Briefwechsel zur Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland, 1952 / 1991

Einleitung

Die Anfänge des Deutschlandliedes liegen in England. Der Literaturprofessor und Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben schrieb den Text 1841 auf der damals zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordseeinsel Helgoland. Die Musik ist identisch mit der österreichischen Kaiserhymne und verwandt mit der englischen Königshymne. Komponiert wurde sie von Joseph Haydn, der sich dazu während seines London-Aufenthaltes durch "God save the king" anregen ließ. Als Haydn 1797 von dort zurückkehrt und Wien durch die Truppen Napoleons in Bedrängnis gerät, soll er empfohlen haben, die Abwehrbereitschaft der Untertanen auch musikalisch zu stärken. Der Dichter Leopold Lorenz Haschka wird beauftragt, ein Lied zu schreiben und sich an die Vorlage von God save the King zu halten. Haydn schreibt seine – auch durch den 2. Satz des "Kaiserquartetts" – be- rühmte Melodie dazu.

Und gut vierzig Jahre später benutzt der Literaturprofessor und Lieddichter August Heinrich Hoffmann Haydns Melodie für sein Deutschlandlied. Schon Anfang Oktober 1841 wird das Lied der Deutschen uraufgeführt – auf Hamburgs Flaniermeile, dem Jungfernstieg. Anlass ist der Besuch des in der Hansestadt hochangesehenen liberalen Staatsrechts-Professors Theodor Welcker, der später Abgeordneter der Frankfurter Paulskirchenversammlung wird. Vor dem Streit’s Hotel, in dem der renommierte Gast abgestiegen ist, singt die Hamburger Liedertafel erstmals die spätere deutsche Nationalhymne. Das Deutschlandlied scheint alle Voraussetzungen zu erfüllen, volkstümlich zu werden. Es ist ein politisch-romantisches Sehnsuchtslied. Erst die chauvinistische Nachgeschichte hat es verhunzt. Anders als das daraus abgeleitete Vorurteil glauben machen will, träumt der Dichter nicht von einem Großdeutschland wie es Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler mit Weltkriegen erzwingen wollten. Die erste Strophe formuliert keinen aggressiven Machtanspruch. Bis heute wird deshalb immer wieder übersehen, dass "Deutschland, Deutschland über alles" im Jahre 1841 nicht heißt, dass sich ein gesamtdeutscher Nationalstaat, den es ja noch gar nicht gibt, gegen und über die Nachbarstaaten erheben soll. Nein, Hoffmann hat keine hypertrophe Hymne, keine musikalische Drohgebärde im Sinn. Er will in einem lyrischen Konditionalsatz lediglich zum Ausdruck bringen, wie sehr er sich nach gesamtdeutscher Einheit und Freiheit sehnt. Wenn sich doch endlich, so wünscht er mit der Mehrheit der Deutschen, die deutschen Territorien und Mächte zusammenschließen und einig und frei werden würden, in einem Verfassungsstaat. Ein so geeintes Gesamtdeutschland – wohlgemerkt in den Grenzen des deutschen Sprach- und Kulturraums – ginge ihm über alles. Allerdings steht Hoffmann unter dem Eindruck der Rheinkrise und der verbreiteten antifranzösischen Stimmung in Deutschland. Aus seiner Aversion gegenüber Frankreich macht er lebenslang kein Hehl.

