Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken [Moskauer Vertrag], 12. August 1970.

Einleitung

Seit Anfang der 60er Jahre war das Ost-West-Verhältnis in Bewegung geraten. Berlin- und Kuba-Krise hatten die Welt in Atem gehalten, an den Rand einer nuklearen Katastrophe gebracht. Die USA, seit Mitte der 60er Jahre militärisch, politisch und ökonomisch immer tiefer in den Vietnam-Krieg verstrickt, bemühten sich sichtlich um einen "Brückenschlag", einen Ausgleich mit der UdSSR. De Gaulle trieb seinen eigenen Stufenplan voran, der "détente, entente, et coopération" propagierte, von einem Europa souveräner Nationalstaaten "zwischen Atlantik und Ural" sprach; er hatte die französischen Streitkräfte der integrierten Kommandostruktur der NATO entzogen (1966), mit der Sowjetunion im gleichen Jahr regelmäßige Kontakte auf höchster Ebene sowie eine Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, technologischem und wissenschaftlichem Gebiet, die Raumfahrt eingeschlossen, vereinbart. Im Mai 1966 kamen italienisch-sowjetische Verhandlungen zum Bau eines riesigen Autowerkes an der Wolga (durch den FIAT-Konzern) zum Abschluß, nachdem bereits im Dezember 1965 mit der Warschauer Regierung ein Vertrag über den Bau eines FIAT-Werkes in Polen abgeschlossen worden war. Doch auch die UdSSR sah sich mit Herausforderungen im "eigenen Lager" konfrontiert; deren Spektrum reichte von den "Reformkommunisten" in Prag, die nach einem "dritten Weg" zwischen Kommunismus und Kapitalismus suchten, über die rumänischen Eigenständigkeiten bis zu den ultralinken "Kulturrevolutionären" in China.

Die neuen Entwicklungen, Gefahr und Chance zugleich, setzten die Bonner Politik unter Zugzwang. Das Festhalten an strikter Nichtanerkennung der Nachkriegsordnung, am Alleinvertretungsanspruch (der "Hallstein-Doktrin"), der die DDR zu isolieren suchte, an einer Position, die jede "Entspannung" von Fortschritten in der Deutschlandfrage abhängig machte, drohte von den Verbündeten nicht länger mitgetragen zu werden. Beharrte sie darauf, begab sie sich zugleich der Chance, wirtschaftspolitisch die neuen Möglichkeiten zu nutzen, wie sie die Aufweichung der Ost-West-Konfrontation mit sich brachte, und damit gegenüber den europäischen Nachbarn ins Hintertreffen zu geraten. So war es ihr zwar gelungen, 1963/64 Wirtschaftskontakte zu Polen, Rumänien, Ungarn und Bulgarien zu knüpfen und die Einrichtung von Handelsmissionen zu vereinbaren; doch jeder Ausbau drohte an den ungelösten Grenz- und Statusfragen zu scheitern; in einer Art Umkehrung der "Hallstein-Doktrin" drängte die Ost-Berliner Partei- und Staatsführung ihre Verbündeten, alle weiteren Schritte von der vorherigen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR abhängig zu machen ("Ulbricht-Doktrin").

