Reichskanzler Bethmann Hollweg, Reichstagsrede [Friedensangebot], 12. Dezember 1916

Einleitung

Die Geheimhaltung im von Gerüchten aufgewühlten Berlin war geglückt. Als die Abgeordneten des deutschen Reichstages am 2. Dezember 1916 die Abstimmung über das Kriegsdiensthilfsgesetz hinter sich gebracht hatten, waren viele für die zu erwartende sitzungsfreie Zeit in ihre Heimatorte gefahren. Zu ihrem Erstaunen mußten sie am 12. Dezember erneut zu einer Sondersitzung anreisen. Überrascht waren auch die Fraktionsvorsitzenden der Parteien, deren Kriegszielpolitik Bethmann Hollweg bisher weitgehend unterstützt hatte. Graf Kuno v. Westarp von den Deutschkonservativen, Peter Spahn vom Zentrum, der Nationalliberale Albert Bassermann und Otto Wiemer von der Fortschrittlichen Volkspartei wurden am späten Abend des 11. Dezember in die Reichskanzlei bestellt. Als der Kanzler ihnen mitteilte, er werde mit einer Erklärung die Kriegsgegner zu Verhandlungen auffordern, erhoben sie Protest. Die Parteien seien nicht gefragt worden. Erst am nächsten Morgen, vor der Sitzung, erfuhren sie und auch die Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten, Philipp Scheidemann, und Hugo Haase, Führer der von der SPD abgespaltenen Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, Einzelheiten über Bethmann Hollwegs Rede.

Als die Reichstagsitzung am 12. Dezember um 13.48 Uhr von Präsident Johannes Kaempf eröffnet wurde, wußte schon ganz Berlin Bescheid. Die Tribünen des Hohen Hauses waren überfüllt. Vor dem Reichstag Menschenmassen, weinende Frauen. Es herrschte atemlose Stille, als der deutsche Reichskanzler zu sprechen begann. Ein Satz schlug wie eine Bombe ein: "Getragen von dem Bewußtsein ihrer militärischen und wirtschaftlichen Kraft und bereit, den ihnen aufgezwungenen Kampf nötigenfalls bis zum äußersten fortzusetzen, zugleich aber von dem Wunsch beseelt, weiteres Blutvergießen zu verhüten und den Greueln des Krieges ein Ende zu setzen, schlagen die vier verbündeten Mächte vor, alsbald in Friedensverhandlungen einzutreten."

Aussagen wie diese hatte man in der letzten außenpolitischen Rede des deutschen Regierungschefs im Reichstag Anfang April 1916 nicht gehört. Im Gegenteil: Friedensangebote, auch wenn solche nicht zu erwarten seien, falls Premierminister Asquit sie machen sollte, werde man "prüfen". Auf bisherige Friedensbedingungen "bleibt uns doch nur eine Antwort, und diese Antwort erteilt unser Schwert. Wenn unsere Feinde das Blutvergießen, das Menschenmorden, die Verwüstung Europas fortsetzen wollen, – ihrer ist die Schuld. Wir stehen unsern Mann und werden zu immer stärkeren Schlägen ausholen."

Der Kanzler wollte wie immer, wenn er vor den Reichstag trat, erst einmal Stimmung machen, Stärke zeigen, Zuhörer vereinnahmen. Also zeichnete er von der Kriegslage ein möglichst rosiges Bild. "Die Westfront steht." Sie sei mit größeren Reserven an Menschen und Material ausgestattet als früher. Da die Katastrophe von Verdun allen vor Augen stand ebenso wie die ungeheuren Verlusten an der gerade noch stabilisierten Front an der Somme, schob er positive Redewendungen nach: "unsere herrlichen Truppen", "mit Gottes Hilfe", "größere Sicherheit als zuvor". So wurde auch dafür "lebhafter Beifall" erlangt. Die eben in Rumänien erlangten Fortschritte malte der Kanzler breiter aus. Er hatte die Sondersitzung so lange hinausgeschoben, bis wenigstens ein Erfolg zu vermelden war: Die ganze Westwalachei und die feindliche Hauptstadt ist genommen. Daß dies Falkenhains Führung zu verdanken war, auf dessen Strategie die "Blutmühle von Verdun" zurückzuführen war, sagte er lieber nicht. Dafür trug er das Lob des "genialen" Hindenburg dick auf: "Riesenkraft der Nation", "unerschöpfliche Hilfsmittel", "unerhörte, heldenhafte Leistungen". Mit Aufwertungen wie diesen erreichte er die gewünschten Bravorufe des Reichstags von rechts. Angesichts der Tatsache, daß die Bevölkerung sich hauptsächlich von Rüben ernährte, streifte der Kanzler das Thema Versorgungslage der Bevölkerung mit einigen beschönigenden, nichtssagenden Worten: "Knappheit", aber wir wären ausgekommen. Durch die Eroberung Rumäniens werde die Versorgung fester fundiert.

