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Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung
6. Januar 1918 JL

Das Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung vom 6. (19.) Januar 1918 ist eines der Schlüsseldokumente in der Geschichte der Russischen Revolution. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gehörte die Forderung nach einer Konstituierenden Versammlung, einem von der Mehrheit der Bevölkerung in freien, allgemeinen und gleichen Wahlen gewählten allrussländischen Parlament, zu den Programmpunkten der meisten politischen Parteien und Bewegungen Russlands. Die Konstituante wurde im November 1917 gewählt, am 5. (18.) Januar 1918 einberufen und am nächsten tag durch Organe der sowjetischen Macht aufgelöst. Mit der Auflösung der Konstituante verlor Russland das Instrument des gewaltfreien politischen und sozialen Interessenausgleichs, die Gegensätze in Staat und Gesellschaft verschärften sich. Im Mai/Juni 1918 brach in Russland ein allgemeiner Bürgerkrieg aus.

von: Aleksandr Šubin, 2011 (aktualisiert 2024)


Nach der Februarrevolution 1917 vertraten die wichtigsten politischen Parteien Russlands – die Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), die Sozialrevolutionäre und die Sozialdemokraten ( Menschewiki) – die Auffassung, dass die wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen (Verabschiedung der Verfassung, Lösung der Agrarfrage, Beendigung des Krieges usw.) von einer Konstituierenden Versammlung (Konstituante) gelöst werden sollten, die von der Bevölkerung in freien Wahlen bestimmte werden sollte. Damit war die Hoffnung auf gesellschaftlichen Ausgleich und einen friedlichen Verlauf der Revolution verbunden. Eine andere Position vertraten die Bolschewiki. Aus Lenins im Frühjahr 1917 verfassten „Aprilthesen“ ging hervor, dass ihr Idealstaat ein „Rätestaat“, ein Staat der Sowjets sein sollte. Trotz der Uneinigkeit der politischen Lager begannen die Vorbereitungen für die Wahlen. Aufgrund der komplizierten innenpolitischen Lage verzögerten sich diese bis zum Spätherbst 1917.

Am Vorabend der Oktoberrevolution sprachen sich auch die Bolschewiki aus politisch-taktischen Gründen für eine rasche Durchführung der Wahlen und die Einberufung der Konstituante aus. Zwar hatten sie nach dem Sturz der Provisorischen Regierung eine eigene Regierung, den Rat der Volkskommissare (SNK), gebildet, diese aber zum Provisorium erklärt, das seine Befugnisse nach der Wahl der Konstituante an diese abgeben sollte.

Dennoch führten die Bolschewiki und die sie unterstützenden Linken Sozialrevolutionäre unmittelbar nach dem Oktober eine Reihe grundlegender Maßnahmen zur Festigung ihrer Macht und zur Schaffung einer neuen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung durch. So wurde der Grundbesitz der Zarenfamilie, des Adels, der Kirche und der Klöster konfisziert und den Bauern übergeben, das Bankwesen verstaatlicht, die Arbeiterkontrolle in den Betrieben eingeführt und die Arbeitskollektive mit weitreichenden Verwaltungsbefugnissen ausgestattet. Auf lokaler Ebene ging die Macht an die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte über. Die neuen Machthaber schlossen einen Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich und nahmen Separatfriedensverhandlungen in Brest-Litovsk auf. Lenin und seine Mitstreiter hofften, dass diese entschlossenen Maßnahmen den Bolschewiki genügend Möglichkeiten für einen Wahlsieg geben würden und dass die Konstituierende Versammlung der Machtübergabe an die Sowjets und ihre Organe zustimmen würde.

