Thesen zum gegenwärtigen Moment (vorgeschlagen dem 7. Parteitag durch die Gegner des Friedensvertrages)

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Thesen zum gegenwärtigen Moment (vorgeschlagen dem 7. Parteitag durch die Gegner des Friedensvertrages)
8. März 1918
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Die „Thesen zum gegenwärtigen Moment“, die die Linken Kommunisten dem VII. (außerordentlichen) Parteitag der RSDRP(b) vorlegten, sind ein Schlüsseldokument für die Geschichte der innerparteilichen bolschewistischen Opposition gegen den Brester Frieden. Darin wurden die Argumente gegen den Friedensvertrag mit Deutschland zusammengefasst und seine Annullierung gefordert. Stattdessen sollte der Krieg in einen „revolutionären Weltbürgerkrieg“ mit dem Ziel der „Weltrevolution“ umgewandelt werden. Auf Druck Lenins wurden die „Thesen“ von der Mehrheit der Delegierten abgelehnt und die Ratifizierung des Friedensvertrages beschlossen. Damit stellte er die Sicherung des Erreichten vor die „Weltrevolution“. Die Ergebnisse des Parteitages begünstigten zugleich die weitere Entwicklung des Staates zur Einparteiendiktatur und zum Bürgerkrieg.

von: Aleksandr Šubin, 2011 (aktualisiert 2024)


Der Friede von Brest war ein Wendepunkt in der Geschichte der russländischen Revolution und zugleich eines der umstrittensten Themen ihrer Historiographie. In den 1920er Jahren zwangen die Parteidisziplin und die Logik des ideologischen Kampfes alle Führer der kommunistischen Opposition, die Position Lenins in der Friedensfrage anzuerkennen. Nach der Etablierung des Stalin-Regimes und der Beschuldigung Bucharins, eine „Verschwörung“ gegen die UdSSR angezettelt zu haben, wurde die Episode mit den Linken Kommunisten als Beginn seiner „Verschwörungstätigkeit“ interpretiert, was eine einigermaßen objektive Betrachtung des Kampfes auf dem VII. Parteitag unmöglich machte. Dabei waren die Argumente der Opposition durch die Veröffentlichung der Dokumente des VII. (außerordentlichen) Parteitages der RSDRP(b) 1923 bereits in vollem Umfang bekannt geworden. Einer der Führer der Opposition – Lev Trockij – legte in seinen Memoiren „Mein Leben“ (1930) die Motive für seine Haltung zum Brester Frieden dar.

Erst in den 1960er Jahren griff die sowjetische Geschichtswissenschaft das Thema wieder auf. Ihre Position wurde weiterhin durch den offiziellen Kurs der „Geschichte der KPSS“ bestimmt. Obwohl der Topos der „Verschwörung“ aus den Interpretationen verschwand, wurden die Positionen Bucharins und Trockijs nach wie vor als schädlich für die „einzig wahre“ leninsche Linie interpretiert. Soweit es damals möglich war, wurde das Thema des Kampfes um den Brester Frieden in der Arbeit von A. Čubar'jan „Der Brester Frieden“ (1963) dargelegt. In der westlichen Sowjethistoriographie wurde das Thema des Brester Friedens in allen umfassenden Darstellungen der Geschichte der kommunistischen Partei behandelt. Die Haltung der Linkskommunisten diente in diesen Studien als Hintergrund, vor dem sie Lenins Politik beschrieben – eine Politik, die Machiavellismus und Pragmatismus in einer Weise verband, wie sie für linke Idealisten unvorstellbar war. Nicht nur R. Pipes, sondern auch der Bucharin-Biograph S. Cohen verstanden den Führer der Linken als einen radikalen Idealisten.