Danach glorifizierte Bethmann Hollweg den deutschen Kaiser, der seinem Vorschlag zugestimmt hatte. Er stellte ihn als einen Mann mit tiefer Verantwortung für sein Volk und für die Zukunft der Menschheit dar: "Die Kriegserklärung war für den Kaiser der persönlich schwerste Entschluß, den je ein Deutscher zu fassen hatte." Danach habe ihn in den langen, schweren Kriegsjahren nur ein einziger Gedanke bewegt, wie in einem festgesicherten Deutschland wieder der "Frieden bereitet" werden könne. Die gehobene Sprachform unterstrich, daß ihn hohe Werte geleitet hatten: "tiefstes sittliches und religiöses Pflichtgefühl", also die unbestreitbaren Normen humanitärer abendländischer Tradition. Für alle, die sich an blutrünstige Kriegsreden Wilhelms II. erinnerten, nach dem Motto "Nun wollen wir sie dreschen", folgte der Versuch des Kanzlers, das glaubhaft zu machen: "Niemand kann das besser bezeugen als ich."

Die Kriegsgegner wurden nachsichtig behandelt. Sie waren nicht mehr Feinde, die "mit ingrimmigem Haß" Deutschlands Einkreisung betrieben hatten, getrieben von Eroberungssucht, Eifersucht, denen es um die Zerstücklung des deutschen Reiches, die Zerstörung seiner wirtschaftlichen und militärischen Macht ging. Der deutsche Kanzler sprach einmal von "Zerstörungs- und Eroberungsabsichten", sonst formulierte er wertfrei: "Im August 1914 rollten unsere Gegner die Machtfrage auf." Die Schuld am Krieg mußte er wie immer von sich weisen. Aber nun wollte er jede Provokation vermeiden mit der für plausibel gehaltenen These, den Befehl zur deutschen Mobilmachung habe der Kaiser sich "schweren Herzens abgerungen".

Der Text der Note, den die sogenannten neutralen Schutzstaaten an die Kriegsgegner weitergeben sollten, die USA, die Schweiz und Spanien, war kurz: Am Anfang und am Schluß wurde Deutschlands "unüberwindbare Kraft" herausgestellt. Bei Verhandlungen würden Vorschläge mitgebracht werden. Bedingungen wurden mit den bekannten interpretierbaren Schlagworten nur im Nebensatz genannt: Sicherung des Daseins, Entwicklungsfreiheit für Deutschland. Dann verkündete er einen Grundsatz, der die verbündeten Mächte angeblich auch bisher schon geleitet hätte: "Stets haben sie an der Überzeugung festgehalten, daß ihre eigenen Rechte und begründeten Ansprüche in keinem Widerspruch zu den Rechten der anderen Nationen stehen." Das war die umwerfende Neuigkeit. Denn im Gegensatz dazu hatte Bethmann Hollweg am 5. April 1916 ganz andere Forderungen aufgestellt: "Den status quo ante kennt nach so ungeheuren Geschehnissen die Geschichte nicht." Es dürfe, wenn Nachbarstaaten sich zusammenschließen und Deutschland "erdrosseln" wollten, künftig für sie "keine Einfallstore" geben. Unter dieser Devise hatte er angedeutet, Deutschland werde Gebiete Polens, Litauens und der baltischen Staaten unter seine Herrschaft bringen. Auch eine Verschiebung der Westgrenze, die dauerhafte Beherrschung Belgiens nach der Abtrennung Flanderns, wurde als Kriegsziel genannt.

Am Schuß der Rede wollte Bethmann Hollweg insbesondere Zuhörer beeindrucken, für die religiöse Werte maßgeblich waren. In einer artifiziellen, metaphernreichen Ausdrucksweise sprach er von Versöhnung, wies auf die Schrecknisse und grausamen Blutopfer, das "Menschenmorden" des Krieges hin. Von Schicksalsfragen der Welt, der Menschheitsfrage des Friedens, den Schrecknissen des irdischen Lebens war die Rede. Aber das geschah nicht, ohne mit entschlossenem Widerstand zu drohen, falls seine Aktion scheitern sollte. Der "heilige Zorn" werde dann aufflammen in Deutschland, der Krieg fortgesetzt. Den Kriegsgegnern schob er die Verantwortung für die "Weltenlast von allem Schrecklichen" zu, das noch folgen könnte. "Gott wird richten."