Die Positionen der anderen politischen Parteien, die sich in ihren Wahlprogrammen niederschlugen, widersprachen der Plattform der Bolschewiki. Sowohl die Sozialrevolutionäre als auch die Menschewiki sprachen sich dafür aus, statt Separatfriedensverhandlungen mit Deutschland die Alliierten in die Verhandlungen einzubeziehen. Beide Parteien hielten die Sowjets als Staatsform für inakzeptabel und plädierten für eine föderative parlamentarische Republik auf der Grundlage von demokratischem Zentralismus und Selbstverwaltung. Auch in der Agrarfrage unterschied sich ihr Programm von dem der Bolschewiki: Statt einer Verstaatlichung des Bodens sahen die Sozialrevolutionäre dessen Vergesellschaftung und Verteilung unter den Bauern nach gesetzlich festgelegten Normen vor.

Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung am 12. (25.) November 1917 verliefen für die Bolschewiki enttäuschend. In den beiden Hauptstädten und anderen großen Städten erreichten sie den ersten Platz, aber die die Kadetten (Liberale und Gegner der Sowjets) kamen auf den zweiten Platz. Ihre Position nach der Gesamtzahl der Stimmen war noch schlechter. Die Bolschewiki erhielten nur 22,5 % der Stimmen, die anderen sozialistischen Parteien 57,2 %. Der größte Anteil entfiel auf die Sozialrevolutionäre, die einschließlich der ukrainischen Sozialrevolutionäre 50,5 % erreichten. Die Linken Sozialrevolutionäre (PLSR), die auf den Listen der Partei der Sozialrevolutionäre kandidierten, sich aber als eigenständige Partei abspalteten und die Bolschewiki unterstützten, erhielten nur 40 Mandate, d.h. 5 %.[1] Insgesamt wurden 767 Abgeordnete gewählt, davon 180 Bolschewiki, 347 Sozialrevolutionäre, 81 ukrainische Sozialrevolutionäre, 16 Menschewiki, 11 ukrainische Sozialdemokraten, 4 Volkssozialisten, 18 nationale Sozialisten, 15 Kadetten, 16 Kosaken, 62 Muslime, 16 Vertreter nationaler Listen und ein Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche. Zusammen mit den nationalen Parteien wurden 450 Sozialrevolutionäre in die Konstituierende Versammlung gewählt,[2] was der absoluten Mehrheit entsprach.

So zeigten die Wahlen mit aller Deutlichkeit, dass nicht die Bolschewiki, sondern die gemäßigten Sozialisten die Mehrheit in der Konstituierenden Versammlung stellen würden. Der Sieg der Sozialrevolutionäre stellte sowohl die Legitimität der politischen Macht der Bolschewiki als auch die Verwirklichung ihres politischen Kurses in Frage.

Die Bolschewiki beschlossen, ihre Diktatur gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung zu verteidigen. Hatten sie bereits in den ersten Wochen nach der Oktoberrevolution die Führer der Kadetten zu „Volksfeinden“ erklärt und verhaftet, so ließen sie nach Ablauf des offiziellen Wahltermins die Abgeordneten der Konstituierenden Versammlung verfolgen. Nach einer Massenkundgebung am 28. November (11. Dezember) 1917, die der Bund zur Verteidigung der Konstituierenden Versammlung organisiert hatte, erließ der Rat der Volkskommissare sofort ein Dekret über die Verhaftung der Führer des Bürgerkriegs, das sich gegen die Kadetten richtete. Auch Abgeordnete anderer Parteien wurden verhaftet, darunter die Sozialrevolutionäre N. Avksent'ev und A. Gukovskij (sie mussten auf Druck der Sozialrevolutionäre wieder freigelassen werden). Am 10. Dezember wurde eine Demonstration zur Unterstützung der Konstituante in Kaluga zusammengeschossen. Das war erst der Anfang. Nach dem Attentat auf Lenin um Neujahr wurden die sozialrevolutionären Abgeordneten P. Sorokin, A. Argunov und A. Gukovskij verhaftet und die Redaktion der sozialrevolutionären Zeitung „Volja naroda“ verwüstet.

Am 5. (18.) und 6. (19.) Januar 1918 kam es zu einem entscheidenden Zusammenstoß zwischen den Anhängern der Konstituierenden Versammlung und ihren Gegnern.