Obwohl sich nach Beginn der Perestrojka der Zugang zu historischen Quellen und die Freiheit des wissenschaftlichen Denkens erweiterte, ging auch die bedeutendste russische Studie dieser Zeit – die Monographie von I. Ksenofontov „Der begehrte und verhasste Frieden“ – von orthodoxen leninschen Positionen aus. Allerdings wurden in dieser Arbeit die Motive der Friedensgegner ausführlicher dargestellt als zuvor. Die gleichzeitig erschienene Monographie des amerikanischen Historikers Yuri Felshtinsky „Der Untergang der Weltrevolution. Brester Frieden, Oktober 1917 – November 1918“ vertrat einen eindeutig antileninschen Standpunkt. Eine detaillierte Darstellung der Mechanismen des politischen Kampfes verband sich hier mit unzureichend belegten Hypothesen (sie bezogen sich auf den Konflikt zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären), die die Überzeugungskraft der Arbeit schwächten. Felshtinsky lehnte jedoch die etablierte Meinung ab, die Lenins Position als pragmatisch und die seiner Gegner als emotional und idealistisch bewertete. Er zeigte, dass die Motive der Friedensgegner auch auf rationalen Argumenten beruhten. Die vorliegenden „Thesen“ bestätigen dies in aller Deutlichkeit.

Seit Februar 1917 wurde der Friedensschluss zur Schlüsselfrage der russischen Politik. Die Haltung der Bolschewiki zu dieser Frage, die sich im Hinblick auf die künftige Machteroberung als strategisch bedeutsam erweisen sollte, artikulierte sich in zwei Forderungen: Erstens müsse ein Frieden geschlossen werden, wenn auch ein Separatfrieden; und zweitens müsse dieser Frieden für Russland ehrenvoll sein und keine Annexionen und Kontributionen beinhalten. Nachdem die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht erobert und im Dezember 1917 einen Waffenstillstand mit den Deutschen geschlossen hatten, wurden die deutsch-russischen Verhandlungen im Dezember 1917 in Brest-Litovsk wieder aufgenommen. Sie zeigten schnell, dass die deutsche Seite nahm die Parole eines „Friedens ohne Annexionen und Kontributionen“ nicht ernst nahm; sie wertete die Bemühungen Russlands um einen Separatfrieden als Beweis seiner Niederlage und diktierte Bedingungen, die sowohl Annexionen als auch Kontributionen vorsahen. Am 18. Januar 1918 legte die deutsche Delegation der sowjetischen Seite eine Karte vor, auf der eine Linie eingezeichnet war, die fast mit der Frontlinie übereinstimmte. Westlich davon lagen Polen, Litauen und Kurland, auf deren Rechte Russland verzichten sollte.

Darüber hinaus versuchten Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich die Tatsache auszunutzen, dass Sowjetrussland Polen, Finnland und den Völkern des Kaukasus und der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht gewährte, während es gleichzeitig den Machtkampf der Kommunisten in diesen Gebieten unterstützte. Die Länder des Vierbundes forderten Nichteinmischung in die Angelegenheiten dieser Staaten und hofften, deren Ressourcen nutzen zu können, die für den Sieg im Krieg unentbehrlich schienen. Russland hingegen brauchte diese Ressourcen für den Wiederaufbau seiner Wirtschaft. Das demütigende Abkommen mit den „Imperialisten“ war für die Revolutionäre unannehmbar – sowohl für die Bolschewiki als auch für ihre Regierungspartner, die Linken Sozialrevolutionäre. Deshalb wurde im Rat der Volkskommissare und im CK der RSDRP(b) beschlossen, dass der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Trockij die Verhandlungen so lange wie möglich hinauszögern und im Falle eines deutschen Ultimatums zu Beratungen nach Petrograd zurückkehren sollte.

Am 9. Februar unterzeichneten die Staaten der Vierbundes einen separaten Friedensvertrag mit Vertretern der Ukrainischen Volksrepublik (UNR), die ihre Unabhängigkeit erklärt hatte und erfolglos gegen Sowjetrussland gekämpft hatte. Deutschland und seine Verbündeten planten, Trockij in naher Zukunft ein Ultimatum zu stellen und ihre Truppen auf Einladung der UNR in deren Gebiet einmarschieren zu lassen. Am 10. Februar 1918 verkündete Trockij seine Weigerung, den annektierten Friedensvertrag zu unterzeichnen, erklärte jedoch das Ende des Kriegszustandes und die Demobilisierung der Armee: "Wir können die Gewalt nicht heiligen. Wir ziehen uns aus dem Krieg zurück, aber wir müssen uns weigern, den Friedensvertrag zu unterzeichnen."