Als Volks- und Trinklied ist das Deutschlandlied in geselliges Lied. Statt der beiden letzten Zeilen "Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland" – hatte Hoffmann ursprünglich einen Trinkspruch vorgesehen: "Stoßet an und ruft einstimmig: Hoch das deutsche Vaterland!" Und weil es auch ein Heimatlied ist, besingt Hoffmann in der zweiten Strophe, was heute im Allgemeinen als peinlich oder kitschig empfunden wird: "edle That, deutsche Frauen, deutsche Treue, deutschen Wein und deutschen Sang." Im Revolutionsjahr 1848 kann diese Hymne noch keine maßgebliche Rolle spielen. Kämpferische Lieder haben Konjunktur. Aber Nationalhymne wird das Lied der Deutschen auch im Kaiserreich nicht ohne weiteres. Es gilt nun als vormärzlich vorbelastet, und als gesamtdeutsches Hoffnungs- und Freiheitslied ist es im kleindeutsch-preußischen Kaiserreich oppositionell. Die Sucht der reichsnationalen Gründerzeit nach Glanz und Gloria erfüllen andere Lieder. Die Karriere des Deutschlandliedes als Nationalhymne beginnt erst 1890. Ausgerechnet dort, wo das Lied der Deutschen knapp fünfzig Jahre zuvor entstanden ist, auf Helgoland, erlebt es am 9. August 1890 seine nationale Uraufführung. An diesem Tage wird die gegen Sansibar getauschte Nordseeinsel in einem offiziellen Staatsakt an das Deutsche Reich übergeben. Vor allem vom beginnenden Bismarck-Kult profitiert die neue Beliebtheit der Haydn-Hoffmann-Hymne. Dahinter steht die nationale Rechte, die dem vormärzlichen Lied nun, wo die Reichsnation besteht und zur Weltmacht strebt, eine völkisch-imperiale Ausdeutung gibt.

So ist das Deutschlandlied populärer denn je, aber doch nicht das Lied, das die ganze Nation mitsingen möchte. Am wenigsten Juden und Sozialdemokraten. Das mit einer nun aggressiven Lesart versehene Deutschlandlied wird ja von jenen benutzt, die, aus antisemitisch-nationalistischen Kreisen kommend, sich einen besonderen, hassgetriebenen Spaß daraus machen, Veranstaltungen der Arbeiter mit dem Deutschlandlied auf den Lippen zu überfallen. Ein Gewaltakt, der sich noch steigern lässt. Das heldentodsüchtige Zeitalter schafft sich die Bilder, die seine politischen Fieberträume bewegen – Allmacht oder Untergang.

Am 10. November 1914 meldet die Oberste Heeresleitung: "Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles’ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangen und sechs Maschinengewehre erbeutet." Immer wieder hat man diese Mitteilung, ungeachtet ihres Wirklichkeitsgehalts, erzählt und ausgeschmückt, das Töten der Soldaten und ihr kollektives Selbstopfer verklärt. Tatsächlich gelingt es den deutschen Truppen nicht, Langemarck zu nehmen. Und die Verluste unter den kaum ausgebildeten Freiwilligen sind erheblich. Aber nicht das ist für die Legendenbildung maßgeblich. Viel bedeutsamer ist, dass die deutschen Tageszeitungen fast ausnahmslos und richtungspolitisch übergreifend diese Meldung verbreiten und das vorbildliche Opfer der Jugend für die Gemeinschaft herausstellen.

Seit den ersten Tagen der Republik, ist das Deutschlandlied mit der Frage konfrontiert: Hat die Langemarck-Legende unsere Nationalhymne "unheilbar kompromittiert"? Nicht wenige republikanisch eingestellte Deutsche denken so in der Weimarer Republik. Erst recht befürchten sie zu Beginn der Bundesrepublik, sich mit einem nazistisch kontaminierten Nationallied zu blamieren. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss voran. Und wirklich verstummt sind die Bedenken gegenüber der Haydn-Hoffmann-Hymne bis heute nicht. Aber von Anfang an hat sie nicht nur falsche Freunde, sondern auch redliche und sachkundige Fürsprecher. Mit dem Attentat auf Außenminister Walther Rathenau ist die Republik gezwungen, ihre Zurückhaltung in der Hymnen- und Feiertagsfrage aufzugeben. Jetzt will, jetzt muss sie ihren Schutz organisieren und muss sich auch in ihrer symbolischen Selbstdarstellung werbend gegenüber ihren verbockten Todfeinden öffnen und sie ins Staatshaus holen. Innenminister Adolf Köster und seine Beamten regen an, am bevorstehenden Verfassungstag durch den Reichspräsidenten das Deutschlandlied zur