Am 5. (18.) Januar 1918 wurde im Taurischen Palais die erste Sitzung der Versammlung eröffnet. Zu Beginn waren 410 der insgesamt 767 Abgeordneten anwesend. 240 Abgeordnete vertraten die Partei der Sozialrevolutionäre, 110-120 die Bolschewiki, 30-35 die Linken Sozialrevolutionäre.[3] Von den großen Parteien fehlten nur die Kadetten. Trotzdem war die Versammlung beschlussfähig. Die Atmosphäre in der Versammlung (und um sie herum) war gespannt. Eine von Arbeitern und Vertretern der Intelligencija organisierte Demonstration ihrer Sympathisanten am 5. Januar war von der bolschewistischen Roten Garde blutig niedergeschlagen worden; 12 Menschen starben.[4] Die Sozialrevolutionäre versuchten zwar, eine bewaffnete Truppe zur Verteidigung der Konstituante zu organisieren, aber ihre Vorbereitungen wurden von den Bolschewiki paralysiert. Trotz der neutralen Haltung vieler Militäreinheiten lag das militärische Übergewicht auf Seiten der Bolschewiki.

Die Gegensätze zwischen den Bolschewiki und ihren politischen Gegnern waren so tief, dass von Anfang an wenig Hoffnung auf einen Kompromiss bestand. Die Wahl des Sitzungsleiters wurde zum Konfliktpunkt. Obwohl die Bolschewiki die Kandidatur der Linken Sozialrevolutionärin Marija Spiridonova vorgeschlagen hatten, wählte die Versammlung einen der Vorsitzenden der Partei der Sozialrevolutionäre, Viktor Černov, in dieses Amt. Černov, der Vertreter der Menschewiki Iraklij Cereteli, der Vertreter der Bolschewiki Nikolaj Bucharin und andere hielten konzeptionelle Reden. Zum endgültigen Bruch zwischen Befürwortern und Gegnern der Sowjetmacht kam es, als die Mehrheit der Versammlung die „ Deklaration des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ ablehnte. In dem vom bolschewistischen Abgeordneten Jakov Sverdlov verlesenen Deklarationsentwurf hieß es: „Die Konstituierende Versammlung unterstützt die Sowjetmacht und die Dekrete des Rates der Volkskommissare und vertritt die Ansicht, dass ihre Aufgabe sich darin erschöpft, die Grundsätze für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft.“[5]

Im Grunde wäre es eine bedingungslose Kapitulation gewesen, die die Versammlung zu einem Deckmantel der bolschewistischen Diktatur gemacht hätte, wie es bei den Sowjets der Fall war. Die Deklaration enthielt auch Forderungen nach Einführung der Arbeiterkontrolle in der Industrie, Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden, Verstaatlichung der Banken, Einstellung der Kriegshandlungen. Die Versammlung lehnte es ab, eine solche Deklaration zu diskutieren. Für die bolschewistische Führung war klar, dass ihr politischer Kurs im Parlament keine Unterstützung finden würde. Die Bolschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre verließen daraufhin das Parlament, womit es das Quorum verlor.

Die Lage spitzte sich zu. Nach Beratungen mit den Linken Sozialrevolutionären beschloss die bolschewistische Führung, die Konstituante aufzulösen. Die Erklärung, dass die Wachen müde seien, die der Anarchist A. Železnjakov, Chef der Wache im Taurischen Palais, auf Anweisung des Rates der Volkskommissare den Abgeordneten gab, war der erste Versuch, die Versammlung zu schließen. Er hatte jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Die Abgeordneten setzten ihre Arbeit fort. In der verbleibenden Zeit verabschiedeten sie die ersten Punkte des „Grundgesetzes über den Boden“, die „Verordnung über den Staatsaufbau“ und die „Deklaration über den Frieden“.

