Das Godesberger Programm der SPD von 1959
Einführung
Die Vorgeschichte
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands entstand in den 1860er Jahren, ihre Wurzeln reichen sogar bis in die 1840er Jahre zurück. Ihren Namen trägt die SPD seit 1890. Ihr politisches Programm war in den Jahren des Kaiserreichs geprägt von den Erfahrungen der politischen Unterdrückung und der wirtschaftlichen Ausbeutung der Arbeiterschaft.
Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle waren die geistigen Väter ihrer Politik. Interessenkonflikte wurden von der Arbeiterbewegung als Klassenkampf erlebt. Ein freies Spiel der Kräfte, der Wettbewerb von Gütern und Meinungen auf dem Markt wurde ebenso wie der Individualismus als Vereinzelung und "Vermassung", als Verlust von Zugehörigkeit und Verlässlichkeit wahrgenommen.
Die Arbeiterbewegung lehnte daher die Marktwirtschaft ab und stellte ihr das Konzept der Gemeinwirtschaft und der Klassensolidarität entgegen. In einer sozialistischen Gesellschaft würden Interessenkonflikte und Klassengegensätze aufgehoben sein. Die Freiheit des einzelnen wäre dabei die im Kollektiv, die Freiheit der Arbeiterklasse, nicht aber die des Individuums. Dem Staat war eine zentrale Rolle als Ordnungsfaktor zugedacht. Er hatte die Wirtschaft zu lenken und die sozialistische Ordnung einzuführen. Auch in der Weimarer Republik, als tragende Partei der Republik und des Parlamentarismus, hielt die SPD am Ziel einer sozialistischen Neuordnung der deutschen Gesellschaft fest. Anders als für die revolutionäre KPD, zu der sie in scharfer Gegnerschaft stand, trat die SPD jedoch für die parlamentarische Republik und nicht für die bolschewistische "Diktatur des Proletariats" ein.
Bei ihrem Wiederaufbau nach 1945 knüpfte die SPD zunächst an diese sozialistische Tradition an. Noch zu Beginn der 1950er Jahre war die Partei davon überzeugt, dass Kapitalismus mit Demokratie unvereinbar und dass ein solches Wirtschaftssystem Beweis für eine fehlende demokratische Entwicklung sei. Sie strebte eine Sozialisierung der Schlüsselindustrien, staatliche Planung und Lenkung der Wirtschaft sowie wirtschaftliche Mitbestimmung der organisierten Arbeitnehmerschaft an. Politische Demokratie müsse durch wirtschaftliche Demokratie ergänzt werden, denn die Befreiung der Menschen von ökonomischer Abhängigkeit sei die Voraussetzung für politische Freiheit. Die Wirtschafts- wie die Gesellschaftsordnung müssten grundlegend reformiert werden.
Der Weg zu den Reformen
Erst am Ende der 1950er Jahre, im Godesberger Programm, orientierte sich die deutsche Sozialdemokratie um. Diese Neuorientierung war jedoch kein plötzlicher Bruch, sondern vielmehr das Ergebnis eines jahrzehntelangen Diskussions- und Lernprozesses, der in den Jahren des Exils begonnen und im Laufe der 1950er Jahre an Dynamik gewonnen hatte. Die Wurzeln dieses Prozesses gehen bis auf den Revisionismus Eduard Bernsteins zurück.
