Friedensvertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei einerseits und Rußland andererseits [Der Friedensvertrag von Brest-Litovsk], 3. März 1918
Einführung
Der Sieg der bolschewistischen Revolution im November (nach russischem Kalender war es noch Oktober) 1917 schien den Frieden mit Rußland in greifbare Nähe zu rücken, denn die Bolschewiki waren mit der Parole "Freiheit, Brot, Frieden" an die Macht gelangt. Am 8. November 1917 ließ die russische Regierung einen Aufruf an die Regierungen und Völker der Welt zum Abschluß eines "gerechten und demokratischen Friedens" ergehen. Dieses berühmte "Friedensdekret" war der erste außenpolitische Akt des neuen russischen Regimes. Schon Ende November erklärte sich die bolschewistische Staatsführung zu separaten Waffenstillstandsverhandlungen mit den Mittelmächten bereit, die am 3. Dezember begannen und am 15. Dezember durch einen Waffenstillstandsvertrag in Brest-Litovsk abgeschlossen wurden. Der Vertrag sah den unverzüglichen Beginn von förmlichen Friedensverhandlungen vor.
Die deutsche Seite verfolgte dabei ihre eigenen Interessen. Unter dem Eindruck des revolutionären Geschehens in Rußland hatte sich General Erich Ludendorff schon Ende November 1917 entschlossen, die Entscheidung des Krieges im Westen zu suchen und dafür alle im Osten frei werdenden militärischen Kräfte einzusetzen. Er wollte im Westen möglichst früh, bevor die amerikanischen Truppen in größeren Mengen in das Geschehen eingriffen, losschlagen. Deshalb hielt er "Klarheit" im Osten für nötig und hoffte, daß in Brest-Litovsk "gute Arbeit" geleistet würde. Mit großer Spannung wartete er auf den Beginn der Friedensverhandlungen, da ihr Verlauf auf die militärischen Entschließungen einen zwingenden Einfluß ausüben mußte.
Am 22. Dezember 1917 begannen in Brest-Litovsk, dem Hauptquartier des Oberbefehlshabers Ost, die Friedensverhandlungen zwischen den Unterhändlern der Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei) und des bolschewistischen Rußland. Der russische Chefunterhändler Lev Trockij hat das Ungewöhnliche an der Situation in Brest in seinen Erinnerungen mit folgenden Worten charakterisiert:
"Historische Umstände hatten es so gefügt, daß die Delegierten des revolutionärsten Regimes, das die Menschheit je gekannt hat, an einem Tisch sitzen mußten mit den diplomatischen Vertretern der allerreaktionärsten Kaste unter allen regierenden Klassen."
Die Verhandlungen in Brest-Litovsk umfaßten drei Hauptphasen. In der ersten (vom 22. bis 28. Dezember) gaben die beiderseitigen Delegationen durch allgemeine Erklärungen und Gegenerklärungen ihre grundsätzlichen Absichten in mehr oder minder verschleierter Form bekannt. Es schien, als ob beide Partner in absehbarer Zeit zu einer Verständigung gelangen würden. In die zweite Phase (vom 8. Januar bis zum 10. Februar 1918) fällt der Hauptanteil der insgesamt etwa 70 Sitzungen zählenden Verhandlungen. In ihr trafen die nun deutlicher zum Ausdruck kommenden Zielsetzungen der zwei Seiten hart aufeinander. Sie enthüllte zugleich den tiefgreifenden, praktisch unüberbrückbaren "weltanschaulichen" Gegensatz zwischen den beiden Parteien. Die dritte Phase (vom 1. bis 3. März 1918), in der eigentlich nicht mehr "verhandelt" wurde, endete mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages.
Die Zeit zwischen diesen drei Phasen wie auch ein Teil der zweiten Phase war ausgefüllt mit schwersten Auseinandersetzungen sowohl innerhalb der deutschen Reichsführung wie auch innerhalb der bolschewistischen Regierung über die in Brest-Litovsk zu befolgende Taktik – Auseinandersetzungen, die der Verhandlungsführung in Brest-Litovsk recht eigentlich das Gepräge gaben und ihren Ausgang bestimmten. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheinen die Brester Verhandlungen als ein zwischen Ludendorff und Lenin geführtes Duell. Rücktrittsdrohungen und -absichten Lenins und Trockijs auf der einen, Kaiser Wilhelms, Ludendorffs, Hindenburgs, des Reichskanzlers Hertling und des deutschen Verhandlungsführers Kühlmann auf der anderen Seite deuten die Schärfe dieser Auseinandersetzungen an und die Wichtigkeit, die den auf dem Spiele stehenden Fragen beigemessen wurde.
