Rede Carlo Schmids (SPD) vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der zweiten Lesung des Wehrpflichtgesetzes am 6. Juli 1956
Rede Carlo Schmids (SPD) vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der zweiten Lesung des Wehrpflichtgesetzes am 6. Juli 1956
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmid (Frankfurt).
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß diese Diskussion in unserem Hause zu jenen gehört, die das Haus zu ehren vermögen.
(Beifall auf allen Seiten des Hauses.)
Und ich glaube, daß dies ein Tag ist, an dem jeder von uns in dem Bewußtsein nach Hause gehen kann, daß es seinen Sinn gehabt haben mag, daß er sich entschieden bat, Parlamentarier zu werden.
(Beifall bei der SPD.)
Als wir in das Grundgesetz den Art. 4 Abs. 3 einführten, hatten wir nicht die Absicht, eine hübsche Verzierung anzubringen, sondern wir wollten diesem Staat, der Bundesrepublik, ein bestimmtes Gepräge geben. Wir wollten, daß durch diese Bestimmung zum Ausdruck gebracht werde, daß in diesem Staat die Staatsraison nicht als die oberste Autorität für das Handeln von Staat und Bürger anerkannt wird.
(Beifall bei der SPD und der FDP.)
Wir wollten, wissend, daß damit das Regieren schwerer wird, dem Staat bestimmte Schranken auferlegen, Schranken auch dort, wo das Anliegen des Staates gerechtfertigt sein mochte. Wir wollten auf eine sehr drastische Weise zum Ausdruck bringen, daß unserer Meinung nach in dem künftigen deutschen Staat nicht der Zweck, auch nicht der gute Zweck, die Mittel heiligt, sondern die Güte der Mittel den Zweck heiligen sollte.
(Beifall bei den Oppositionsparteien.)
Auch der Staat selbst ist ein "Zweck", und wir meinen, daß es eine höhere Heiligung des Staates – ich meine das Wort nicht theologisch – nicht geben kann als die, einen Staat zu wollen, der sich bewußt glaubt auf die Freiwilligkeit des Opfers seiner Bürger aufbauen zu können.
Im übrigen haben wir nicht Fragen der Moraltheologie zu entscheiden – dazu sind wir nicht kompetent –, wir haben nicht die Frage zu entscheiden, ob es moraltheologisch richtig ist, aus Gründen des Gewissens den Kriegsdienst zu verweigern. Daß man das kann, steht im Grundgesetz, dessen Schöpfer aus ethischen Gründen eine politische Entscheidung getroffen haben. Diese haben wir zu interpretieren.
Die Moraltheologie kann und muß uns Antwort darauf geben, ob es möglich ist, das Gewissen und die Gewissensentscheidung zu relativieren. Ich glaube, daß die Moraltheologie beider christlichen Konfessionen diese Frage eindeutig verneint. Die Gewissensentscheidung des Einzelnen ist etwas schlechthin Absolutes.
Herr Kollege Jaeger hat ausgeführt, daß die Fassung der Ausschußvorlage den Willen und den Text des Grundgesetzes voll decke. Ich kann ihm nicht recht geben. Das Wort "jeder", das im Text der Ausschußvorlage steht, schränkt das in Art. 4 Abs. 3 Gemeinte ein. Mit dieser Formulierung ist lediglich der Mann geschützt, der allgemein und schlechthin der Meinung ist, es dürfe zwischen Staaten keine Gewalt angewandt werden, die zu Blutvergießen führen könnte.
(Abg. Haasler: Jawohl!)
Das ist also Ihre Auffassung; das also soll Ihr Text besagen. Jene aber, die an der Fertigung des Grundgesetzes mitgewirkt haben, wollten bewusst weitergehen. Es sollte nicht nur der Quaeker und der Mennonit geschützt werden, es soll auch der Mann geschützt werden, der den Krieg nicht schlechthin verwirft, aber in seinem Gewissen überzeugt ist, daß es Kriegsmittel gibt, deren Anwendung schlechthin gegen das Gewissen verstoße.
Ich meine damit — um Ihnen ein Beispiel zu geben – den Mann, der den Befehl bekommen sollte, eine Atombombe abzuwerfen, und der sagt: Diesen Befehl zu befolgen, verbietet mir mein Gewissen.
