Plakat des Kindersuchdienstes der Zonenzentrale München des Deutschen Roten Kreuzes, ca. 1947

Einleitung

Als am 9. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg endete, stellte das zugleich den Beginn der größten Menschensuche aller Zeiten dar. Millionen Europäer waren durch Zwangsumsiedlungen, Sklavenarbeit, Verschleppung in Konzentrationslager, das Kriegsgeschehen sowie Flucht und Vertreibung von ihren Familienangehörigen getrennt worden. Ihre Ursache hatten diese enormen sozialen Verwerfungen in der Eroberungs- und Vernichtungspolitik, die das Dritte Reich zusammen mit seinen faschistischen Bündnispartnern seit 1933 betrieben hatte. Im Windschatten des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der Wehrmacht gegen Polen und die Sowjetunion hatte sich das NS-Regime daran gemacht, seine mörderischen Rassenutopien wahr zu machen und Millionen von Menschen – vor allem Juden, Polen, Russen – zu unterwerfen, zu vertreiben, zu deportieren und schließlich auch zu ermorden. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, wollten zurück in ihre Heimat und suchten nun nach ihren Angehörigen.

Dazu gehörten schätzungsweise auch 20 Millionen Deutsche; der nationalsozialistische Vernichtungskrieg hatte am Ende auch das Dritte Reich selbst eingeholt. In den letzten Kriegsmonaten waren über elf Millionen Wehrmachtssoldaten in Kriegsgefangenschaft geraten. Aufgrund der Weigerung der UdSSR, die Zweite Genfer Konvention von 1929 zur Behandlung von Kriegsgefangenen zu unterschreiben, blieb vor allem das Schicksal der ca. drei Millionen deutschen Soldaten, die in sowjetisches Gewahrsam kamen, längere Zeit ungeklärt.

Daneben suchten auch Millionen von Zivilisten nach ihren Angehörigen, die sog. Flüchtlinge und Vertriebenen. Sie stammten aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs, aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg, sowie den deutschen Siedlungsgebieten in Ostmitteleuropa, u.a. aus dem Sudetenland. Das NS-Regime hatte diese Gebiete trotz der sich abzeichnenden Niederlage Deutschlands im Herbst 1944 zum Kampfgebiet erklärt und aus ideologischen Gründen eine geordnete Evakuierung der Zivilbevölkerung in den Westen verboten; "deutscher Boden" sollte unter keinen Umständen preisgegeben werden.

Die Folge war eine chaotische Massenflucht von Frauen, Kindern und alten Menschen, als die Rote Armee im Januar 1945 ihre Winteroffensive startete und auf breiter Front die deutschen Reichsgrenzen überschritt. Tausende Familien verloren sich in den Flüchtlingsströmen Richtung Westen aus den Augen: auf Bahnhöfen beim Versuch, einen Platz in einem der letzten nach Westen abgehenden Züge zu erkämpfen oder bei der Einschiffung auf die völlig überfüllten Transporter der Deutschen Kriegsmarine, die erst in den letzten Kriegswochen eine Evakuierung der deutschen Zivilbevölkerung über die Ostsee einleitete.

Von denen, die in den Ostgebieten und den deutschen Siedlungsgebieten verblieben waren, wurden dann noch einmal fünf Millionen Menschen nach Westen deportiert und mussten ihr gesamtes Hab und Gut hinter sich lassen. Das geschah im Rahmen des Potsdamer Abkommens. Darin schrieben die Alliierten u.a. die Oder-Neiße-Linie als östliche Grenze des nunmehr in vier Besatzungszonen geteilten Deutschlands fest. Die östlich davon gelegenen Gebiete wurden Polen und der Sowjetunion zugeschlagen. Die dort lebende deutsche Bevölkerung hatte das Land zu verlassen. Zu zerrüttet waren nach der extrem grausamen nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft die Beziehungen zwischen Deutschen auf der einen und Polen, Tschechen und Russen auf der anderen Seite, als dass ein Zusammenleben weiterhin als möglich angesehen wurde. Hinzu kamen Rachegefühle. Ökonomische Interessen spielten ebenso eine Rolle: Gerade die Staaten, die unter nationalsozialistischer Besatzungspolitik vollständig ausgeplündert worden waren, sahen in der gewaltsamen Enteignung der Vertriebenen eine Art Kompensation. Schließlich hing man auch in Polen und der Tschechoslowakei der damals verbreiteten Vorstellung ethnisch homogener Räume an; für deutsche Minderheiten war da kein Platz mehr. Bei den anschließenden Deportationen der Deutschen, die sich bis 1948 hinzogen, wurden schließlich erneut Familien auseinander gerissen.