Um den östlichen Vorwürfen, sie betreibe eine Politik des Revanchismus und der Restauration, zu begegnen, richtete die – von Bundeskanzler Ludwig Erhard geführte – Bonner Regierung Ende März 1966 eine Friedensnote an alle Regierungen, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhielt. Sie verband darin die Beteuerung des eigenen Friedenswillens mit Vorschlägen zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie dem Angebot, mit der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei und jedem anderen osteuropäischen Staat förmliche Erklärungen auszutauschen, in denen beide Seiten auf die Anwendung von Gewalt zur Regelung internationaler Streitfragen verzichteten. Die Ende des Jahres 1966 gebildete, von einer Großen Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten getragene Regierung, mit Kurt-Georg Kiesinger als Bundeskanzler und Willy Brandt als Außenminister, setzte diese Bemühungen fort und war bereit, in den Entspannungsdialog auch die DDR in irgendeiner Form einzubeziehen. Doch mit der Sowjetunion aufgenommene Gespräche scheiterten im Sommer 1968. Doch schon im Sommer 1969 war der Notenwechsel zu einem Gewaltverzicht von beiden Seiten wieder aufgenommen und im Herbst – unmittelbar nach der Bildung der sozialliberalen Regierung Brandt/Scheel – die Fortsetzung der Gespräche vereinbart worden. In seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag hatte der neue Bundeskanzler Willy Brandt (am 3. Oktober 1969) den Willen zu "Kontinuität und Erneuerung" bekundet. Dazu sollte gehören, "die Sicherheit der Bundesrepublik und den Zusammenhalt der deutschen Nation zu wahren, den Frieden zu erhalten und an einer europäischen Friedensordnung mitzuwirken". Zum Vordenker der neuen Sicherheits-, Europa- und Ostpolitik wurde Egon Bahr; Chef des politischen Planungsstabes im Auswärtigen Amt, war er nun (als Staatssekretär) mit Brandt ins Bundeskanzleramt gewechselt. Sein Konzept hieß "Wandel durch Annäherung". Daß es nur mit amerikanischer Rückendeckung verhandelt und nur mit sowjetischer Billigung ins Werk gesetzt werden konnte, war ihm wohl bewußt, nach der Zerschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Panzer im Sommer und Herbst 1969 zumal.

So begannen die Gespräche denn auch in Moskau, wo die Weichen gestellt wurden, selbst wenn parallel dazu Gespräche in Warschau stattfanden und erste Kontakte mit der DDR-Regierung (beim Besuch Brandts in Erfurt und des Vorsitzenden des Ministerrates des DDR Willi Stoph in Kassel) aufgenommen wurden. Ende Januar 1970 übernahm Bahr selbst die Gesprächsführung in der sowjetischen Hauptstadt, als Partner des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko. Nach mehreren Gesprächsrunden waren bis Mai zehn Leitsätze für einen Gewaltverzichtsvertrag und das weitere Vorgehen formuliert. Sie bekundeten den beiderseitigen Willen, von der in Europa "bestehenden wirklichen Lage" auszugehen, sich "der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten", "die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten", "keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand [zu] haben", noch solche in Zukunft zu erheben, die Grenzen aller Staaten in Europa als "unverletzlich" zu betrachten, und zwar: "wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Abkommens verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens".

Nach diesem Muster, so war in den Leitsätzen weiter festgehalten, sollten auch Abkommen mit Polen, der Tschechoslowakei und der DDR geschlossen werden. De facto bedeuteten die Leitsätze eine Anerkennung der bestehenden Grenzen (einschließlich der Oder-Neiße-Linie) als "unverletzlich", die Respektierung der DDR als zweitem, gleichberechtigtem, souveränem deutschen Staat, den Verzicht auf jegliche Gebietsansprüche und die Annullierung des Münchner Abkommens. Offen ausgesprochen, rührten sie am Selbstverständnis, an kollektiven Wunschbildern der bundesrepublikanischen Gesellschaft und an die Traumata des verlorenen Krieges; entsprechend heftig waren die Reaktionen in der Öffentlichkeit, als das "Bahr-Papier" durch eine Indiskretion bekannt und in bundesdeutschen Massenblättern (Bild, Quick) im Sommer 1970 abgedruckt wurde. Die Argumentation, daß auch die Vorgängerregierung einen Gewaltverzicht angestrebt, ein Beharren auf den Grenzen von 1937 keine Einigung zugelassen hätte, daß auf nichts verzichtet wurde, was nicht längst verloren war, hatte es dagegen schwer. Auch der Hinweis, daß die Sowjetunion von ihren Maximalforderungen abgerückt war (sie nur noch von der "Unverletzlichkeit", nicht mehr von der "Unveränderbarkeit" der Grenzen sprach, was friedliche Revisionen prinzipiell nicht ausschloß; daß die Forderung nach förmlicher völkerrechtlicher Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik fallen gelassen war; ebenso eine Ungültigkeitserklärung des Münchner Abkommens "von Anfang an"), überzeugte die Widersacher nicht.

