Saboteure!" sagte er. "In den 19 Jahren der Sowjetmacht haben wir mehr als 100 000 Ingenieure ausgebildet und genauso viele Techniker. Wenn sie alle sowie die alten Ingenieure, die wir umerzogen haben, 1936 zu Saboteuren wurden, so können Sie sich selbst zu einem solchen Erfolg gratulieren. Welche Saboteure! Nicht Saboteure, sondern gute Menschen – unsere Söhne, Brüder, unsere Genossen, die ganz und gar für die Sowjetmacht sind", erklärte Ordžonikidze und erhielt dafür "stürmischen und lang anhaltenden Beifall". Obwohl sein Stellvertreter Glossar Pjatakov verhaftet, im Januar 1937 in einem GlossarSchauprozeß zusammen mit anderen Mitangeklagten verurteilt und erschossen wurde, zweifelte Ordžonikidze weiterhin an ihrer Schuld. Er sammelte Dokumente zu den "Diversionsakten", mit denen das NKVD Pjatakov und andere belastet hatte und die den Anlaß für ihre Verhaftung geliefert hatten, sowie Beweise dafür, um diesen Schauprozeß – und auch andere Fälle von "Terrorismus" und "Schädlingsarbeit" – als Falsifikate bloßzustellen. Ordžonikidze versuchte dabei, so ist bei O. Chlevnjuk zu lesen, "das Recht des GlossarVolkskommissariats für Schwerindustrie auf eigenständige Prüfung der Unterlagen des NKVD" in Anspruch zu nehmen und zu legitimieren. Doch die "Gerichtsfälle", die das NKVD 1936-1937 fabrizierte, hätten im Unterschied zu den Fällen aus der Zeit der Kämpfe gegen die linke und die Glossarrechte Opposition keiner objektiven Prüfung standgehalten. Diese von Ordžonikidze gesammelten Dokumente hätten zur Entlarvung Ežovs auf dem nächsten Plenum des CK im Februar 1937 verwendet werden können, was gestattet hätte, die ganze "Antiterrorstrategie" Stalins zu kippen, die in Wirklichkeit eine Terrorstrategie gegen die Parteielite war. Die Beseitigung des Volkskommissars für Schwerindustrie wurde für Stalin zur Notwendigkeit.

Am 19. Februar 1937, d.h. am Vorabend des Plenums, erschoß sich Ordžonikidze. Für die Version, daß Ordžonikidze ermordet wurde, liegen bis heute keine ausreichenden Beweise vor. Doch sein Tod kam zu plötzlich. R. Conquest vertrat die Version, es handele sich dabei um einen Selbstmord, der unter dem Druck Stalins und in Anbetracht der Verhaftungsgefahr begangen wurde. Ordžonikidze war ein emotional unausgeglichener Mensch, der Abbruch der Beziehungen zu seinem alten Freund Stalin kam für ihn einer tiefen persönlichen Tragödie gleich, wie die begonnene Vernichtung der anderen alten Genossen auch. In der Tat fiel der tödliche Schuß nach einem Gespräch mit Stalin, bei dem es zum Teil laut zugegangen war. Durch seine Tat kurz vor Beginn des entscheidenden CK-Plenums desorganisierte Ordžonikidze aber den Widerstand der Partei gegen die "Antiterroroperation" Stalins.

Das Plenum des CK der VKP(b), das zwischen 23. Februar und 5. März 1937 stattfand, lieferte dem folgenden Massenterror die ideologische und politische Legitimation. Auf dieses Ziel waren auch das Referat und das Schlußwort Stalins zugeschnitten. Gestützt auf Ergebnisse der beiden ersten Schauprozesse – gegen Kamenev und Zinov'ev im August 1936 und gegen Pjatakov, GlossarSokolnikov, GlossarSerebrjakov und GlossarRadek im Januar 1937 –, zeichnete Stalin ein gigantisches Bild des "Terrorismus" und der "Schädlingsarbeit", die das ganze Land umfasse. Die "trotzkistischen Verschwörer" und "Schädlinge", "Agenten fremder Mächte" hätten sich in alle Wirtschaftszweige, sogar auf die Verantwortungspositionen eingeschlichen. Dabei hätten die bolschewistischen Führer eine erstaunliche "politische Sorglosigkeit" an den Tag gelegt, da sie das Treiben der "Verschwörer" nicht zur Kenntnis nahmen. Damit hätten diese Führer, so Stalin, sich selbst in Verruf gebracht: "Der Fehler unserer Parteigenossen besteht darin, daß sie diesen einschneidenden Unterschied zwischen dem Trotzkismus der Vergangenheit und dem Trotzkismus der Gegenwart nicht bemerkt haben. Sie haben nicht bemerkt, daß die Trotzkisten längst aufgehört haben, für eine Idee einzutreten, daß die Trotzkisten sich längst in Wegelagerer verwandelt haben, die zu jeder Abscheulichkeit, zu jeder Niedertracht fähig sind, bis zur Spionage und bis zum direkten Verrat an der eigenen Heimat, nur um den Sowjetstaat und die Sowjetmacht zu schädigen." Die Opposition wurde somit als die "Avantgarde des Weltkapitalismus" dargestellt, der in die sowjetische Gesellschaft, darunter in seine Führungselite eingedrungen war. Diese Avantgarde zu zerschlagen, den "Feind" überall zu entlarven – sogar wenn diese Menschen nur einen geringen Verdacht erwecken, sogar wenn es sich dabei um alte Bolschewiki handelte, die sich nie einer Opposition angeschlossen hatten – wurde für Stalin zur Voraussetzung des Sieges der Sowjetunion und des Kommunismus im Weltmaßstab. Die entscheidende Schlacht rückte dabei immer näher, denn mit den Erfolgen des Sozialismus werde der Klassenkampf nicht nachlassen, sondern sich verschärfen und auf andere Länder übergreifen: "Im Gegenteil, je weiter wir vorwärtsschreiten, je mehr Erfolge wir erzielen werden, um so größer wird die Wut der Überreste der zerschlagenen Ausbeuterklassen werden, um so eher werden sie zu schärferen Kampfformen übergehen, um so mehr Niederträchtigkeiten werden sie gegen den Sowjetstaat begehen, um so mehr werden sie zu den verzweifeltsten Kampfmitteln greifen, als den letzten Mitteln zum Untergang Verurteilter. [...] Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß die Sphäre des Klassenkampfes sich auf das Gebiet der UdSSR beschränke." Stalin widersetzte sich dem Prozeß der Gruppenbildung in der Struktur der VKP(b): "[Einige Genossen,] als sie sich persönlich ergebene Leute als Mitarbeiter heranholten, [wollten] offenbar ein Milieu schaffen, das ihnen eine gewisse Unabhängigkeit sowohl gegenüber den örtlichen Funktionären als auch gegenüber dem CK der Partei sichern sollte."