Der Reichspräsident kann das Lied allerdings nur in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Reichswehr zur Nationalhymne ernennen. Das tut er wenige Tage nach dem Verfassungstag am 11. August 1922. Bei der Feier im Reichstag ist die Stirnseite mit einem großen Transparent bespannt, worauf zu lesen ist "Einigkeit und Recht und Freiheit". Und am Schluss wird nur die dritte Strophe gesungen. Die Hymne ist nun das nationale Lied der Deutschen. Aber das nur, weil es mehrere Strophen hat. Es hebt die Spaltung der deutschen Gesellschaft nicht auf, es bildet sie nur ab. Die Feinde der Republik singen nur die erste Strophe und wissen nicht, was sie tun. Die Republikaner singen die dritte, obwohl sie wissen, dass sie missbraucht werden, wenn sie mit der Rechten auch "Deutschland, Deutschland über alles" singen. Es gehört zu den Absonderlichkeiten unserer Symbolikgeschichte, dass in der vorläufig letzten Reichstagssitzung, sie findet am 17. Mai 1933 in der gegenüberliegenden Kroll-Oper statt, das Deutschlandlied von den Republikanern und ihren Feinden gemeinsam gesungen wird. Ein beklemmender Augenblick. Hitler hat gerade sein außenpolitisches Programm verkündet, mit dem er sich der Welt maßvoll präsentieren möchte. Als wollten seine Anhänger durch Lautstärke zum Ausdruck bringen, was gemeint ist, beginnen die Abgeordneten der Rechten zu grölen: "Deutschland, Deutschland über alles". Manche Sozialdemokraten singen wohl mit – oder versuchen es, anderen stockt die Stimme, ihnen stehen die Tränen in den Augen. Die meisten aber drängen zum Ausgang, denn sie wissen, was gleich folgt, dass die Nazis dann ihre Hymne singen, das Horst-Wessel-Lied. Und in deren Reihen wollen sie nicht mitmarschieren...

Das schon durch Langemarck belastete Deutschlandlied scheint spätestens in dem Augenblick endgültig desavouiert, als Wehrmachtssoldaten singen "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, stehen deutscher Männer Söhne gegen eine ganze Welt" und den freiheitlichen Impuls des Liedes und seinen friedlichen Sinn Lügen strafen. Die Alliierten verbieten die deutsche Nationalhymne. Die Welt hat genug von martialischem Kampfgeschrei und hymnischer Selbstherrlichkeit der Deutschen. Andererseits mehren sich die Stimmen, die auf das legitime Bedürfnis jeder Nation verweisen, ihren Grundwerten und ihrem Selbstverständnis in gemeinschaftlichem Gesang Ausdruck zu geben. Der Parlamentarische Rat mag sich mit der heiklen Frage nicht befassen und überlässt die strittige Materie dem späteren Gesetzgeber. Eine Handvoll nationalkonservativer Abgeordneter wird initiativ, scheitert aber im Bundestag mit dem Antrag, das Deutschlandlied in seiner ursprünglichen Form wieder einzuführen. Bundespräsident Theodor Heuss plädiert für eine neue Hymne. Und damit ist der legendäre Hymnenstreit zwischen Heuss und Konrad Adenauer vorprogrammiert. Denn der Kanzler, nicht weniger als sein Kontrahent durch die Jahre nach 1918 geprägt, sieht das Erbe Weimars ganz und gar nicht nur blutbeschmiert. Der frühere Kölner Oberbürgermeister will die demokratische Tradition fortsetzen. Und er hat ein besseres Gespür als der Landesvater für das, was die Mehrheit wünscht.

Bei einer politischen Veranstaltung im Berliner Titania-Palast im Frühjahr 1950 veranstaltet er ein hymnisches Plebiszit. Als er seine Rede über Deutschlands neue Rolle in Europa beendet hat, fordert er seine Landsleute auf, mit ihm die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen, als ein "heiliges Gelöbnis, dass wir ein einiges Volk, ein freies und ein friedliches Volk sein wollen". Überrascht erheben sich die mehr als eintausend Menschen im Saal und singen, erst zaghaft, dann aber mit ganzer Kraft "Einigkeit und Recht und Freiheit, für das deutsche Vaterland..." Die Westberliner Stadtkommandanten bleiben sitzen, als ginge sie das Spektakel nichts an. Die zahlreich erschienenen SPD-Politiker aber verlassen unter Protest den Saal. Die SPD-Fraktion erklärt, man könne Deutschlands Schwierigkeiten "nicht mit Emblemen, Fahnen und Liedern überwinden". Der Missbrauch symbolischer Politik durch die Nazis wirkt nach. Verärgert zeigt sich auch Theodor Heuss. Er hat bei Rudolf Alexander Schröder einen neuen Hymnentext in Auftrag gegeben und lässt durch sein Amt erklären, dass diese Frage zu seiner Prärogative gehöre und noch nicht entschieden sei. Im Herbst liegt der Entwurf vor. Der religiös orientierte Schriftsteller hat sich durch den 1. Korinther-Brief anregen lassen und gibt seiner Hymne an Deutschland eine nur sehr schwache politische Färbung: "Land des Glaubens, deutsches Land / Land der Väter und der Erben..." Aber die Premiere missglückt. Kritisiert wird, dass die Hymne keinen Nationalstolz verströme, mehr einem Kirchenlied entspreche. Das Wort von "Theos Nachtlied" macht die Runde. Und in einer Allensbach-Umfrage sind Dreiviertel aller befragten Bundesbürger für das Deutschlandlied. Nur zehn Prozent wollen eine neue Hymne.