Welche Gründe den Kanzler veranlaßt hatten, diese Rede zu halten, ist zum Teil in Berichten über die Vorverhandlungen mit den Parteiführern und im Bundesrat belegt. Deutschland hatte bisher 3.483.000 Soldaten verloren, 1.383.000 waren gefallen oder wurden vermißt. Die Verluste vor Verdun und an der Somme betrugen allein 565.000 Mann, ein Drittel davon tot. Die Menschen in den Städten hungerten und froren entsetzlich, die Ernährungsverhältnisse, Kaufkraftverluste im "Kohlrübenwinter" waren katastrophal. Von der Fortsetzung des Krieges wolle die große Masse der Bevölkerung nichts mehr wissen, so die Polizeiberichte, die Stimmung sei gedrückt. Streiks und Widerstandsaktivitäten der Arbeiterschaft gefährdeten die Waffenproduktion.

Bethmann Hollweg sah die Lage realistisch. Die Voraussetzungen, einen günstigen Frieden für Deutschland zu erhalten, könnten sich nur verschlechtern. Wenn Haase, der Führer der kleinen Oppositionsgruppe im Reichstag unter Tumulten ausrief, "nur komplette Narren und Verbrecher" könnten weiterhin expansive Kriegsziele verfolgen, am Ende werde es im Krieg "weder Sieger noch Besiegte", sondern nur "aus Millionen Wunden blutende Völker" geben, dann war, weil seine Reden bei vielen Kollegen gut ankamen, die weitere Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten in Frage gestellt. Die Spaltungstendenz in der SPD konnte beendet werden, weil die Absage an den Eroberungskrieg erfolgt war. Bevor Wirtschaftsverbände, die Konservativen und Nationalliberalen mit ihrer Propagandakampagne für den uneingeschränkten U-Bootkrieg den Kaiser auf ihre Seite gezogen hatten, wollte Bethmann Hollweg Verhandlungen auf den Weg bringen. Er sah voraus, daß dann mit dem Eintritt der USA in den Krieg die Niederlage Deutschlands besiegelt war.

Gegenüber den Parteiführen und Vertretern des Bundesrates stellte Bethmann Hollweg immer wieder seine Verantwortung und Pflicht gegenüber dem deutschen Volk heraus. Sein Gewissen zwinge ihn zu handeln, nach den ungeheuren Verlusten, da sich "eine Chance für die Möglichkeit eines Friedensschlusses" eröffne. Dabei rechnete er besonders mit einer Wirkung auf die Friedensbewegung in England, daß sie das englische Kabinett zwingen würde, seinen Vorschlag anzunehmen.

Die Abgeordneten auf der rechten Seite und in der Mitte des Plenarsaales, wo die Nationalliberalen und Zentrum ihre Plätze hatten, reagierten mit eisigem Schweigen. Seine Rede hatte hier nichts bewirkt. Stürmische Bravorufe hörte er aus den Reihen der Linksliberalen und der SPD. Albrecht v. Graefe, Rechtsaußen unter den Konservativen, schrie laut "Skandal, Skandal." Da man über die geplanten Friedensvorschläge nichts wisse, angesichts deutscher Stärke und Unbesiegbarkeit, lehnten die Konservativen ebenso wie die beiden andern genannten Parteien Verhandlungen mit den Kriegsgegnern ab. Bassermann wollte sofort eine Debatte herbeiführen, um das weitgespannte Annexionsprogramm der Kriegszielmehrheit vorzutragen. Ihn unterstützte Haase, er wollte dagegen halten und Bethmann Hollweg dazu bringen, sich von seinen früheren Forderungen zu distanzieren. Die Abstimmung über einen Antrag des Zentrumsführers Spahn, dem die Fortschrittliche Volkspartei und die Sozialdemokraten folgten, verhinderte eine solche Debatte. Die Initiative des Kanzlers wurde aber nur von einer parlamentarischen Minderheit unterstützt. Im Zentrum fürchtete man, Kritik aus der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft könnte die Spaltung der SPD weiter vorantreiben.

Die Kommentatoren großer britischer Tageszeitungen, u. a. der Times und des Manchester Guardian, ließen in den folgenden Tagen an Bethmanns Erklärung kein gutes Haar. Der Kanzler habe die Erklärung abgegeben, um sich bei den Neutralen, besonders den USA, in ein besseres Licht zu setzen. Sie diene dazu, die kriegsmüde deutsche Bevölkerung wieder aufzurichten. Besonders Anstoß genommen wurde an der protzigen Artikulation deutscher Wehrkraft, dem unaufrichtigen, manipulativen Redestil. Wer die Belgier und Polen zur Zwangsarbeit presse, ihre Länder zerstöre, werde die Rechte anderer Nationen auch in Zukunft nicht achten. Angebote, die den englischen Kriegszielen entsprächen, seien nicht zu erwarten.