Mindestens 200.000 deutsche Zivilisten ereilte ein noch schlimmeres Schicksal: Sie wurden als sog. Westarbeiter in die Sowjetunion deportiert, wo sie zur Wiedergutmachung der riesigen von Deutschland verursachten Kriegsschäden Zwangsarbeit in einem eigens errichteten Lagersystem für Zivilinternierte leisten mussten. Etliche kamen erst in den 1950er Jahren wieder auf freien Fuß und durften in einen der beiden neu entstandenen deutschen Staaten ausreisen.

Um den ungewissen Verbleib dieser Menschen zu klären, entstanden nach Kriegsende gleich an mehreren Orten in den alliierten Besatzungszonen Deutschlands sog. Suchdienste, eine Wortneuschöpfung des Jahres 1945. Die Initiative hierfür ging sowohl von Privatpersonen mit meist kommerziellem Interesse als auch von Hilfsorganisationen aus. Dazu zählte neben dem eigens gegründeten Hilfswerk der EKD, der katholischen Caritas auch das Deutsche Rote Kreuz. Mit Hilfe des später berühmten Soziologen Helmut Schelsky errichtete die Nothilfeorganisation bereits um 1945 im Westen zwei zentrale Anlaufstellen für Suchfälle in Hamburg und München.

Die Schwierigkeiten, die sich den Helfern anfangs entgegenstellten, waren enorm: Neben finanziellen Problemen und dem katastrophalen Zustand von Infra- und Telekommunikationsstrukturen erschwerte auch die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die Abtrennung der früheren Ostgebiete die landesübergreifende Sucharbeit erheblich. Hinzu kam das durchaus begründete Misstrauen der Alliierten gegenüber dem Deutschen Roten Kreuz. Das DRK, das sich nach 1933 selbst gleichgeschaltet hatte, war nach 1939 zu einer wichtigen paramilitärischen Organisation des Dritten Reichs geworden. Nach Kriegsende befürchteten die Alliierten, das DRK werde mit Hilfe seiner Personalunterlagen versuchen, die Wehrmacht heimlich wiederaufzubauen. Vor allem die Amerikaner sahen die Gefahr eines Wiederauflebens der Schwarzen Reichswehr. Die Schwarze Reichswehr war eine Schattenarmee gewesen, die nach dem Ersten Weltkrieg von rechtsradikalen Gruppierungen mit Unterstützung der regulären Armee gegründet worden war, um die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags zu unterlaufen.

Das Misstrauen der Alliierten hatte vor allem zwei Konsequenzen. Zum einen stand das Deutsche Rote Kreuz unter starker Kontrolle der Alliierten. Zum anderen durften alle deutschen Suchdienste nur nach Deutschen suchen; Opfer und Täter sollten nicht noch einmal aufeinander treffen, so der Wille der Alliierten. Für die Überlebenden des Holocausts und die vielen ausländischen Zwangsarbeiter, die ins Deutsche Reich verschleppt worden waren, wurde deswegen der Internationale Suchdienst im hessischen Arolsen als Einrichtung der UNO zuständig.

Aber auch die deutsche Seite verhielt sich anfangs gegenüber der Arbeit des DRK und der anderen Suchdiensteinrichtungen zurückhaltend. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre wurden Forderungen aus der Politik laut, die Suche nach den Vermissten des Zweiten Weltkriegs einzustellen. Das hatte zwar primär finanzielle Gründe, verweist aber auf einen insgesamt umfassenderen Willen von Teilen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, unter die jüngste Vergangenheit einen Schlussstrich zu ziehen.