Lenin, der angesichts des Zerfalls der alten Armee, der verbreiteten Friedenssehnsucht und des drohenden Bürgerkriegs einen Krieg gegen Deutschland für unmöglich hielt, forderte am 18. Januar die Annahme des Ultimatums, um der Sowjetmacht eine „Atempause“ zu verschaffen. Im Rat der Volkskommissare und dem CK der RSDRP(b) entbrannte eine heftige Diskussion. Lenin, der zugab, dass der Frieden schwierig und demütigend, ja „schändlich“ sei, warf Trockij vor, die Parteidisziplin verletzt zu haben, was schwerwiegende Folgen haben werde: Die Deutschen würden die Offensive wieder aufnehmen und Russland zwingen, einen Frieden unter härteren Bedingungen zu akzeptieren. Trockij gab die Parole aus: „Weder Frieden noch Krieg, und die Armee ist aufzulösen“. Dies bedeutete den Verzicht auf die Unterzeichnung eines Friedensvertrages bei gleichzeitiger Einstellung der Kampfhandlungen und die Auflösung der alten zarischen Armee. Durch die Verzögerung des Friedensschlusses hoffte Trockij, dass Deutschland seine Truppen nach Westen verlegen würde. In diesem Fall wäre die Unterzeichnung des demütigenden Friedens hinfällig geworden.

Die Linken Kommunisten unter Bucharin und die Mehrheit der Linken Sozialrevolutionäre waren ihrerseits der Meinung, dass man die „unterdrückten Völker“ der Ukraine, des Baltikums und anderer Länder Europas nicht der Willkür des imperialistischen Deutschlands überlassen dürfe und gezwungen sei, einen „revolutionären Krieg“, einen „Partisanenkrieg“ gegen den „deutschen Imperialismus“ zu führen. Einen solchen Krieg würde das erschöpfte Deutschland nicht aushalten. Sie hielten den Krieg ohnehin für unvermeidlich, da die Deutschen Sowjetrussland in jedem Fall weiter unter Druck setzen würden, um es zu ihrem Vasallen zu machen. Außerdem, so argumentierten sie, würde der Frieden die Anhänger der Sowjetmacht demoralisieren und der deutschen Regierung zusätzliche Mittel zur Überwindung der sozialen Krise verschaffen. Die Mehrheit des CK stimmte Trockij und Bucharin zunächst zu. Die Position der Linken wurde von der Moskauer und der Leningrader Parteiorganisation sowie von etwa der Hälfte der Parteiorganisationen des Landes unterstützt.

Während im Rat der Volkskommissare und im CK der RSDRP(b) heftige Debatten stattfanden, gingen die Deutschen am 18. Februar zur Offensive über und verlangten, dass auch Estland und Livland (heute das Gebiet von Estland und Lettland) geräumt werden sollten. Am 3. März 1918 eroberten deutsche Soldaten Estland, Narva und Pskov und bedrohten Petrograd. Am 1. März besetzten deutsch-österreichische Truppen Kiew. Die Einheiten der Bolschewiki und die Reste der alten Armee konnten der deutschen Offensive keinen erfolgreichen Widerstand leisten. Aber auch die Deutschen konnten ihren Vormarsch ins Landesinnere nicht fortsetzen.

Lenin, für den die „Machtfrage“ die „Schlüsselfrage jeder Revolution“ war, erkannte, dass ein breiter Widerstand gegen den deutschen Vormarsch nur mit einer stärkeren Unterstützung möglich war, als sie die Sowjetmacht zu diesem Zeitpunkt besaß. Das bedeutete, dass eine Fortsetzung des Krieges zu einer „Machtverschiebung“ von den Bolschewiki und den Linken Sozialrevolutionären hin zu einer breiteren politischen Koalition führen würde, in der die Bolschewiki ihre Führungsposition nicht behaupten könnten. Deshalb war für Lenin eine Fortsetzung des Krieges mit der Folge oder Gefahr eines Vorstoßes ins Landesinnere inakzeptabel. Nachdem Lenin auf Widerstand gestoßen war, drohte er für den Fall, dass die „schädlichen“ Friedensbedingungen nicht akzeptiert würden, mit seinem Rücktritt – einem Schritt, der unter den gegebenen politischen Bedingungen einer Spaltung der bolschewistischen Partei gleichgekommen wäre. Trockij seinerseits erkannte, dass die Spaltung der bolschewistischen Partei einen wirksamen Widerstand gegen den deutschen Einmarsch unmöglich machen würde. Aus dieser Einsicht heraus gab er seinen Widerstand allmählich auf und enthielt sich bei der Abstimmung über den Friedensschluss im CK am 23. Februar der Stimme. Lenin gewann die Mehrheit im CK der Bolschewiki und setzte sich damit auch im Rat der Volkskommissare und im Allrussischen Zentralexekutivkomitee durch, wo die Bolschewiki die Mehrheit hatten. Am 3. März unterzeichnete eine sowjetische Delegation unter Grigorij Sokolnikov in Brest-Litovsk den Frieden. Russland verzichtete auf seine Ansprüche auf Finnland, die Ukraine, das Baltikum und Teile des Kaukasus.