Am Schluß der zweiten Phase kam es zu einer dramatischen Zuspitzung: Als am 29. Januar die Diskussionen wiederaufgenommen wurden, mußte Trockij feststellen, daß die Deutschen und Österreicher inzwischen mit der seit Anfang Januar in Brest-Litovsk anwesenden ukrainischen Delegation nahezu handelseinig geworden waren. Am 9. Februar sah er sich dem Fait accompli eines Sonderfriedens zwischen der sozialistischen Kiever Rada auf der einen, Deutschland und Österreich-Ungarn auf der anderen Seite gegenüber. Am nächsten Tag machte er den Verhandlungen überraschend ein Ende mit den bekannten Worten:
"Wir können nicht die Gewalt sanktionieren. Wir gehen aus dem Krieg heraus, sehen uns aber genötigt, auf die Unterzeichnung eines Friedensvertrages zu verzichten."
Deutscherseits war man vor die Entscheidung Krieg oder Frieden gestellt. Sie wurde auf einem für den 13. Februar einberufenen Kronrat in Bad Homburg getroffen. Gegen das Votum der Reichsleitung, die den Schwebezustand im Osten hinnehmen wollte, damit Deutschland seine ganzen Kräfte für die am 21. März geplante große Offensive im Westen konzentrieren könne, wurde beschlossen, nach Ablauf eines Ultimatums in Richtung Sankt-Petersburg militärisch vorzustoßen, einmal um möglichst das gesamte Baltikum in deutsche Hand zu bekommen, zum andern, um der bolschewistischen Regierung einen Diktatfrieden aufzuerlegen.
Die Folgen der Entscheidung von Bad Homburg waren weitreichend. Es kam zwar zum Vorstoß bis kurz vor Petersburg und am 3. März 1918 zur Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litovsk; doch selbst danach setzte die Oberste Heeresleitung noch zahlreiche militärische Aktionen in dem riesigen russischen Raum fort: Ganz Südrußland bis Rostov am Don und bis zur Südspitze der Krim wurde von deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen besetzt. Im September kam es sogar zu einem deutsch-türkischen Vorstoß nach Baku am Kaspischen Meer.
Der Kernpunkt des Vertragsinhalts war die Abtretung von Polen, Litauen und Kurland. Livland und Estland blieben noch formal im russischen Staatsverband, sollten aber von einer "deutschen Polizeimacht" besetzt werden, "bis dort die Sicherheit durch eigene Landeseinrichtungen gewährleistet und die staatlichen Ordnung hergestellt" sei. Diese Bestimmungen stellten nur eine halbe Lösung dar und waren damit ein beispielhafter Ausdruck der gegensätzlichen Forderungen von Oberster Heeresleitung und Auswärtigem Amt. Am schwersten mußte für Rußland die Abtrennung der Ukraine wiegen, da es dadurch die reichsten Korngebiete, Kohlen- und Eisenlager verlor. Rußland war durch den Brester Vertrag auf das vorpetrinische Kerngebiet um Moskau zurückgeworfen. Mit Recht versuchte die deutsche zeitgenössische Publizistik für dieses Restrußland die Bezeichnung "Moskowien" einzuführen.
Als Karachan, ein Mitglied der russischen Delegation in Brest-Litovsk, Lenin den Vertrag vorlegte, antwortete dieser:
"Ich werde ihn weder lesen noch seine Klauseln erfüllen." Anfang März hatte Lenin eine Unterredung mit dem englischen Agenten Bruce Lockhart, der ihn auf die Gefahr hinwies, daß Deutschland nun mit Gewalt aus Rußland Getreide für seine hungernde Bevölkerung ausführen würde. Lenin lächelte:
"Wie alle Ihre Landsleute denken Sie in konkreten militärischen Kategorien. Dieser Krieg wird im Hinterland entschieden und nicht in den Schützengräben. [...] Als Folge dieses Raubfriedens wird es [Deutschland] mehr und nicht weniger Truppen im Osten halten müssen. Was die Möglichkeit betrifft, daß es Vorräte in großen Mengen aus Rußland bekommt, so mögen Sie beruhigt sein. Passiver Widerstand [...] ist eine wirkungsvollere Waffe als eine Armee, die nicht mehr kämpfen kann."
Brest-Litovsk war eine unglückliche Mischung abwartender besonnener Politik des Auswärtigen Amtes unter Kühlmann und eines rücksichtslosen Militarismus von der Art Ludendorffs. Es war ein untauglicher Kompromiß. Wäre Ludendorff 1918 tatsächlich der allmächtige Diktator gewesen, als den man ihn fälschlich bezeichnete, so hätte er dem Bolschewismus in seinem Herzen, Petersburg und Moskau, womöglich den Todesstoß versetzen können. Wäre es andererseits allein nach Kühlmann gegangen, hätte ein echter Verständigungsfrieden mit Rußland sich ergeben können oder das fatale deutsche Engagement im Ostraum wäre tatsächlich ganz unterblieben. Wahrscheinlicher wäre das letztere gewesen. Denn Kühlmann hatte wohl aus unmittelbarer Anschauung die Unmöglichkeit einer echten Partnerschaft mit den Bolschewiki erkannt: Er wollte sich nach Trockijs Theatercoup mit der Erhaltung einer geringen Grenzschutztruppe für "Kordonaufgaben" im Osten begnügen und sich sonst völlig passiv verhalten. Ludendorffs Ostritt – die Feder in der Linken, das Schwert in der Rechten – hielt er in seinen Konsequenzen für unabsehbar und unheilvoll. Darin hat er recht behalten.