Der französische Ministerpräsident Briand und Italiens Außenminister Somnino nahmen schon am 13. Dezember in Parlamentsreden Stellung, Rußlands Außenminister am 16. vor der Duma, der englische Premierminister Lloyd Georges am 19. Dezember im Unterhaus. Meinungsunterschiede gab es kaum. Es handele sich um eine "große Falle", Deutschland wolle die Menschen im eigenen Land täuschen, die Völker demoralisieren. Der Friedensruf sei ein Ausdruck der Schwäche, ein Akt von Schlauheit. Da es Friedensvorschläge nicht gäbe, werden wir "unsern Kopf nicht in diese Schlinge" stecken. Rußlands Außenminister Pokrowski betonte, die Deutschen versuchten offenbar "eine Bresche in unsere unerschütterliche Allianz zu schlagen". Die gemeinsame Antwortnote der Ententeregierung vom 30. Dezember 1916 faßte die bereits verbreiteten Ablehnungsgründe zusammen. Bethmann Hollweg habe die deutsche Schuld am Krieg geleugnet. Solange nicht klare Aussagen über die Zukunft des ausgeplünderten Belgien vorlägen, Wiedergutmachung zugesichert werde, brauche man nicht zu Beratungen zusammenkommen.

Im Berliner Tageblatt wurde die Sitzung des 12. Dezember 1916 mit Recht die "denkwürdigste" seit der am 4. August 1914 genannt. Die deutsche Regierung war sich darüber klar geworden, daß der Weltkrieg nicht mehr zu gewinnen war. Nach dem Rausch der Kriegsbegeisterung war die überwiegende Zahl der Menschen von Schmerz, Entsetzen über das Geschehen und Verzweiflung erfüllt. Aber jetzt verstärkte sich auch der Starrsinn, das Festhalten an deutscher Weltmachtpolitik in der Reichstagsmehrheit aus Konservativen, Nationalliberalen und der Zentrumspartei.

Das Dokument zeigt Kanzler Bethmann Hollweg als einen nachdenklichen, verantwortungsbewußten Staatsmann. Deutschland sollte die in Verbänden und der Reichstagsmehrheit propagierten Kriegsziele größtenteils nicht verwirklichen, um, wie Außenstaatssekretär Jagow es sagte, "mit einem blauen Auge davonzukommen". Während Forscher wie Fritz Fischer den Kanzler als Vollstrecker deutscher Weltmachtpolitik sehen wollten, stellten Historiker wie Gerhard Ritter, Günter Wollstein und Wolfgang Mommsen trotz aller Fehler, die er machte, seine ethisch fundierte Verantwortung für einen Ausgleich aller innen- und außenpolischer Konflikte zum Wohl der ganzen Nation heraus. Verdeutlicht wird aber auch Bethmann Hollwegs fatale Schwäche ewigen Schwankens, weil er immer wieder dem Einfluß der Gesellschaftsschicht, der er sich zugehörig fühlte, dem Adel und dem Großbürgertum, unterlag. Mit rhetorischem Geschick wollte er Abgeordnete aus dem konservativen Lager und des Zentrums für eine Kehrtwende gewinnen, statt auf Konfrontationskurs zu gehen.

Eine sachliche Rede mit einer klaren Abkehr von bisherigen Zielen hätte bei den Kriegsgegnern vielleicht Eindruck gemacht. Andererseits war die Macht der Annexionisten in Deutschland ungebrochen. Das Kesseltreiben gegen den "schlappen Kanzler" begann. Wie die Entscheidung für den uneingeschränkten U-Bootkrieg zeigt, reichte Bethmann Hollwegs Einfluß auf den Kaiser nicht mehr aus. "Die Proklamierung eines Verzichtsprogrammes hätte mich einfach hinweggefegt," sagte er nach dem Krieg. Seine "friedensbereite Gesinnung", wie er später formulierte, war der Rede durchaus zu entnehmen. Die Regierungen der Entente paßten sich, ohne den Text zu analysieren, der von Medien ihrer Länder angeheizten Kampfstimmung gegen die Mittelmächte an. Bethmann Hollwegs Erklärung vor dem Reichstag am 12. Dezember 1916 war der verzweifelte Versuch, das Ruder des Staatsschiffes herumzureißen, bevor es in den Strudel geriet, in dem es dann versank.

Der liberale Unterhausabgeordnete Philip Snowden schlug im "Labour Leader" vor, sich doch erst einmal die deutschen Vorschläge anzuhören. Er nannte die Politiker und Militaristen der Länder, die den Krieg fortsetzen wollten, "vom Wahnsinn befallene Spieler". "Europe is not governed by reason!" Die Kriegsfurien wüteten weiter, die "Staatskunst" des deutschen Kanzlers unterlag.

Ernst-Albert Seils