Der Brester Frieden wurde zu einer wichtigen Etappe in der Genese der bolschewistischen Diktatur. Erstens entzog er der Koalition mit den Linken Sozialrevolutionären die Grundlage – sie verließen am 3. März die Regierung. Zweitens zerstörte die Besetzung der Ukraine durch die Deutschen und die anschließende Expansion am Don die Verbindungen zwischen dem Zentrum und den Getreide- und Rohstoffgebieten. Gleichzeitig begannen die Entente-Staaten in Russland zu intervenieren, um die Verluste auszugleichen, die sie durch die russische Kapitulation erlitten hatten. Die Besetzung der Ukraine und anderer Regionen verschärfte die Versorgungsprobleme und die Gegensätze zwischen Stadt und Land. Die Vertreter der Bauernschaft in den Sowjets, die Linken Sozialrevolutionäre, begannen nun eine Agitationskampagne gegen die Bolschewiki. Drittens wurde die Kapitulation gegenüber Deutschland zu einer Herausforderung für das Nationalgefühl des russischen Volkes und brachte Millionen von Menschen gegen die Bolschewiki auf. Solchen Stimmungen konnte sich nur eine strenge Diktatur widerstehen.

Der Frieden mit Deutschland bedeutete keine Abkehr von der Idee der Weltrevolution. Die bolschewistische Führung erkannte, dass ohne einen revolutionären Ausbruch in Deutschland das isolierte Sowjetrussland den Übergang zum Aufbau des Sozialismus nicht bewältigen konnte. Durch die Revolution in Deutschland wurde der Friedensvertrag dann gegenstandslos; unmittelbar nach Ausbruch der Novemberrevolution wurde er am 13. November 1918 aufgekündigt.

Diese Fragen wurden auf dem VII. (außerordentlichen) Parteitag der RSDRP(b) vom 6. bis 8. März 1918 erörtert. An der Abstimmung über den Friedensvertrag nahmen 47 Delegierte mit entscheidender Stimme und 59 Delegierte mit beratender Stimme (darunter Lenin und Bucharin) teil. Lenin hielt auf dem Parteitag eine Rede, in der er die Notwendigkeit der Ratifizierung des Friedensvertrags begründete. Schon eine kleine Offensive der Deutschen würde Russland unweigerlich in den Untergang führen. Bucharin trat mit einem Koreferat gegen den Frieden auf und bewies seinerseits, dass der Frieden keine Atempause gewähren würde, dass „das Schaffell der Gerbung nicht lohne“ und dass die negativen Folgen des Friedens viel größer seien als seine positiven. Notwendig sei ein unverzüglicher „revolutionärer Krieg gegen den deutschen Imperialismus“, der als Partisanenkrieg beginnen und nach der Stärkung der Roten Armee und der Schwächung Deutschlands, das gleichzeitig in Kämpfe an der Westfront verwickelt sei, in einen regulären Krieg übergehen müsse. M. Urickij, K. Radek, G. Oppokov, A. Bubnov, D. Rjazanov und einige andere stimmten dieser Position entschieden zu.

Die Grundaussagen seines Vortrags legte Bucharin noch einmal in den „Thesen“ dar. Ziel dieses Dokuments war es, die Delegierten dazu zu bewegen, gegen die Ratifizierung des Brester Friedens zu stimmen und den Kurs auf einen „revolutionären Krieg“ zu billigen. Die „Thesen“ fassten die wichtigsten Argumente zusammen, die dafür sprachen, dass der Frieden keine reale „Atempause“ bringen würde, während ein „revolutionärer Krieg“ der Festigung der revolutionären Bewegung in Russland und in der Welt und letztlich der Weltrevolution dienen würde. In einem Punkt waren Lenin und seine Anhänger jedoch nicht zu bekehren: in ihrer Überzeugung, dass die Sowjetmacht eine Atempause brauche, um wieder zu Kräften zu kommen. Eine Reihe von Bucharins Vorschlägen – die Mobilisierung der Arbeiter, entschiedene soziale Maßnahmen zur Zerschlagung des russischen Kapitals, die Schaffung internationaler kommunistischer Brigaden – flossen später in Lenins Überlegungen ein.