Alle drei Dokumente griffen Punkte aus den Wahlprogrammen der nichtbolschewistischen Parteien der Versammlung, insbesondere der Sozialrevolutionäre, auf. So erklärte das Dekret über den Staatsaufbau Russland zur Russländischen Demokratischen Föderativen Republik, wobei der letzte Punkt die Achtung der Rechte der nationalen Minderheiten versprach. Das Grundprinzip des Staatsaufbaus sollte die Selbstverwaltung werden. Damit wurde die Schaffung einer konstitutionellen parlamentarischen Demokratie zum erklärten Ziel der nichtbolschewistischen Parteien, obwohl die Verordnung auch die im Kern sozialistische Forderung nach Abschaffung der Klassengesellschaft enthielt.[6] Das Grundgesetz über den Boden sah einen ausgleichenden Grundbesitz, die Liquidierung des Eigentums an Grund und Boden und seine Übergabe an die örtlichen Selbstverwaltungsorgane vor. Die Deklaration über den Frieden verurteilte separate Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich, da sie zur außenpolitischen Isolierung Russlands führen würden, und forderte den Abschluss eines allgemeinen demokratischen Friedens unter Berücksichtigung der Interessen der Alliierten.[7]

Die Versammlung diskutierte auch über neue Grundsätze der Wirtschaftsorganisation, auch wenn ein entsprechendes Gesetz nicht mehr verabschiedet wurde. Černov legte einen Entwurf vor, der die Sozialisierung der Betriebe – d.h. ihre Übergabe an die Gewerkschaften, die Entwicklung der Industrie auf gemeinschaftlicher Grundlage und ihre Selbstverwaltung –, die Einführung des Achtstundentages, ein umfassendes Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und anderes mehr vorsah. Der Menschewik Cereteli schlug ergänzend die Einführung einer Sozialversicherung vor. Außerdem sollten ein festes Preissystem, ein Staatsmonopol für Industrieprodukte und ein strenges Besteuerungssystem für die wohlhabenden Bevölkerungsschichten eingeführt werden.[8]

Am 6. (19.) Januar 1918 wurde die Konstituierende Versammlung durch das vorliegende Dekret des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees (VCIK) endgültig aufgelöst. Die Umsetzung des Dekrets war jedoch zeitweise gefährdet. Bereits am 5. Januar hatten die Arbeiter der Hauptstadt aus Empörung über die blutige Niederschlagung der Demonstration zur Unterstützung der Konstituante einen Streik begonnen, der schließlich 50 Betriebe erfasste. Nach der Auflösung des Parlaments schlugen die Arbeiter den Abgeordneten vor, in den Hallen der Semjannikovskij-Fabrik zu tagen. Die Mehrheit der sozialistischen Abgeordneten lehnte diesen Vorschlag ab.[9] Die Bolschewiki hatten gesiegt.

Nach der Auflösung der Konstituierenden Versammlung übernahm der III. Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der am 10. Januar eröffnet wurde, das Recht, die staatliche Struktur des Landes zu bestimmen. Am 12. Januar verabschiedete der Kongress die „Erklärung der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“, die zum provisorischen Verfassungsdokument der Sowjetrepublik wurde. Durch ein besonderes Dekret wurden alle Hinweise auf die Konstituierende Versammlung aus dieser Erklärung und aus anderen Akten der Sowjetmacht entfernt. Am 13. Januar vereinigte sich der Arbeiter- und Soldatenkongress mit dem III. gesamtrussischen Kongress der Sowjets der Bauerndeputierten. Der Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Rotarmisten-, Bauern- und Kosakendeputierten wurde zum höchsten Machtorgan Sowjetrusslands.

Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Kadetten verurteilten die Auflösung der Konstituante als Akt bolschewistischer Willkür und begannen, sich auf den bewaffneten Widerstand gegen die neuen Machthaber vorzubereiten. Im Mai-Juni 1918 brach in Russland ein umfassender Bürgerkrieg aus.