Der eigentliche Gewinner des deutsch-russischen Zusammenspiels des Jahres 1918 war Lenin. Während der "gewaltigen Rückzugsbewegung", als die er in späteren Jahren den Brester Vertrag und seine Auswirkung kennzeichnete, erreichte er die für die Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft notwendige Atempause. In der sowjetrussischen Geschichtsschreibung wurden der Abschluß des Brester Friedens und die darauffolgende Zeit des "Lavierens, Abwartens und Zurückweichens" als klassisches Beispiel für die Taktik Lenins angesehen, die tiefen Widersprüche im "imperialistischen Lager" für die Zersetzung der Kräfte des Gegners und der Verbreiterung der bolschewistischen Machtgrundlage auszunutzen. An diesem Urteil ist nichts auszusetzen. Lenin hatte es mit einer Nüchternheit, die auch die anfänglich schmale Basis der eigenen Machtposition nicht verkannte, schon selbst ausgesprochen:
"Brest ist dadurch bedeutsam, daß wir es hier zum erstenmal in gigantischem Maßstab, unter unermeßlichen Schwierigkeiten verstanden haben, die Gegensätze, zwischen den Imperialisten so auszunutzen, daß zuletzt der Sozialismus dabei gewann. [...] Wenn wir durchgehalten haben, obwohl unsere militärische Stärke gleich Null war, obwohl wir wirtschaftlich nichts aufzuweisen hatten und uns ununterbrochen auf absteigender Linie dem Abgrund des Chaos zu bewegten; wenn wir durchgehalten haben, so geschah dieses Wunder nur, weil wir den Zwist zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Imperialismus richtig ausnutzten. [...] Dadurch, daß wir der einen imperialistischen Gruppe Zugeständnisse machten, schützten wir uns sogleich vor den Verfolgungen bei den imperialistischen Gruppen."
Erläuterungen zum Text
Artikel II. ist auf Drängen der deutschen Obersten Heeresleitung aufgenommen worden. Damit sollte vor allem eine Handhabe gegen die bolschewistische Propaganda im deutschen Ostheer geschaffen werden.
Artikel III. Die in diesem Artikel genannte Grenze ist abgebildet in: Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litovsk bis zum Abschluß des Rapallo-Vertrages, Berlin (0), S. 591. Gemeint ist die völkerrechtliche Grenze, nicht die militärische Demarkationslinie, die weiter östlich lag. Sie verläuft im Norden östlich der Inseln Dagö und Öse im Rigaer Meerbusen, weiter östlich von Riga, die Düna entlang, spart Dünaburg aus, beschreibt eine Ausbuchtung nach Osten und verläuft dann im wesentlichen nach Süden bis Brest-Litovsk. Die tatsächliche Grenze des deutschen Machtbereichs nach Brest-Litovsk verlief von Narva im Norden, den Peipus-See entlang nach Pskov, Orša, westlich Kursk, Rostov am Don (Baumgart/1971).
Artikel IV. Die Räumung von deutsch besetzten Gebieten (vgl. die eben genannte Karte) wurde im deutsch-russischen Ergänzungsvertrag vom 27. August 1918 festgelegt.
Artikel V. Die alte zarische Armee war zwar zusammengebrochen; Trockij als Volkskommissar für Kriegswesen begann aber schon im Februar 1918 mit der Aufstellung der Roten Armee, für die er zahlreiche zarische Offiziere rekrutierte. Über die Verwendung der russischen Schwarzmeerflotte kam es im Sommer 1918 zu Auseinandersetzungen sowohl zwischen Deutschland und Rußland als auch zwischen der deutschen Obersten Heeresleitung und dem deutschen Admiralstab. Das Gros der russischen Schiffe, das sich von Sevastopol nach Novorossijsk abgesetzt hatte, wurde dort auf Befehl Lenins am 18. Juni 1918 versenkt. Der kleinere Teil verblieb in deutschen Händen in Sevastopol.
Artikel VI. Die Ukraine blieb bis zum Kriegsende ein Staat von Deutschlands Gnaden. Die im Mai 1918 zwischen der Ukraine und Sowjetrußland begonnenen Friedensverhandlungen führten zu keinem Ergebnis. In Finnland war bereits mit deutscher Unterstützung ein unabhängiger Staat ausgerufen worden. In den Auseinandersetzungen zwischen "weißen" und "roten" Truppen obsiegten die Weißen; Finnland konnte seine Unabhängigkeit behaupten.
Artikel VIII - XII. Diese Artikel wurden in einer weiteren Anlage zum Brester Vertrag, in einem Schlußprotokoll und in einem Zusatzvertrag vom 3. März 1918 spezifiziert (Deutsch-sowjetische Beziehungen/1967).
Artikel XIV. Der Brester Vertrag wurde am 15. März durch den 4. gesamtrussischen Rätekongreß und am 26. März von Kaiser Wilhelm (nachdem der Deutsche Reichstag ihm am 22. März zugestimmt hatte) ratifiziert.
Winfried Baumgart