Über den Ausgang des Parteitages entschied die Autorität Lenins – seine Resolution wurde mit 30 zu 12 Stimmen bei 4 Enthaltungen angenommen. Trockijs Kompromissvorschlag, Brest als letztes Zugeständnis zu betrachten und dem CK zu verbieten, Frieden mit der ukrainischen Zentralrada zu schließen, wurde abgelehnt. Die Linken Kommunisten weigerten sich, sich am neuen CK zu beteiligen, was als Schritt zur Spaltung der Partei gewertet wurde.

Wären die Linken Kommunisten aus der Partei ausgetreten und hätten sie sich mit den Linken Sozialrevolutionären verbündet, hätten sie eine Stimmenmehrheit auf dem Sowjetkongress erringen können. Aber sie wagten es nicht, gegen den Rest der Partei zu stimmen. Auf dem darauffolgenden IV. Sowjetkongress, der am 15. März 1918 den Brester Frieden ratifizierte, enthielten sie sich der Stimme.

(Übersetzung aus dem Russ. von L. Antipow)


Text und Übersetzung: CC BY-SA 4.0


Thesen zum gegenwärtigen Moment (vorgeschlagen dem 7. Parteitag durch die Gegner des Friedensvertrages)

1. Der imperialistische Krieg verursacht bereits überall die Auflösung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, verschärft die sozialen Gegensätze aufs äußerste, zersetzt die bourgeoisen Gruppierungen und untergräbt, wie im Falle Österreichs, die Lebensfähigkeit einer Anzahl kapitalistischer Organismen. All das zusammengenommen bildet den Nährboden für die reifende sozialistische Revolution, deren erste Anzeichen im Westen die Streiks und die verschiedenen Erhebungen in Österreich und Deutschland waren.

2. Der Krieg der imperialistischen Koalitionen kann jetzt von zwei Gesichtspunkten her betrachtet werden: Die Koalitionen sind entweder zeitweilig und geheim untereinander auf Rußlands Kosten einig geworden, oder sie sind noch immer zur Fortsetzung des Krieges bereit. In beiden Fällen müssen wir uns auf Anschläge des internationalen Kapitals gefaßt machen, die von allen Seiten her eine Teilung Rußlands anstreben. Im zweiten Fall wird Deutschland, gerade weil es den Krieg nur dadurch verlängern kann, daß es sich in den Besitz russischer Kornkammern und Rohmaterialien setzt, das Sowjetregime um jeden Preis vernichten wollen.

3. So machen daher sowohl der Klassenkampf als auch die imperialistische Ausbeutung unter den gegenwärtigen Umständen die friedliche Koexistenz Sowjetrußlands mit der imperialistischen Koalition der Zentralmächte unmöglich.

4. Dieser Zustand kam mit größter Klarheit in den Friedensbedingungen zum Ausdruck, die von Deutschland gestellt wurden und die in Wirklichkeit sowohl auf die Unterminierung der äußeren als auch der inneren Politik des Sowjetregimes hinauslaufen.

5. Diese Umstände schneiden die Zentren der Revolution von den Ernährungsquellen der Industriebevölkerung ab, zerteilen die Zentren der Arbeiterbewegung und zerstören einige der wichtigsten Industriegebiete (Lettland, Ukraine); sie unterhöhlen die Wirtschaftspolitik des Sozialismus (die Frage der Annullierung der Anleihen, die Sozialisierung der Produktion etc.), bagatellisieren die internationale Bedeutung der russischen Revolution (Verzicht auf die internationale Propaganda), verwandeln die Sowjetrepublik in ein Werkzeug imperialistischer Politik (Persien, Afghanistan) und erstreben schließlich ihre Entwaffnung (die Forderung nach der Demobilisierung alter und neuer Einheiten). All das bietet nicht die Möglichkeit einer Atempause, sondern verschlechtert nur die Kampfbedingungen des Proletariats mehr denn je.

