Note der Provisorischen Regierung an die Regierungen der alliierten Mächte ["Miljukov-Note"], 18. April (1. Mai) 1917

Einführung

In den zwei Monaten nach der GlossarFebruarrevolution, die der GlossarKonstitutionelle Demokrat (Kadett) GlossarPavel Nikolajevič Miljukov als Außenminister der GlossarProvisorischen Regierung an der Macht verbringen sollte, hatte er nach außen um die internationale Anerkennung des demokratischen Rußlands und die Aufrechterhaltung der Garantie einer russischen Kontrolle Konstantinopels und der Meerengen zu ringen, die im Februar/März 1915 von englischer und französischer Seite zugestanden worden waren. Zugleich mußte er nach innen die alliierte Konzeption des Siegfriedens verteidigen. Dabei geriet Miljukov bei der Formulierung seiner Außenpolitik unter den doppelten Druck: Während die westlichen Botschafter von der russischen Regierung nach einer konsequenten Fortsetzung des Krieges verlangten, stellte seinerseits der Petrograder GlossarSowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten – die zweite politische Institution, die im Rahmen der sogenannten Glossar"Doppelherrschaft" nach der Februarrevolution die Macht in Rußland übernommen hatte – die Forderung nach einer unverzüglichen Einstellung militärischer Aktionen auf.

Ausgangspunkt des Gegensatzes in der Außenpolitik, der zwischen der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet bestand, war ihre jeweils unterschiedliche Sicht auf die Rolle des Krieges als Voraussetzung der Revolution: Begründete das Regierungslager den Sturz des zarischen Regimes mit seiner Unfähigkeit, den Sieg herbeizuführen, so sahen die Vertreter des Sowjets in den Massenunruhen einen Ausdruck für die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. Grundpositionen wurden seitens der Regierung mit dem GlossarManifest an das Volk am 7. (20.) März und seitens des Sowjets mit dem Glossar"Appell an die Völker der ganzen Welt" am 14. (27.) März bezogen. Die Kontroverse, die sich weniger auf die Kampfhandlungen selbst, als vielmehr auf die Frage russischer Kriegsziele bezog, spitzte sich später auf die beiden Losungen "Krieg bis zum siegreichen Ende" und "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" zu. Dabei ist bemerkenswert, daß die Formel der GlossarZimmerwalder Bewegung "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" zunächst noch keinen Eingang in den Sowjetappell vom 14. (27.) März gefunden hatte. Offenbar entwickelte sie sich erst im Zuge der Auseinandersetzungen als Parole der Straße.

Hatte Miljukov bereits in seiner Depesche an alle Auslandsvertreter Rußlands vom 4. (17. März) 1917 zugesichert, das neue Kabinett werde "die internationale Verpflichtungen Rußlands achten", Rußland mit den Alliierten "Schulter an Schulter [...] gegen den gemeinsamen Feind unermüdlich und unablässig bis zum Ende kämpfen", und die Regierung "alle ihre Energie der Erringung des Sieges widmen"1, so bestätigte er die Unverrückbarkeit seiner Position noch einmal in einem Interview für die Zeitung Glossar"Reč'" vom 23. März (5. April). Darin gab er zu verstehen, daß der Sieg über Deutschland ein Ziel der russischen Außenpolitik bleibe, und die Forderung nach einem "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" nur dann akzeptabel sein könnte, wenn "Grenzregulierung" und "Gebietsaustausch" von "Usurpation" ausdrücklich unterschieden werde. In diesem Zusammenhang korrigierte der Außenminister eine Äußerung von GlossarAleksandr Kerenskij gegenüber englischen Pressevertretern, mit der dieser die Neutralisierung der Meerengen befürwortete. Im Gegenzug benannte Miljukov als russische Kriegsziele die Kontrolle über Konstantinopel und die Meerengen, den Anschluß von GlossarOstgalizien und die Schutzherrschaft über Armenien.

Wegen seines Alleinvertretungsanspruches in der Außenpolitik, die er mit dieser Stellungnahme zum Ausdruck brachte, wurde Miljukovs noch am gleichen Tag während einer offiziellen Kabinettssitzung scharf angegriffen. Den Streit, der um diese Eigenmächtigkeit des Außenministers ausgebrochen war, schlichtete Ministerpräsident Fürst GlossarGeorgij L’vov dahingehend, daß er Miljukov zwar das Vertrauen aussprach, für die Zukunft aber private Interviews untersagte und einen außenpolitischen Rapport anforderte.

Die Debatten über den außenpolitischen Kurs Miljukovs wurden am 24. März (6. April) in der gemeinsamen Sitzung der Glossar"Kontaktkommission" des Sowjets, die zwischen ihm und der Regierung vermittelte, und des Ministerkabinetts wiederaufgenommen. Dabei fehlte es weder auf der Seite der Regierung noch auf der des Sowjets an Versuchen – hier tat sich besonders der GlossarMenschewik GlossarIraklij Cereteli vor –, den Außenminister zu einer Kurskorrektur zu bewegen. Miljukov weigerte sich jedoch, sowohl der Forderung nach einem "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" zu folgen, als auch von seinem außenpolitischen Expansionsprogramm abzurücken.