Gegen die Sabotage der Tätigkeit des NKVD durch die lokalen Clans richtete sich die Rede Ežovs auf dem Plenum: "Ich muß sagen, daß ich keinen Fall kenne, daß jemand aus eigener Initiative angerufen und gesagt hätte: 'Genosse Ežov, dieser Mensch ist irgendwie verdächtig, irgendwas ist beim ihm nicht in Ordnung, nehmen Sie sich dieses Menschen an'. Meist ist es so, daß wenn es darum geht, sie zu verhaften, diese Personen in Schutz genommen werden."

Wie Stalin prangerte auch GlossarVorošilov die "politische Sorglosigkeit" einiger Partei- und Staatsfunktionäre an und wurde dabei von GlossarMolotov unterstützt, der auf die Notwendigkeit einer weiteren Überprüfung der Armeewirtschaft hinwies: "Wenn wir in allen Zweigen der Wirtschaft Schädlinge haben, können wir uns denn vorstellen, daß es nur hier keine Schädlinge gibt? .... Bei uns [...] wurden zum Glück wenige Schädlinge in der Armee entlarvt. [...] Wir müssen aber auch in Zukunft die Armee überprüfen."

Das Plenum äußerte seine Zustimmung zu Stalins Rede und gab der "Liquidierung von Trotzkisten und anderer Doppelzünglern" seinen Segen. Viele Mitglieder des CK hatten allen Grund zur Befürchtung, daß sie ebenfalls zu "Doppelzünglern" abgestempelt werden könnten. Eines der wichtigsten Ergebnisse des Plenums war die Annahme der Erklärung, in der die CK-Mitglieder ihr Einverständnis mit der Verhaftung Bucharins und Rykov zum Ausdruck brachten. Obwohl Bucharin versuchte, Stalin davon zu überzeugen, daß er keinerlei Machtansprüche erhob, schenkte man ihm kein Vertrauen. Unter allen Teilnehmern des Plenums wagte nur GlossarN. Osinskij, den Angegriffenen vorsichtig zu verteidigen. Andere Anwesende demonstrierten Stalin ihre Loyalität, die sich in verbalen Überfällen auf die Rechten äußerte. Sie verfolgten Bucharin in der Hoffnung, zuminderst jetzt einen "Espenpfeil in das Leib der Opposition zu jagen" und somit den Repressionen ein Ende zu setzen. Bei der Diskussion der Resolution zu Bucharin schlug Ežov vor, die Betroffenen mit der Höchststrafe zu bedenken. Doch Stalin kam es darauf an, die heimlichen Anhänger der Rechten nicht aufzuscheuchen, so daß man den Beschluß faßte, den Fall Bucharin statt vor Gericht zu bringen, zunächst an das NKVD zur Aufklärung weiterzuleiten. Stalin gab vor, er sei an einer objektiven Untersuchung im Fall der Rechten interessiert. Unter dem Eindruck seiner als Beschwichtigung wirkenden Reden stimmte das Plenum der Verhaftung von Bucharin und Rykov zu.

Keiner der Anwesenden wagte, sich gegen den Terror als Mittel der Politik direkt auszusprechen. Nachdem Ordžonikidze aus dem Leben geschieden war, hatte die Opposition keinen Führer mit Autorität mehr. Um gegen Stalin und Ežov auf dem Plenum offen aufzutreten, war es nötig, sich zuerst die Unterstützung der Mehrheit im Zentralkomitee zu sichern (was – auch allerdings für Ordžonikidze – in Anbetracht der Bespitzelung durch das NKVD so gut wie unmöglich war). Andersfalls hätte jeder Auftritt zur sofortigen Verhaftung führen können, was mit dem GlossarVolkskommissar für Gesundheitswesen GlossarG. Kaminskij und dem Mitglied des GlossarExekutivkomitees der Komitern GlossarI. Pjatnickij auf dem Juni-Plenum 1937 tatsächlich bereits geschehen war. Deshalb hätten die Gegner einer breiten Entfaltung des Terrors nur im verborgenen handeln können und dabei versuchen müssen, sich die Unterstützung der Armee und eines Teiles der Mitarbeiter des NKVD zu sichern.

Stalin war sich dieser Gefahr bewußt. Der GlossarGroße Terrorsetzte im Frühjahr 1937 mit den GlossarSäuberungen in den staatlichen Gewaltstrukturen, des NKVD und der Armee ein; erst später ging er in eine systematische Vernichtung der Parteieliten und anderer "unzuverlässiger" Bevölkerungsgruppen über.

Aleksandr Šubin

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)