6. Ohne wirklich einen Aufschub zu gewähren, schwächt die Unterzeichnung des Friedens den revolutionären Willen des Proletariats zum Kampfe und hält die Entwicklung der internationalen Revolution auf. Die einzig korrekte Taktik würde daher die Taktik des revolutionären Krieges gegen den Imperialismus sein.

7. Angesichts der völligen Auflösung der alten Armee, deren Überreste weniger als nichts taugen, kann der revolutionäre Krieg in seinem ersten Stadium nur mit Hilfe fliegender Partisanenabteilungen geführt werden, die sowohl das Stadtproletariat als auch die ärmste Bauernschaft in den Kampf ziehen und die militärischen Handlungen, was uns angeht, in einen Bürgerkrieg der arbeitenden Klassen gegen das internationale Kapital verwandeln werden. Ein solcher Krieg würde trotz aller anfänglichen Niederlagen schließlich die Streitkräfte des Imperialismus zersetzen.

8. Außerdem würde die Mobilisierung des Proletariats, das infolge der Arbeitslosigkeit und des allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenbruchs seine Bedeutung als schaffende Schicht verliert, die Gefahr der proletarischen Desorganisation bannen und aus den Arbeitslosen Soldaten der proletarischen Revolution machen.

9. Das Grundziel der Partei muß daher eine klare taktische Linie sein, die auf dem Krieg mit dem Imperialismus beruht und die Verteidigung des Sozialismus in diesem Krieg mit dem höchsten Nachdruck organisiert. Die Kampfkraft einer sozialistischen Armee wird gerade durch den unmittelbaren Kampf selbst geschaffen.

10. Die Politik der führenden Organe unserer Partei war eine Politik der Schwankungen und der Kompromisse – eine Politik, die objektiv die proletarischen Widerstandsvorbereitungen hemmte und infolge ihres ständigen Schwankens selbst jene beispielhaften Abteilungen demoralisierte, die sich begeistert in den Kampf stürzten.

11. Die soziale Grundlage einer solchen Politik war die Verwandlung unserer Partei aus einer rein proletarischen in eine „allgemeine Volkspartei“, ein Vorgang, der angesichts ihres riesigen Wachstums unvermeidlich war. Die Massen der Soldaten, die um jeden Preis und zu allen Bedingungen Frieden haben wollten und gar nicht mit dem sozialistischen Charakter der Regierung des Proletariats rechneten, machten ihren Einfluß geltend, die Partei sank auf das Niveau der Bauernmassen zurück, statt diese auf ihr eigenes Niveau emporzuheben, und verwandelte sich aus einer Avantgarde der Revolution in eine „mittelmäßige“ Organisation.

12. Überdies wird selbst die Bauernschaft im Falle eines weiteren Kampfes mit dem internationalen Imperialismus unvermeidlich in diesen Kampf hineingezogen, weil sie sich von der großen Gefahr des Landverlustes bedroht sehen muß.

13. Unter diesen Bedingungen sind die Ziele der Partei und der Sowjetregierung:

a) Die Annullierung des Friedensvertrages.

b) Verstärkte Propaganda und Agitation gegen das internationale Kapital, die die Bedeutung dieses neuen Bürgerkrieges in das richtige Licht rücken.

c) Die Schaffung einer schlagkräftigen Roten Armee; die Bewaffnung der Proletariats und der Bauernbevölkerung und die geeignete Unterweisung der letzteren in der Kriegstechnik.

d) Entschiedene soziale Maßnahmen, die die Bourgeoisie ökonomisch vernichten, das Proletariat einen und die Begeisterung der Massen verstärken.

e) Unerbittlicher Kampf mit der Konterrevolution und dem Versöhnlertum.

f) Intensivste internationale revolutionäre Propaganda und Rekrutierung von Freiwilligen aller Nationalitäten und Staaten für die Rote Armee.

Rev. Übersetzung hier nach: Altrichter, H. (Hrsg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, München 1985, S. 66ff.



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Lev Davidovič Trockij, Mein Leben: Versuch einer Autobiographie. Dietz, Berlin 1990, Online.

Sed’moj ėkstrennyj s’’ezd RKP(b), mart 1918 goda. Stenografičeskij otčet [Der siebte Sonderparteitag der RKB(b), März 1918. Stenografischer Bericht]. Politizdat, Moskva 1962.

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