Am 27. März (9. April) legte die Regierung schließlich den Entwurf einer außenpolitischen Deklaration vor – drei Wochen später wird sie in die Miljukov-Note aufgenommen werden –, die an das russische Volk gerichtet war und zwischen allen politischen Parteien, der Provisorischen Regierung wie dem Petrograder Sowjet, zu vermitteln suchte. In ihrer Kernaussage verhielt sich die Erklärung in der Tat ambivalent. Einerseits wurde als Ziel "nicht die Herrschaft über andere Völker, nicht die Entreißung ihres Nationaleigentums, nicht die gewaltsame Eroberung fremder Gebiete, sondern die Verwirklichung eines sicheren Friedens auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker" anvisiert. (Das GlossarExekutivkomitee des Sowjets stimmte dem Entwurf erst dann zu, nachdem er durch die Zusage, Rußland werde auf "gewaltsame Eroberung fremder Gebiete" verzichten, ergänzt worden war.) Andererseits wurde die "Achtung aller Verpflichtungen" garantiert, die man gegenüber den Alliierten eingegangen war. Aufschlußreich für Miljukovs taktisches Kalkül im Umgang mit seinen politischen Gegnern ist die Interpretation der Erklärung, die er im nachhinein in seinen Memoiren vornimmt: Mit dem Appell an den "Volkswillen" als oberste Autorität sei die endgültige Entscheidung der einzuberufenden Konstituierenden Versammlung übertragen worden. Bei der von dem Geschäftsführer der Provisorischen Regierung GlossarVladimir Nabokov stammenden Passage "nicht die Herrschaft über andere Völker, nicht die Entreißung ihres Nationaleigentums" habe es sich um eine Umschreibung der Zimmerwaldformel gehandelt. Und die sich auf die Alliierten beziehende Aussage über die Verteidigung der "Rechte unseres Vaterlandes bei voller Achtung aller Verpflichtungen", die einen Beitrag von GlossarFedor Kokoškin, dargestellt habe, sei ein Bekenntnis zu den Geheimverträgen mit den Alliierten gewesen!

Mit der Deklaration vom 27. März (9. April) lag ein gemeinsames außenpolitisches Programm von Provisorischer Regierung und Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets in der Frage des Krieges vor. Dabei wurde eine Grundsatzentscheidung gegen den Separatfrieden getroffen und statt dessen ein Lösungsansatz bei den Kriegszielen gesucht. Dennoch wurde die Deklaration von allen Parteien im Sinne der jeweiligen Interessen als Sieg interpretiert. Demzufolge hatte Miljukov weiterhin Grund zu der Annahme, daß seine Position unangefochten blieb. Beide Gremien, sowohl die Provisorische Regierung als auch der Sowjet, spalteten sich jedoch in der Folgezeit in unterschiedliche Interessengruppen. Gemeinsam sollte ihnen nur die Distanzierung von der Politik des Außenministers werden. So stellte sich rasch heraus, daß der praktische Wert des Dokuments begrenzt war.

Bei der Deklaration vom 27. März (9. April) handelte es sich zunächst jedoch nur um eine innenpolitische Verlautbarung, mit der die russische Gesellschaft angesprochen werden sollte. Der Vorschlag, die Alliierten über die Deklaration in Kenntnis zu setzen, ging von dem GlossarSozialrevolutionär GlossarViktor (ernov aus, der am 8. (21.) April aus dem Exil zurückkehrte und seine Auffassung am 10. (23.) April vor dem Exekutivkomitee des Sowjets vertrat. Miljukov gelang es bei der Sitzung der Kontaktkommission am 11. (24.) April zwar zu verhindern, daß die Deklaration in den Rang eines offiziellen diplomatischen Dokuments erhoben wurde, konnte sich aber ihrer Übersendung im Rahmen einer erklärenden Mantelnote nicht verweigern. Daraufhin versuchte Kerenskij, die weitere Entwicklung zu forcieren, indem er am 12. (25.) April unter Mißachtung der Aufforderung von Ministerpräsident L'vov an die Regierungsmitglieder, in der Presse eine einheitliche Linie zu vertreten, die "Umwidmung" der Deklaration vom 27. März (9. April) ankündigte. Obgleich Kerenskij in der Kabinettssitzung des nächsten Tages zu einem Dementi verpflichtet wurde, war es ihm gelungen, die Öffentlichkeit anzusprechen.