Unterstützung erhielten die Hilfseinrichtungen in dieser Situation von so einflussreichen Politikern wie Gustav Heinemann, dem späteren Bundespräsidenten. Heinemann hielt die Suchdienstarbeit nicht nur eine moralische Pflicht des Staates. Er erkannte darin zudem ein probates Mittel, mit den Ländern des Ostblocks in Kontakt zu treten und die nach der Kubakrise von 1962 eingeleitete Entspannungspolitik voranzutreiben.

Die Regierung Adenauer begriff schließlich die Suche nach Vermissten als staatliche Pflicht im Rahmen der sog. Kriegsfolgenbeseitigung und stellte die Finanzierung der Arbeit sicher. In der Folge baute das DRK eine bis dahin weltweit einzigartige Institution auf, die später auch zum Vorbild für Suchdienste in anderen Staaten werden sollte. Über 600 Mitarbeiter beschäftigte das DRK in seiner Hochzeit und setzte bei der Entwicklung seiner Recherchemethoden Maßstäbe. So befragte man systematisch 1,9 Millionen aus dem Osten heimkehrende Soldaten, verbreitete über Printmedien, Radio und die Wochenschau im Kino massenhaft Suchanzeigen und betrieb einen umfangreichen Datenabgleich mit zahlreichen anderen Einrichtungen im In- und Ausland. Vor allem aber beruhte die Arbeit des Suchdienstes auf Karteikartenarbeit. Dazu baute die Organisation eine riesige Zentralkartei mit mehr als 52 Millionen Karteikarten und mehrere Spezialkarteien auf.

Gerade die Suche nach vermissten Kindern und deren ungeklärte Schicksale wurden vom DRK aber auch benutzt, um die Berechtigung der eigenen Arbeit in der Öffentlichkeit und gegenüber der Politik zu unterstreichen. Eine gute Möglichkeit, für den Suchdienst zu werben und gleichzeitig Fälle zu lösen, war die Veröffentlichung von Suchmeldungen, Suchdienstplakaten und Einzelschicksalen in den Printmedien. Die Zeitschriften waren ihrerseits sehr daran interessiert, möglichst dramatische, d.h. Auflagen steigernde Geschichten abdrucken zu dürfen. Die eigens aufgebaute Abteilung Kindersuchdienst des DRK geriet so zum Aushängeschild der gesamten Organisation.

Dass damit gleichzeitig der Selbstviktimisierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft Vorschub geleistet wurde, ist eine der negativen Folgen der Suchdienstarbeit: Da sich viele Bürger der Bundesrepublik als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft verstanden, trat die Frage nach dem eigenen Handeln im Dritten Reich und das Gedenken vor allem an die jüdischen Opfer vielfach völlig in den Hintergrund. Das Schicksal deutscher Kinder, die ja nun tatsächlich unschuldig waren, bot sich für eine derartige Operation in besonderem Maße an.

Das Agieren des Suchdienstes und die öffentliche Diskussion um seine Arbeit ist deshalb auch im Kontext der westdeutschen "Vergangenheitspolitik" in der Ära Adenauer zu sehen. Darunter ist nicht nur die vergleichsweise milde Behandlung von NS-Straftätern zu fassen. Dazu gehörte auch, bei den Opfern von Diktatur und Krieg nicht mehr zu differenzieren, sondern alle unterschiedslos zu Kriegsgeschädigten zu erklären. Ziel war die innere Integration des neuen Staates. Anders als bis heute immer wieder in der Öffentlichkeit behauptet, wurde über deutsche Kriegsopfer seit Gründung der Bundesrepublik durchaus gesprochen; von einem wie auch immer gearteten Tabu kann keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Gerade das Schicksal der Bombenopfer von Dresden und eben der Vertriebenen und Kriegsvermissten wurde immer wieder für politische Zwecke bemüht. Das zeigt nicht zuletzt das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa". Das von der Adenauer-Regierung 1951 initiierte Projekt sollte vor allem Gewaltverbrechen an Deutschen dokumentieren und damit die westdeutsche Verhandlungsposition bei etwaigen Friedensgesprächen mit den Alliierten stärken. Noch weiter gingen einige Vertriebenenverbände wie die Sudetendeutsche Landsmannschaft, die 1951 gar von einem "Völkermord" an den im Osten lebenden Deutschen sprach und damit unzulässig die Vertreibung mit dem Holocaust an den europäischen Juden gleichsetzte.