Text: CC BY-SA 4.0

  1. Lev G. Protasov, Vserossijskoe učreditelʹnoe sobranie: istoria roždeniâ i gibeli. ROSSPĖN, Moskva 1997, S. 164-167.
  2. Ebd., S. 299–300.
  3. Helmut Altrichter, Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst. Schöningh, Paderborn 1997, S. 248.
  4. Protasov, op. cit., S. 306.
  5. Tat’jana E. Novickaja (Hrsg.), Učreditel’noe sobranie. Rossija 1918 g. Stenogrammy i dokumenty. Nedra, Moskva 1991, S. 69.
  6. Altrichter, op. cit., S. 250.
  7. Ebd., S. 249-250.
  8. Ebd., S. 250-251.
  9. Viktor M. Černov, Pered burej. Meždunarodnye otnošenija, Moskva 1993, S. 359-360.


Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung

Die Russische Revolution hat von ihrem Anbeginn an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten als Massenorganisation aller werktätigen und ausgebeuteten Klassen geschaffen, als die Organisation, die allein imstande ist, den Kampf dieser Klassen für ihre völlige politische und wirtschaftliche Befreiung zu leiten.

Im Laufe der ganzen ersten Periode der Russischen Revolution mehrten sich die Sowjets, wuchsen und erstarkten, überwanden auf Grund der eigenen Erfahrungen die Illusionen des Paktierens mit der Bourgeoisie, erkannten, dass die Formen des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus trügerisch sind, und zogen praktisch die Schlussfolgerung, dass die Befreiung der unterdrückten Klassen unmöglich ist ohne den Bruch mit diesen Formen und mit allen Kompromissen. Ein solcher Bruch war die Oktoberrevolution, die die ganze Macht in die Hände der Sowjets legte.

Die Konstituierende Versammlung, gewählt auf Grund von Kandidatenlisten, die vor der Oktoberrevolution aufgestellt worden waren, brachte das alte politische Kräfteverhältnis zum Ausdruck, aus einer Zeit, als die Kompromissler und die Kadetten an der Macht waren.

Das Volk konnte damals, als es für die Kandidaten der Partei der Sozialrevolutionäre stimmte, nicht zwischen den Rechten Sozialrevolutionären, den Anhängern der Bourgeoisie, und den Linken Sozialrevolutionären, den Anhängern des Sozialismus, seine Wahl treffen. So kam es, dass diese Konstituierende Versammlung, die die Krönung der bürgerlichen parlamentarischen Republik sein sollte, sich der Oktoberrevolution und der Sowjetmacht unvermeidlich in den Weg stellen musste. Die Oktoberrevolution rief dadurch, dass sie den Sowjets und durch die Sowjets den werktätigen und ausgebeuteten Klassen die Macht gab, den verzweifelten Widerstand der Ausbeuter hervor und erwies sich bei der Unterdrückung dieses Widerstandes vollauf als Beginn der sozialistischen Revolution.

Die werktätigen Klassen mussten sich auf Grund der eigenen Erfahrung davon überzeugen, dass sich der alte bürgerliche Parlamentarismus überlebt hat, dass er mit den Aufgaben der Verwirklichung des Sozialismus absolut unvereinbar ist, dass nicht gesamtnationale, sondern nur Klasseninstitutionen (wie es die Sowjets sind) imstande sind, den Widerstand der besitzenden Klassen zu brechen und das Fundament der sozialistischen Gesellschaft zu legen.

Jeder Verzicht auf die uneingeschränkte Macht der Sowjets, auf die vom Volke eroberte Sowjetrepublik zugunsten des bürgerlichen Parlamentarismus und der Konstituierenden Versammlung wäre jetzt ein Schritt rückwärts, würde den Zusammenbruch der ganzen Oktoberrevolution der Arbeiter und Bauern bedeuten.