In der Tat bewegte sich die Bundesregierung auf einem schmalen Grat: Inwieweit sich ihre "Vorleistung" deutschland-, entspannungs- und sicherheitspolitisch auszahlte, konnte nur die Zukunft erweisen. So war noch keineswegs ausgemacht, daß es gelang, das Konzept "Wandel durch Annäherung" mit Leben zu erfüllen: in den Viermächteverhandlungen über (West-) Berlin dessen gewachsene Bindungen an den Bund abzusichern; in die Verträge mit der DDR jene Dinge hineinzuschreiben, die zwischenmenschliche Kontakte erleichterten und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkten; die sowjetische Regierung davon zu überzeugen, daß das politische Ziel der Wiedervereinigung mit dem Geist der Gewaltverzichtsverträge nicht im Widerspruch stand, und diesen Sachverhalt auch in einem Dokument zum Ausdruck zu bringen; und erst recht war es zunächst nicht mehr als eine vage Hoffnung, daß es gelingen könnte, über die Deutschlandpolitik und den Gewaltverzicht zu einer allgemeinen Entspannung und neuen europäischen Friedenordnung zu kommen, die die alte, prekäre, bipolare Nachkriegsordnung ersetzte. Die Bedenken reichten bis hinein ins Kabinett und schlossen die bange Frage mit ein, ob ein Gewaltverzichtsvertrag zu diesen Bedingungen überhaupt verfassungskonform sei.

Obwohl Bahr bisher nur "Gespräche" geführt hatte, waren sie stets sorgfältig mit Bonn abgestimmt worden, und obwohl die "Verhandlungen" erst begannen, als Außenminister Walter Scheel Ende Juli mit großer Delegation nach Moskau fuhr, war klar, daß sie kaum mehr hinter die Leitsätze zurückkonnten. Neu war an der Vertragsarchitektur lediglich, daß die sowjetische Seite die Ableitung der Grenzanerkennung (in Artikel 3) aus dem Gewaltverzichtsprinzip (Artikel 2) akzeptierte, ansonsten folgte der Vertragstext bis in die Formulierungen hinein den Leitsätzen. Er wurde am 7. August von den beiden Außenministern (Scheel und Gromyko) paraphiert, und am 12. August im Katharinensaal des Kreml von den beiden Regierungschefs (Brandt und Kosygin) unterzeichnet. Dabei nahm die sowjetische Regierung auch einen "Brief zur deutschen Einheit" der Bundesregierung entgegen, in dem diese feststellte, daß der Vertrag "nicht im Widerspruch zum Ziel der Bundesrepublik Deutschland [stehe], auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Die deutsche Seite hatte zugleich angekündigt, daß sie den Vertrag dem Bundestag erst dann zur Ratifizierung vorlegen werde, wenn die Viermächtegespräche über Berlin zu einem befriedigenden Ergebnis geführt hätten.

Damit war der weitere Kurs der neuen, im Innern heftig umkämpften Ost- und Deutschlandpolitik abgesteckt: Im Dezember 1970 wurde in Warschau der "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer Beziehungen" unterzeichnet, Anfang September 1971 setzten die Botschafter der drei Westmächte in der Bundesrepublik und der sowjetische Botschafter in der DDR ihre Unterschrift unter ein Rahmenabkommen über Berlin; Gespräche zur Neuregelung der deutsch-deutschen Beziehungen führten zur Unterzeichnung eines Transitabkommens (im Dezember 1971) und eines Verkehrsvertrages (März 1972); ihm folgte der "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik", der am 8. November 1972 paraphiert und am 21. Dezember 1972 unterzeichnet. Den vorläufigen Schlußstein setzte der Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen zur Tschechoslowakei im Dezember 1973.

Helmut Altrichter