In diesem Zusammenhang sind schließlich auch die Versuche des DRK zu verstehen, deutsche Kriegsverbrecher vor der alliierten Strafverfolgung zu bewahren. Wie 1968 durch einen Spiegel-Artikel bekannt wurde, hatte der damalige Leiter des Suchdienstes Kurt Wagner NS-Täter vor dem Zugriff vor allem der französischen Justiz gewarnt. Wagner, der im Dritten Reich im Bildungsbereich der NSDAP tätig gewesen war, riet den Betreffenden, sie sollten nicht ins westliche Ausland reisen, da sie dort in Abwesenheit zu langjährigen Haftstrafen bzw. zum Tode verurteilt worden waren. Zu denen, die wohl auf diese Weise ihrer Strafe entgingen, gehörte auch Alois Brunner. Brunner war als enger Mitarbeiter Adolf Eichmanns verantwortlich für die Deportation von mehr als 100.000 Juden in die Vernichtungslager des Dritten Reichs.

Ungeachtet dieser skandalösen Machenschaften leistete das Deutsche Rote Kreuz insgesamt betrachtet eine ausgesprochen wichtige Aufgabe. Bis heute konnten alle deutschen Suchdienste das Schicksal von knapp 16 Millionen gesuchten Menschen aufklären helfen; lediglich etwa 1,3 Millionen gelten auch weiterhin als verschollen. Allerdings bedeutete Schicksalsklärung nicht nur, dass Suchende und Gesuchte wieder zusammenfanden. Die Suchdienstrecherchen ergaben oftmals auch, dass der Gesuchte im Krieg oder während Flucht und Vertreibung gestorben war.

Wie viele Menschen während Flucht und Deportationen genau ums Leben kamen und vor allem unter welchen Umständen, ist trotz der Erhebungen der Suchdienste und staatlicher Stellen bis heute nicht ganz klar. Lange Zeit ging man von zwei Millionen Vertreibungstoten aus. In der Zeitgeschichtsforschung werden diese Angaben jedoch neuerdings in Zweifel gezogen. So sprechen Rüdiger Overmans und Ingo Haar von lediglich 500.000 Opfern. Beide gehen von statistischen Fehlern und teils auch von bewussten Zahlenmanipulationen aus. So weisen sie vor allem darauf hin, dass man die Zahl der ungeklärten Fälle bislang unzulässig als Todmeldungen interpretiert habe. Außerdem habe man im Osten lebende Deutsche, die noch von den Nationalsozialisten umgesiedelt worden waren, bei der Vertreibungsstatistik berücksichtigt. Schließlich handle es sich bei vielen ungeklärten Fällen nicht um zivile Vertreibungsopfer, sondern um Soldaten, die in der letzten Kriegsphase gefallen seien.

Unberücksichtigt bleibt bei Haar und Overmans aber wiederum die Zahl der Opfer, die an den Folgen der Vertreibung in der DDR oder der Bundesrepublik verstarben. Außerdem lassen sich Kriegs- und Vertreibungsopfer nicht so klar trennen, wie das Haar und Overmans tun. Es bestehen somit weiterhin beträchtliche statistische Unschärfen. Hier muss deshalb künftig verstärkt historische Forschung ansetzen, um zu valideren Aussagen über das Ausmaß der Opfer zu kommen. Auch die Suchdienstarbeit des Deutschen Roten Kreuzes, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Unterlagen von russischen und polnischen Stellen über deutsche Kriegsgefangene und Zivilinternierte erhielt, kann zu einer weiteren Aufklärung der noch offenen Problemkreise beitragen.

Die Suchdienste leisteten nach 1945 schließlich auch eine wichtige Voraussetzung für die allerdings durchaus konfliktträchtige Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, indem sie deren Familien wieder zusammenführte und damit für eine Teilnormalisierung der Lebensumstände in der neuen, noch fremden Heimat sorgte. Die Tatsache, dass es in Deutschland nach 1945 überhaupt Suchdienste bedurfte, ist letztlich beredter Ausdruck dafür, in welche nachhaltige Unordnung die deutsche Gesellschaft durch nationalsozialistische Diktatur und Zweiter Weltkrieg geraten war.

Patrick Bernhard