Die am 5. Januar zusammengetretene Konstituierende Versammlung brachte aus den obenerwähnten Gründen der Partei der Rechten Sozialrevolutionäre, der Partei Kerenskijs, Avksent'evs und Černovs, die Mehrheit. Natürlich hat diese Partei es abgelehnt, den absolut genauen, klaren, jedes Drumherumreden ausschließenden Antrag des Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets, des obersten Organs der Sowjetmacht, zu beraten, der forderte, das Programm der Sowjetmacht, die Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, die Oktoberrevolution und die Sowjetmacht anzuerkennen. Damit hat die Konstituierende Versammlung alle Bande zwischen sich und der Sowjetrepublik Russland zerrissen. Es war daher unvermeidlich, dass die Fraktion der Bolschewiki und die der Linken Sozialrevolutionäre, die jetzt offenkundig die ungeheure Mehrheit in den Sowjets bilden und das Vertrauen der Arbeiter und der Mehrheit der Bauern genießen, diese Konstituierende Versammlung verließen.

Und außerhalb der Konstituierenden Versammlung führen die Parteien, die die Mehrheit in der Konstituante bilden, die Rechten Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, den offenen Kampf gegen die Sowjetmacht, fordern in eigenen Presseorganen zu ihrem Sturz auf, und unterstützen dadurch objektiv den Widerstand der Ausbeuter gegen die Übergabe des Bodens und der Fabriken in die Hände der Werktätigen.

Es ist klar, dass der übriggebliebene Teil der Konstituierenden Versammlung infolgedessen nur die Rolle einer Kulisse spielen könnte, hinter der der Kampf der Konterrevolutionäre für den Sturz der Sowjetmacht vor sich gehen würde.

Deshalb beschließt das Zentrale Exekutivkomitee:

Die Konstituierende Versammlung wird aufgelöst.

Rev. Übersetzung hier nach: Altrichter, H. (Hrsg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, München 1985, S. 29-31.



RGASPI, f. 2, op. 1, d. 5115, l. 1-7. Entwurf. Manuskript V.I. Lenins. Gemeinfrei (amtliches Werk).

Helmut Altrichter, Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst. 2. Aufl., Schöningh, Paderborn 2017.

Edward Hallett Carr, Die Russische Revolution: Lenin und Stalin 1917–1929. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1980.

Viktor M. Černov, Pered burej [Vor dem Sturm]. Meždunarodnye otnošenija, Moskva 1993.

Tat’jana E. Novickaja (Hrsg.), Učreditel’noe sobranie. Rossija 1918 g. Stenogrammy i dokumenty [Die konstituierende Versammlung. Russland 1918. Stenogramme und Dokumente]. Nedra, Moskva 1991.

Richard Pipes, Die russische Revolution. Bd. 2: Die Macht der Bolschewiki. Rowohlt, Berlin 1992.

Lev G. Protasov, Vserossijskoe učreditelʹnoe sobranie: istoria roždeniâ i gibeli [Die allrussländische konstituierende Versammlung: Geschichte der Geburt und des Niedergangs]. ROSSPĖN, Moskva 1997.

Lev G. Protasov, Ljudi Učreditel’nogo sobranija. Portret v inter’ere epochi [Die Menschen der Konstituierenden Versammlung. Porträt im Innenleben der Epoche]. ROSSPĖN, Moskva 2008.

Oliver H. Radkey, The Election to the Russian Constituent Assembly of 1917. Harvard Univ. Press, Cambridge 1950.

Oliver H. Radkey, Russia Goes to the Polls: The Election to the All-Russian Constituent Assembly, 1917 (=Studies in Soviet History and Society). Cornell Univ. Press, Ithaca 1989.

Sokolov, Zaščita Vserossijskogo Učreditel’nogo sobranija [Verteidigung der Allrussischen Konstituierenden Versammlung]. In: G. V. Gessen (Hrsg.), Archiv russkoj revoljucii, t. XIII. Berlin 1924, S. 5–70, Online.

Aleksandr V. Šubin, Start strany sovetov: revoljucija: oktjabr’ 1917–mart 1918 [Beginn des Landes der Sowjets, Revolution: Oktober 1917–März 1918] (=Sovetskaja ėpocha). Piter Press, Sankt-Peterburg 2017.

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