Vortragsnotiz des Unterstaatssekretärs des Auswärtigen Amtes Martin Luther zum Empfang des bulgarischen Außenministers Popoff durch den Reichsaußenminister am 24. November 1941 [Rolle des Auswärtigen Amtes im Holocaust], 30. Dezember 1941

Einleitung

Das Auswärtige Amt (AA) war während der Zeit des Nationalsozialismus kein herausragender Ort des Widerstands. Die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes waren in ihrer Mehrzahl keine Helden, sondern bloß Zuschauer und Mitläufer, etliche wurden Täter. Selbst wenn die schlimmsten Vordenker der Vernichtung an anderen Schreibtischen saßen, so war doch in der Wilhelmstraße das gesamte Spektrum von Übereinstimmung, Opportunismus und Gleichgültigkeit vertreten. Ihre angebliche Weltläufigkeit hielt die Diplomaten nicht davon ab, der Diktatur zu Diensten zu sein, ihren Verbrechen zuzuarbeiten, auch selbst initiativ zu werden. Im Ausland deckten und verdeckten sie politisch und propagandistisch die Diktatur in Deutschland. Sie bereiteten den Zweiten Weltkrieg mit vor, halfen bei der Ausbeutung der Rohstoffe und Nahrungsmittel in Südost- und Osteuropa, legten selbst Hand an beim Raub von Kulturgütern. Aktiv beteiligte sich das AA auch an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Das AA – wie hätte es anders sein sollen – war einbegriffen in das Geschehen, war Teil des Ganzen; es war das Dritte Reich und hat nicht in irgendeinem Verhältnis dazu gestanden.

Es ist viel geschrieben worden über die bürokratische Gründlichkeit, mit der sich das AA an der „Endlösung“ beteiligt hat. Christopher Browning, Hans Jürgen Döscher und zuletzt Corry Guttstadt beschreiben, wie die Diplomaten der Ermordung der Juden zuarbeiteten. Magnus Brechtken stellt ein Verfolgungskonzept – den „Madagaskarplan“ – in den Mittelpunkt; dieser beabsichtigte im Kern auch die Vernichtung und wurde maßgeblich im AA vorgedacht. Sebastian Weitkamp beleuchtet mit Horst Wagner und Eberhard von Thadden zwei „Funktionäre der Endlösung“, die aber im AA nicht allein handelten, sondern hinter denen eine komplexe Behörde stand. In vielen Einzelstudien tauchen immer wieder einzelne Diplomaten oder das AA als Ganzes als „Beihelfer“ bei der Ermordung der europäischen Juden auf (pars pro toto die Studie von Gerlach und Aly über die Vernichtung der ungarischen Juden). In der einschlägigen Edition der „Akten zur deutschen auswärtigen Politik“ (ADAP) sind Dokumente in großer Zahl abgedruckt, die das Geschehen belegen.

Anhand der hier vorgestellten Vortragsnotiz lassen sich einige wesentliche Aspekte verdeutlichen, durch welche die Haltung des AA gekennzeichnet war. Der Vorgang, in dessen Kontext sie steht, zeigt die ganze Behörde in Aktion, nicht bloß randständige Angehörige des Auswärtigen Dienstes; es zeigt sich hier das Ministerium als Ganzes eingebunden in das Staatshandeln des Dritten Reichs. Das Bemühen um Camouflage erhellt nur umso stärker, wie verbreitet das Wissen um die Verbrechen war.

Nach 1933 hatte das AA zunehmend an Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten verloren. Grund dafür war das Misstrauen der NSDAP gegenüber der Ministerialbürokratie, insbesondere der spezifischen Funktionselite der Diplomaten. Im Krieg drohte dem AA die völlige Bedeutungslosigkeit, weil klassische diplomatische Arbeitsbereiche wegbrachen. Als nun nach der militärischen Besetzung großer Teile des Kontinents und der Radikalisierung der antijüdischen deutschen Politik hin zum Völkermord die Juden in ganz Europa der Verfolgung ausgesetzt waren, zeigte sich die Behörde als effizient darin, mit Hilfe der Auslandsvertretungen die Juden zu erfassen, zu enteignen und zu internieren. Dem rassistischen Wahn sollte keine Gruppe entgehen. In der Umsetzung des nationalsozialistischen Vernichtungswillens außerhalb des Reichs suchte sich das AA unentbehrlich zu machen, sich ein „exklusives Machtmonopol“ (Weitkamp) zu verschaffen, das den Machtverlust an anderer Stelle auszugleichen vermochte.

Augenfällig wurde dies durch die Schaffung neuer großer Arbeitseinheiten, die einen wesentlichen Teil des Amtshandelns übernahmen. Schon 1933 war ein Deutschlandreferat eingerichtet worden mit der Zuständigkeit für innerdeutsche Angelegenheiten, zu denen etwa in Folge der antijüdischen Gesetzgebung die „Staatenlosen“ sowie Ausbürgerungs- und Emigrantenangelegenheiten gehörten. Als Verbindungsstelle zur NSDAP bestand seit 1938 ein Sonderreferat Partei. Beide wurden 1940 zur Abteilung D (Deutschland) zusammengefasst. Im berüchtigten Referat D III (Judenfrage, Rassenpolitik) wirkte Franz Rademacher, der „Erfinder“ des Madagaskarplans. Hier wurden „Volkstumsangelegenheiten“, „Rassefragen“ und die antijüdischen Maßnahmen bearbeitet; hier hatte auch Martin Luther sein Wirkungsfeld.