Indes geriet Miljukov auch im Lager der Alliierten immer mehr in die Isolierung. In der ersten Aprilwoche wurde er von den GlossarAlliiertenkonferenzen in Folkestone (29. März (11. April) 1917) und GlossarSt. Jeanne de Maurienne (6. (19.) April 1917) in Kenntnis gesetzt, die ohne russische Beteiligung stattgefunden hatten. Zur gleichen Zeit bahnte sich in Petrograd eine Annäherung zwischen dem englischen Botschafter GlossarGeorge Buchanan und Kerenskij an. Buchanan nahm nun eine Neuorientierung in der Meerengenfrage zugunsten einer Neutralisierung und eines Separatfriedens mit dem Osmanischen Reich vor. Die Fronten klärten sich erst am 11. (24.) April bei einem Treffen der alliierten Vertreter in Rußland, an dem auch der französische Rüstungsminister GlossarAlbert Thomas als Sonderbotschafter seiner Regierung teilnahm. Der französische Botschafter GlossarMaurice Paléologue und der italienische Botschafter GlossarCarlotti di Riparbella sahen weiterhin in Miljukov den Garanten für den Verbleib Rußlands im Krieg, Buchanan und Thomas setzten angesichts des Autoritätsverlusts der Regierung dagegen fortan auf Kerenskij als integrierende Kraft.

Unter dem Druck der inneren und äußeren Umstände richtete Miljukov am 18. April 1917 an die westlichen Alliierten eine Note, die die Deklaration vom 27. März enthielt. Sie ging als ein Zirkulartelegramm an die diplomatischen Vertreter Rußlands, die angewiesen wurden, seinen Text der jeweiligen Regierung zukommen zu lassen. Die offizielle Stellungnahme, die die Note enthielt, machte sich die Zerstreuung von Gerüchten über einen von der russischen Seite angestrebten Separatfrieden mit den Mittelmächten zur Aufgabe. Unmißverständlich wies die Note auf den Siegesfrieden im Bündnis mit den Alliierten als auf ein außenpolitisches Ziel Rußlands hin. Anstelle der Zimmerwaldformel eines "Friedens ohne Annexionen" wurde von "Garantien und Sanktionen" zur Stabilisierung der politischen Ordnung durch die demokratischen Mächte gesprochen. Diese Worte gehen laut Miljukovs Memoiren auf den französischen Sonderbotschafter Thomas zurück.

Am 19. April (2. Mai) wurde die Note vom Fürst L’vov an Cereteli übersandt. Mit der Note führte Miljukov dem Sowjet vor Augen, daß er unter Mißachtung der Arbeiter- und Soldatenvertreter die Versprechungen aufkündigte, die die Deklaration vom 27. März (9. April) gemacht hatte, und den "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" für den Siegesfrieden opferte. Der Sowjet nahm die Note mit Unverständnis auf, beschloß aber, seine Stellungnahme erst nach vorheriger Beratung mit der Regierung abzugeben.

Auf die erneute Proklamation des Siegfriedens, die die Note enthielt, reagierte die Presse in ihren Kommentaren vom 20. und 21. April (jeweils 3. und 4. Mai) mit Bestürzung. Weil die Bevölkerung Petrograds durch die Agitation der sozialistischen Parteien für die Bedrohung, die von "imperialistischen Zielen" der Provisorischen Regierung ausgehen könnte, hinreichend sensibilisiert war, antwortete sie auf die Miljukov-Note mit Demonstrationen und Streiks unter den Parolen wie "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" und, was vorauszusehen war, "Nieder mit Miljukov". Miljukovs Versuch, die Bestimmung seines außenpolitischen Kurses mit der Frage der Macht im Rahmen der "Doppelherrschaft" zu kombinieren, scheiterte daran, daß die kriegsmüden Massen am ehesten für die Parolen der radikalen politischen Kräfte zu gewinnen waren. Die Autorität der Regierung erlitt einen schweren Schaden. Eine neue innenpolitische Krise bahnte sich an, die Aprilkrise.

Den Ausweg daraus konnte auch eine gemeinsame Erklärung der Provisorischen Regierung und des Exekutivkomitees des Sowjets vom 22. April (5. Mai) nichts weisen, in der mitgeteilt wurde, unter "Garantien und Sanktionen" der Miljukov-Note seien lediglich "Rüstungsbeschränkungen" und "internationale Gerichte" zu verstehen. Zwar war es – mit Hilfe des Sowjets – gelungen, die öffentliche Ordnung in Petrograd innerhalb von zwei Tagen wiederherzustellen. Doch wurde damit die Vertrauenskrise, in die die Regierung geraten war, noch längst nicht überwunden. Ein Schulterschluß zwischen der politischen Führung und der Gesellschaft sollte durch die Umbildung des bestehenden Kabinetts herbeigeführt werden. Nachdem zunächst der Kriegsminister GlossarAleksandr Gu(kov am 29. April (12. Mai) und dann Miljukov selbst als Außenminister am 2. (15.) Mai zurückgetreten waren, und Vertreter sozialistischer Parteien ihre Beteiligung zugesagt hatten, wurde am 5. (18.) Mai eine neue, diesmal eine Koalitionsregierung gegründet. In ihr außenpolitisches Programm, das noch am gleichen Tag verkündet wurde, nahm sie die Zimmerwaldformel "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" auf. Damit wahrte sie die Kontinuität zur Deklaration vom 27. März (9. April). Doch hatte das neue Kabinett in der Tat eine Alternative zum bisherigen außenpolitischen Kurs zu bieten?

Thomas M. Bohn

1 Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki, Hg. v. Manfred Hellmann, 2. Aufl., München 1969, S. 160-161. [1]