Damit ist der Hymnenstreit entschieden. Am 6. Mai 1952 wird der Briefwechsel zwischen Adenauer und Heuss im Bulletin des Bundespresse- und Informationsamtes veröffentlicht mit dem Hinweis, dass die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen die Wiedereinführung des Deutschlandliedes wünsche, nur die dritte Strophe gesungen werden soll und die Bundesrepublik an die Weimarer Tradition anschließe. Bei den europäischen Nachbarn, die während des Krieges von Hitler-Deutschlands Wehrmacht besetzt waren, weckt die Einführung des Deutschlandliedes keine guten Erinnerungen. Der US-amerikanische Hochkommissar John McCloy findet das kluge und abschließende Wort, ausschlaggebend sei nicht, "was die Völker singen, sondern wie sie handeln." Aber eben da liegt das Problem: Sie müssen ja zumindest wissen, was überhaupt. Denn was sie singen sollen, kennen sie oft nicht, und was sie kennen, dürfen sie nicht mehr singen. Als das Allensbacher Institut 1962 den Deutschen die verfängliche Frage stellt: "Können Sie sagen, wie die ersten Worte heißen, mit denen unsere Nationalhymne anfängt?" antwortet immerhin knapp die Hälfte der befragten Bundesbürger: "Deutschland, Deutschland über alles." Nur ein knappes Drittel der Bundesbürger sagt politisch korrekt: "Einigkeit und Recht und Freiheit", während 20 Prozent den Text gar nicht kennen – oder sagen mögen. Unsicherheit und Unkenntnis im Umgang mit der kompromittierten Hymne bleiben. Die Vorbehalte auch.

Der Rundfunk löst das Problem auf seine Weise und verwandelt das Deutschlandlied mehr und mehr in ein Lied ohne Worte. Ausgerechnet in dem Jahr, in dem beide deutsche Teilstaaten selbstbewusst ihr jeweils vierzigjähriges Bestehen feiern und von nationaler Einheit kaum mehr die Rede ist, wird das Deutschlandlied schlagartig wieder populär. Als am 9. November 1989 bekannt wird, dass die DDR erstmals "Freizügigkeit" für ihre Bürger angeordnet hat und die Mauer passierbar ist, erheben sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und singen "Einigkeit und Recht und Freiheit". Am darauffolgenden Abend wiederholt sich dieser Akt vor dem Schöneberger Rathaus mit Alt-Bundeskanzler Willy Brandt und Bundeskanzler Helmut Kohl. Und ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, wird vor dem Reichstag zur Feier der deutschen Einheit wiederum das Deutschlandlied gesungen. Im August 1991 bestätigen Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl in einem Briefwechsel, dass allein die dritte Strophe deutsche Nationalhymne ist. Als nicht unerheblich für diesen Entscheid erweisen sich die zahlreichen gesellschaftlichen Willensäußerungen zugunsten der 3. Strophe des Deutschlandliedes. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht im März 1990 in einer Verfassungsbeschwerde die dritte Strophe als Nationalhymne bestätigt und erklärt, dass nur diese als "staatliches Symbol geschützt" sei. Ausdrücklich wird daran erinnert, dass am 17. Juni 1953 die protestierenden Arbeiter auf ihrem Marsch zum Brandenburger Tor das damals verbotene Deutschlandlied gesungen haben – und eben nicht die Becher-Eisler-Hymne.

Peter Reichel