Der 1895 geborene Luther war nach Herkunft, Ausbildung und Habitus kein Diplomat, er war ein Aufsteiger des NS-Milieus aus dem Umfeld von Joachim von Ribbentrop. Von ihm blieb Luthers sozialer Aufstieg völlig abhängig. (Er endete abrupt, als Luther Anfang 1943 eine Palastrevolte gegen seinen Gönner anzettelte.) Seine Vortragsnotiz zeigt eindrücklich, wie sehr Luther als Unterstaatssekretär im Zentrum der Judenpolitik des AA stand und diese mit prägte. Nur wenige Wochen nach der Niederschrift nahm Luther für das AA an der Wannseekonferenz teil, auf der die Einzelheiten des Vernichtungsvorhabens festgelegt wurden.

Am 24. November 1941 war es anlässlich des Besuchs des bulgarischen Außenministers Iwan Wladimir Popoff zu einer Unterredung mit Ribbentrop gekommen. Dabei waren die Schwierigkeiten angesprochen worden, die die bulgarische Regierung mit der Durchführung antijüdischer Gesetze hatte. Häufig waren die Juden Angehörige von Drittstaaten, weshalb ihnen die gleichen Rechte zustanden wie ihren nichtjüdischen Landsleuten und eine „Sonderbehandlung“ (ADAP D XIII, Dok. 504) nicht in Frage kam. Eine Zeit lang hatten sich auch die deutschen Diplomaten darum bemüht, zumindest die Juden aus neutralen Ländern von der Diskriminierung auszunehmen, um außenpolitische Verwicklungen zu vermeiden. Ende des Jahres 1941 sollte damit so weit wie möglich Schluss sein. Ribbentrop wies seinen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker zur „Prüfung und Weiterbehandlung“ an, dieser leitete den Vorgang der zuständigen Abteilung und damit Luther zu, der sich die hier abgedruckte Vortragsnotiz von seinem Referenten Rademacher schreiben ließ. Im Laufe des Dezembers fragte von Weizsäcker während der morgendlichen Direktorenrunde zweimal nach dem Fortgang der Angelegenheit. Die Notiz nimmt Bezug auf die berüchtigte „Prophezeiung“ Hitlers vom 30. Januar 1939 vor dem Reichstag: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ Nachdem der Krieg seit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und durch die Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941 zum Weltkrieg geworden war, sah Luther augenscheinlich den Zeitpunkt gekommen, den Worten Hitlers Taten folgen zu lassen. Hierzu sollten die unter dem Einfluss Deutschlands stehenden Staaten (die im Antikominternpakt verbundenen europäischen Staaten waren Italien, Ungarn, Spanien, Bulgarien, Dänemark, Finnland, Kroatien, Rumänien und Slowakien) und andere, die sich dazu bewegen ließen, „die deutsche Judengesetzgebung [zu] adoptieren“. Außenpolitische Rücksichten ließ Luther nur hinsichtlich den USA gelten, wenn wirtschaftliche Nachteile zu befürchten waren. Die Intention, von Deutschland abhängige Regierungen zu Komplizen der beabsichtigten Verbrechen zu machen, ist offenkundig.

In einem in diesen Zusammenhang gehörenden Gutachten gab die Rechtsabteilung des AA entsprechende Ratschläge (verfasst hat es der spätere Richter am 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts Conrad Roediger). Sehr deutlich wurden hier die politischen Probleme benannt, die sich hinsichtlich derjenigen Staaten stellten, die dem deutschen Vorhaben gegenüber unwillig waren oder es ablehnten. Nach Ansicht der Juristen im AA sollte deshalb wenigstens mit denjenigen Staaten, die zu solchen Bindungen bereit waren, vertraglich vereinbart werden, dass diese für ihre jüdischen Staatsangehörigen auf die meist aus Handels- und Niederlassungsverträgen resultierenden Rechte verzichteten.

Der Aktenzusammenhang zeigt, wie wenig tragfähig die Einschätzung ist, es habe so etwas wie zwei Auswärtige Dienste gegeben, einen unbelasteten der traditionellen Diplomatenelite und einen unter nationalsozialistischem Einfluss hinzugekommenen, den man dem AA nicht zurechnen könne oder dürfe. Die Deutschlandabteilung bzw. seit April 1943 die Referategruppe Inland II agierten nicht etwa unabhängig vom Rest des Ministeriums. Es waren mitnichten nur Außenseiter, die in der Wilhelmstraße willig die antijüdische Politik mit umsetzten. Das Judenreferat hat als integraler Bestandteil des AA operiert. Die anderen Arbeitseinheiten des AA kooperierten sowohl bei den gegen die Juden gerichteten Maßnahmen, bei deren Tarnung sowie bei der antijüdischen Propaganda. Prägnante Beispiele sind der Umgang mit den Interventionen fremder Regierungen zugunsten einzelner oder Gruppen von Juden, die vom AA mitgetragenen Verschleierungsmanöver in Theresienstadt und Bergen-Belsen sowie die von der britischen Regierung initiierten Verhandlungen mit dem Schweizer Diplomaten Feldscher über die Ausreise jüdischer Kinder aus Osteuropa.

Die der Geheimhaltung dienenden Täuschungen waren das eine, die Beihilfe zum Judenmord das andere. Das AA kooperierte eng mit dem Reichssicherheitshauptamt bei den Deportationen aus allen erreichbaren (verbündeten oder besetzten) Ländern Europas. Man wird davon ausgehen müssen, dass die Mittäter im AA wussten und auch wollten, was sie taten. Sie entfalteten eigene Initiative und mussten zu nichts gedrängt werden. Und das Wissen um den Charakter der Verbrechen darf, ja muss aus heutiger Sicht ohne Zweifel unterstellt werden.

Martin Kröger