Jedoch kamen nach 1945 andere, westeuropäisch-atlantische Einflüsse hinzu. Die treibenden Kräfte hinter diesem Neubesinnungsprozess waren häufig Remigranten aus dem englischen, amerikanischen oder skandinavischen Exil. Zu ihnen gehörte auch Willy Eichler, der Autor des theoretischen Teils des Godesberger Programms, der im englischen Exil gewesen war. Die Remigranten hatten im Kontakt mit den dortigen Arbeiterbewegungen westlich-liberale Ordnungsvorstellungen kennengelernt, die sie nun in die eigene Partei hineintrugen. Dazu gehörten die Vorstellung, dass der einzelne vor der Macht des Staates und auch vor der Mehrheit geschützt werden muss; dass das Recht auf Eigentum unantastbar sein müsse, weil es die Unabhängigkeit des einzelnen garantiere, und dass Interessenkonflikte in einer Gesellschaft etwas Gesundes seien und im Rahmen parlamentarischer Spielregeln offen ausgetragen werden müssten. Nicht gleicher Besitz, sondern Chancengleichheit führte zu Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Daraus ließ sich für eine Arbeiterpartei eine ganz andere Politik ableiten, als es die marxistischen Traditionen der SPD vorsahen: Das Ziel wäre dann Mitwirkung und Integration statt Fundamentalopposition.
Mehrheitsfähig waren diese Konzepte in der deutschen Sozialdemokratie zunächst jedoch nicht, auch wenn sie im Aktionsprogramm der SPD von 1954 erste Auswirkungen zeigten. Mit dem offensichtlichen Erfolg der Marktwirtschaft in den 1950er Jahren und den wiederholten Wahlniederlagen der SPD nahm der Reformdruck innerhalb der Partei jedoch spürbar zu. Den unmittelbaren Anlass für die Programmreform bot die Bundestagswahl von 1957, in der die CDU unter Konrad Adenauer die absolute Mehrheit erzielte. Der Stuttgarter Parteitag von 1958 machte anschließend den Weg frei für ein neues Grundsatzprogramm, das dann im November des folgenden Jahres in Bad Godesberg verabschiedet wurde.
Die Inhalte des Programms
Das Godesberger Programm der SPD macht Aussagen zu den Grundwerten des Sozialismus, zur gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung, zur Wirtschafts- und Sozialordnung, zum kulturellen Leben und zur Außenpolitik. Mit diesem Programm wurde aus der Klassen- und Oppositionspartei, die der bestehenden Gesellschaftsordnung zumindest in der Theorie ablehnend gegenüberstand, eine linke Volkspartei, die sich als legitimen Bestandteil der Gesellschaftsordnung und des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland betrachtete und entschlossen war, ihre Interessen und ihre Politik innerhalb des parlamentarischen System selbstbewusst zu vertreten. Der Marxismus spielt in den wesentlichen Passagen dieses Programms keine prägende Rolle mehr.
Wirtschaftspolitisch hatte sich die Orientierung der Partei grundsätzlich gewandelt: Soziale Gerechtigkeit sollte nun nicht mehr durch Sozialisierung der Produktionsmittel, sondern durch Wirtschaftswachstum erreicht werden. Und der Wohlstand, den die private Wirtschaft erarbeite, sollte durch die Tarifpolitik der Arbeitsparteien an die Lohnabhängigen weitergegeben werden. Der Staat hatte dem Godesberger Programm zufolge für Vollbeschäftigung und für Bedingungen zu sorgen, die die Produktivität steigern sollten: "Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig."
Hier zeigt sich die Rezeption der in Großbritannien entwickelten keynesianischen Wirtschaftstheorie durch die Sozialdemokratie, nach welcher der Staat konjunkturelle Schwankungen durch antizyklische Eingriffe in die Wirtschaft ausgleichen und damit eine aktive und steuernde Rolle innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung übernehmen soll. Das Vertrauen in den Fortschritt und der Glaube an ständiges Wachstum hatten im Laufe der 1950er Jahre zur Akzeptanz des Kapitalismus durch die deutsche Arbeiterbewegung geführt. Keynesianismus erlaubte es, den Kapitalismus zu steuern und für soziale Gerechtigkeit nutzbar zu machen. Soziale Gegensätze sollten nun dadurch überwunden werden, dass man das erwirtschaftete Wachstum gerecht verteilte.