Auch dieser Mann soll durch Art. 4 Abs. 3 geschützt sein.
(Beifall bei der SPD. – Abg. Dr. Kliesing: Aber wenn er in der Situation ist!)
Genau das meine ich.
(Abg. Kliesing: Nicht bis dahin!)
Das meine ich, Herr Kollege.
(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Aachen]: Die Protokolle des Parlamentarischen Rates weisen das nicht aus! Davon steht kein Wort in den Protokollen!)
Mag sein! Ich war an diesen Dingen einigermaßen beteiligt. Protokolle gibt es nur für den Hauptausschuß und das Plenum des Parlamentarischen Rats. Die Protokolle der Fachausschüsse, die sich speziell mit dieser Frage befaßt haben, sind leider nicht gedruckt.
(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Aachen]: Ich war dabei!)
Ich war auch dabei, Frau Kollegin. Dann haben wir offensichtlich die Dinge auf verschiedene Weise begriffen. Ich habe sie so begriffen, wie ich es hier vorgetragen habe.
Mir scheint der entscheidende Unterschied zwischen beiden Fassungen zu sein – um es vereinfachend zu sagen: Soll nur der Quäker und der Mennonit geschützt sein, oder soll auch der Mann geschützt sein, der zwar in den Krieg geht, aber in einem bestimmten Augenblick sagt: "Jetzt geht es nicht mehr, solche Waffen zu verwenden ist Sünde, das geht gegen mein Gewissen, hier sage ich nein!" – Auch dieser Mann soll geschützt sein! Er soll nicht wegen Feigheit vor dem Feinde oder wegen Verweigerung eines Befehls vors Kriegsgericht gestellt werden können! Wir müssen uns entscheiden, ob wir das eine oder ob wir das andere wollen.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): Bitte schön!
Dr. Kliesing (CDU/CSU): Herr Professor Schmid, hier geht es um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Besagt das, was Sie gerade für den situationsbedingten Kriegsdienstverweigerer sagten, nach Ihrer Meinung, daß er bereits von der Grundausbildung zu befreien ist, obwohl er und niemand sagen kann, ob diese Situation, in der er in Gewissensnot sein wird, jemals eintreten wird?
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): Herr Kollege, der Anruf an das Gewissen entsteht immer in einer konkreten Situation. Diese konkrete Situation kann sehr verschieden aussehen. Sie kann auch schon dort gegeben sein, wo einem Mann gesagt wird: "Du mußt heute, im Jahre 1956, in einer Zeit, da Kriege mit Atombomben geführt werden, Soldat werden." Auch diese konkrete Situation kann das Gewissen anrufen und unter Umständen ein Nein herausfordern.
(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Kliesing: Der weiß aber doch gar nicht, wie der Krieg geführt wird!)
Die andere Frage ist, ob einer in einem Kriege angesichts einer bestimmten Situation glaubt sagen zu müssen: "Hier kann ich nicht mehr, hier verbietet mir mein Gewissen weiterzuschreiten." Es wird vielleicht noch dritte und vierte und hundertste Situationen geben. Sie entstehen aber nicht erst im Kriege! Eine Situation, bei der das Gewissen engagiert wird, liegt auch dann vor, wenn ich mich fragen muß: Kann ich heute, in einer Welt, die ihre Kriege mit Waffen führt, die Kontinente zu verwüsten drohen, es vor meinem Gewissen verantworten, zum Waffendienst ja zu sagen, oder muß ich dazu nein sagen?
Ich habe mich zu Worte gemeldet, nur um den Versuch zu machen, diese Alternative klarzustellen, um aufzuzeigen, wer nach dem Vorschlag des Ausschusses geschützt werden soll und wer nach Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes geschützt werden soll; das ist ein weiterer Kreis als jener, der nach Ihrem Vorschlag geschützt werden soll.
Im übrigen möchte ich zum Schluß dem Abgeordneten Nellen meinen besonderen Dank dafür aussprechen, daß er durch seine Ausführungen das Haus so nah an das Zentrum des Problems geführt hat. Er hat sich dadurch ein Verdienst erworben.
(Beifall bei der SPD.)