Auch das Gesellschaftsbild der SPD hatte sich gewandelt: Die Gesellschaft wurde nun nicht mehr vom Klassenkampf her gedacht, sondern als Zusammenspiel verschiedener, in Verbänden organisierter Interessengruppen. Die Konkurrenz zwischen diesen Interessen galt der deutschen Sozialdemokratie nun als Grundlage politischer Entscheidungsfindung. Das bedeutete, dass die Interessen der Unternehmerschaft als ebenso berechtigt angesehen wurden wie jene der Arbeiterschaft. Zudem trat das Individuum als geschichtliches Subjekt und als Nutznießer des Fortschritts an die Stelle des Kollektivs. Die SPD verstand sich jetzt als eine "Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Ihre Übereinstimmung beruht auf gemeinsamen sittlichen Grundwerten und gleichen politischen Zielen."
Aus diesem gewandelten Gesellschaftsbild ergab sich auch ein verändertes Demokratieverständnis der SPD. Vom bestmöglichen Weg zum Sozialismus war die parlamentarische Demokratie zum "Wert an sich" geworden, sie war von nun an auch programmatisch Weg und Ziel des demokratischen Sozialismus. Grundgesetz, Werteordnung und politisches System der Bundesrepublik bildeten die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die SPD ihre Ziele verfolgen wollte.
Folgen und Bedeutung des Godesberger Programms
Dieses Demokratieverständnis hatte unmittelbare Folgen für das Selbstverständnis der SPD als Opposition im Bundestag. Das wurde schon ein halbes Jahr nach Verabschiedung des Godesberger Programms deutlich, als die SPD ihre Bereitschaft erklärte, die Regierung Adenauer in ihrer Außenpolitik zu unterstützen, ja eine "gemeinsame[...] Außenpolitik" (Herbert Wehner) zu verfolgen. 1966 wurde aus dieser Gemeinsamkeit eine Große Koalition aus CDU und SPD, und 1969, zehn Jahre nach Godesberg, regierte mit Willy Brandt erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein sozialdemokratischer Kanzler. Eine weitere Folge des Godesberger Programms war eine Annäherung zwischen der Sozialdemokratie und den Kirchen, insbesondere der Katholischen Kirche. Der herkömmliche Gegensatz zwischen Christentum und Sozialismus wurde durch die ethische Fundierung der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit entschärft.
Insgesamt liegt die Bedeutung des Godesberger Programms in der Hinwendung der SPD zu liberaldemokratischen Grundwerten. Hierzu gehören neben einer parlamentarischen Ordnung mit einem repräsentativen System vor allem die Akzeptanz der Marktwirtschaft und des Privateigentums an Produktionsmitteln, ein individualistisches und pluralistisches Gesellschaftskonzept, in dem die Arbeiterschaft nur eine Interessengruppe unter anderen ist und in dem der einzelne an die Stelle der Klasse tritt, sowie ein keynesianisches Wirtschaftskonzept. Die Zusammenarbeit mit den Arbeiterbewegungen westlicher Länder, sei es durch die Exilerfahrungen der 1930er und 1940er Jahre oder später in den 1950er Jahren, hatten neue, "westliche" Konzepte in die deutschen Sozialdemokratie hineingetragen.
Dieser Wertewandel war jedoch kein rein westdeutsches, sondern vielmehr ein westeuropäisches Phänomen: Die Arbeiterparteien aller westeuropäischen Länder durchliefen in den 1950er und 1960er Jahren einen ähnlichen Reformprozess. Hierbei kam es zu einer westeuropäisch-amerikanischen Angleichung auf der Ebene der Ordnungsvorstellungen, die ihre Wurzeln im Antitotalitarismus des Kalten Krieges hatte. Das Godesberger Programm der SPD ist damit Bestandteil und Ergebnis einer gesamtwestlichen Annäherung, in deren Verlauf die BRD zu einem "halbwegs normalen westlichen Land" (Juergen Habermas) wurde. Das Programm ist sowohl ein Symptom als auch ein wichtiger Faktor dieser Entwicklung.
Julia Angster